In den letzten Tagen hat sich unter den Abgeordneten und Staatspropagandisten die Aufmerksamkeit für den Verlauf der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine und der Teilmobilmachung zugespitzt. Es scheint, dass sich der Kampf um die Wahrheit bereits innerhalb der Führungsriegen an sich entfaltet. Was der schnelle Übergang zu Persönlichkeiten bestätigt, wobei zu den am höchsten gestellten Personen aus den Reihen der Spitzenvertreter des Verteidigungsministeriums. Vor kurzem war das Maximum eine Kritik einzelner Mängel des Systems. Jetzt aber ist es zu einer Berichterstattung von zwei Stellvertretern von Verteidigungsminister Sergej Schoigu in der Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) hinter verschlossenen Türen gekommen. Möglicherweise ist dies lediglich der Versuch, den Druck der öffentlichen Besorgnis zu verringern, das heißt: eine Aktion, die von allen abgestimmt worden ist. Nicht ausgeschlossenen sind auch Intrigen im Interesse von Diensträngen und Dienstgraden. Aber Anzeichen für einen Konflikt unter den Offiziellen sind offenkundig auszumachen. Und dies auch noch deshalb, weil die Mehrheit der Attackierenden vom innenpolitischen Block des Präsidialamtes betreut und angeleitet werden. Freilich, es gibt da auch noch den Generaloberst der russischen Garde, Ramsan Kadyrow, und den Schirmherren der privaten Söldnerfirma „Wagner“, Jewgenij Prigoschin, was Interessen auch anderer Rechtsschutz-, Sicherheits- und bewaffneter Strukturen signalisieren kann.
Es ist bekannt geworden, dass am 17. Oktober in der Staatsduma eine geschlossene Sitzung des Verteidigungsausschusses mit den Vize-Verteidigungsministern Alexej Kriworutschko und Michail Misinzew erfolgen soll. Angekündigt wurde eine Erörterung der Situation mit der erfolgenden Teilmobilmachung. Klar ist aber, dass es auch Fragen über den Verlauf der eigentlichen Sonderoperation geben wird, die jetzt schon nicht nur auf dem ukrainischen Territorium, sondern sozusagen auch auf russischem Territorium erfolgt. Dabei agiert der zuständige Duma-Ausschuss, ohne auf offizielle Informationen des Schoigu-Ministeriums zu warten. Der stellvertretende Ausschussvorsitzende Jurij Schwytkin (Kremlpartei „Einiges Russland“) teilte beispielsweise mit, dass er sich an die Militärstaatsanwaltschaft und das Untersuchungskomitee hinsichtlich der Meldungen über eine angeblich im Verwaltungsgebiet Belgorod aufgegebene Gruppe von 500 eingezogenen Reservisten gewandt hätte. Der Volksvertreter war über solche Informationen stark empört gewesen, die er aus den Massenmedien erhalten hatte, wobei er erklärte, dass „derartige Situationen unzulässig sind“.
Der Chef der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ Sergej Mironow unterbreitete überhaupt die Initiative, ein einheitliches staatliches Informationsportal zur Sonderoperation zu etablieren. Er erläuterte, dass für ein richtiges Verstehen ihres Verlaufs durch die Gesellschaft eine Ressource gebraucht werde, die zerstreute Daten über die Situation an der Front und im Hinterland nicht nur aus dem Verteidigungsministerium, sondern auch von anderen Machtorganen, aber auch von Journalisten, die im Bereich der militärischen Sonderoperation arbeiten und „ihr hohes professionelles Niveau bewiesen haben“, zusammenfasse. „Solch ein Portal könnte sowohl zu einem Instrument für den Kampf gegen Fakes als auch zu einem Koordinationszentrum für die informationsseitige Absicherung der militärischen Sonderoperation werden“, meint Mironow. Schließlich hatten ja derzeit die Bürger kein ganzheitliches Bild vom Geschehen an der Front und rund um die Sonderoperation, die am Freitag bereits den 226. Tag andauerte. Und er erinnerte an die positiven Erfahrungen solch einer Internet-Ressource wie „Stopcoronavirus.rf“, auf der nicht nur aktuelle Zahlen hinsichtlich der Erkrankten, sondern auch andere wichtige Nachrichten zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Und natürlich müsse das Portal zur Sonderoperation, wie der Chef von „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ präzisierte, Informationen über die Mobilmachung der Bürger umfassen.
Was die Untersuchungen in Bezug auf die Vertreter des Verteidigungsministeriums angeht, so hatte man dies schon lange in der KPRF gefordert. Freilich, dort hatte man auf das Maximale beharrt, auf das Erscheinen des Chefs des Verteidigungsministeriums Sergej Schoigu bei einer Tagung der Staatsduma. Die Kremlpartei „Einiges Russland“ hatte jedoch solch eine Initiative blockiert. Und jetzt erklärt der Abgeordnete Andrej Guruljew („Einiges Russland“), selbst ein General im Ruhestand, dass im Verlauf des Treffens im Ausschuss die Frage gestellt werde, warum man die einberufenen Militärs nicht „normal mit Schuhwerk versorgen und einkleiden“ könne. Es sei daran erinnert, dass früher durch eben jene Vertreter von „Einiges Russland“ noch härtere Entscheidungen getroffen wurden. Zum Beispiel haben die Vorsitzenden des Verteidigungs- und des Sicherheitsausschusses, Andrej Kartapolow und Wassilij Piskarjow (beide von „Einiges Russland“), die Generalstaatsanwaltschaft gebeten hätten, sich mit der Situation mit der rückwärtigen Versorgung zu befassen. Und während Guruljew einfach über die Presse und sozialen Netzwerke Unverständnis darüber bekundete, rief Kartapolow offen das Verteidigungsministerium auf, über die Sonderoperation zu lügen aufzuhören.
Nach seiner Meinung müsse man offen über die Misserfolge der Armee oder darüber, dass alle grenznahen Dörfer des Verwaltungsgebietes Belgorod praktisch zerstört seien, sprechen. „Wir erfahren dies von jedem x-Beliebigen – von Gouverneuren und Militärkorrespondenten. Aber die Berichte des Verteidigungsministeriums ändern sich nicht. Das Volk ist aber auf dem Laufenden. Unser Volk ist kein dummes. Und es sieht, dass man ihm nicht einmal einen Teil der Wahrheit sagen will. Dies kann zu einem Verlust des Vertrauenskredits führen“, meint der einstige Chef der Politischen Hauptverwaltung der Streitkräfte der Russischen Föderation.
Früher hatte auch das Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, – wie bekannt – Erklärungen vom Verteidigungsministerium hinsichtlich des Zurückweichens der Truppen im Verwaltungsgebiet Charkow gefordert und später hart die Aufgabe von Lyman mit für die Militärs am stärksten kränkenden Worten kritisiert. Anfangs waren sie nur gegen General Alexander Lapin gerichtet, der laut Angaben von Kadyrow auch in dieser Richtung den Befehl führte. Dann aber fing Kadyrow an, auch den Generalstab zu beschimpfen. Wobei klar zu verstehen gegeben wurde, dass sein Chef Valerij Gerassimow angeblich ineffektiv agiere. Kadyrow, der gleich nach seinen Erklärungen vom Präsidenten der Russischen Föderation den Dienstgrad eines Generalobersts der Russischen Garde erhielt, unterstützte öffentlich auch der Geschäftsmann Prigoschin, der nunmehr bereits seine Schirmherrschaft über solch eine mächtige bewaffnete Gruppe wie die private Söldnerfirma „Wagner“ nicht verheimlicht.
Somit wurde die bisherige Kritik am Verteidigungsministerium im Stil „wenn irgendwer und irgendwo bei uns mitunter“ mit einem Schlage durch Schläge gegen konkrete Personen und Institutionen abgelöst. Möglicherweise lassen die Offiziellen mit solch einem „Ringen von Nanaien-Jungs“ (politischer Jargon in Russland, der für ein vorgetäuschtes, scheinbares Kämpfen steht – Anmerkung der Redaktion) im Informationsraum den Druck des öffentlichen Unmuts ab, damit er sich dort auch wohlbehalten in Luft auflöst. Natürlich gibt es hier ebenfalls ein Element der üblichen Nomenklatura-Konkurrenz um Funktionen und Dienstgrade bzw. Titel, das heißt die Aufmerksamkeit des Präsidenten. Man kann aber auch nicht ausschließen, dass der Kampf der berüchtigten Kreml-Gruppen bereits offen zu Tage tritt. Die Sache ist die, dass sich die meisten der Akteure der Attacke gegen das Verteidigungsministerium – Abgeordnete und Parteifunktionäre, Militärkorrespondenten und Propagandisten – in einem festen Gespann mit der Administration des Präsidenten befinden. Ihr innenpolitischer Block wird jedoch kaum einen Kampf gegen die Militärs um die Wahrheit im Alleingang führen. Das Vorhandensein von Kadyrow und Prigoschin deutet scheinbar auf das Bestehen eines Interesses auch in einer Reihe anderer Rechtsschutz-, Sicherheits- und bewaffneter Strukturen daran hin. Unklar ist bisher nur eines – ist dies das Bestreben, den Obersten Befehlshaber von den Vorzügen ihres, ihres militärischen oder – im Gegenteil – Verhandlungsplans im Zusammenhang mit der Sonderoperation zu überzeugen, oder der Versuch, ihm eine Beweisgrundlage hinsichtlich der Schuld an künftigen Niederlagen gerade der konkurrierenden Gruppierung vorzulegen? In Gesprächen mit Experten hat die „NG“ herausgefunden, dass sie alle eine gegenwärtige informationsseitige Belebung konstatierten. Sie haben sich aber bisher keine eindeutige Meinung über deren Natur gebildet.
Das Mitglied des Politischen Komitees der Partei „Jabloko“, Emilia Slabunowa, erläuterte beispielsweise: „Die Offiziellen haben begriffen, dass man die Wahrheit über die militärische Sonderoperation und Mobilmachung schon nicht mehr verheimlichen kann, denn es erfolgt überall ein Durchsickern von Informationen von Vorort ins Internet. Die Menschen sind empört – sowohl die Gegner als auch die Anhänger der Mobilmachung. Sie wollen die Schuldigen finden. Und ihnen stellt man sie einfach dafür vor, um Druck abzulassen und damit die Unzufriedenen dem politischen System insgesamt keine Vorwürfe machen“. Dabei schloss sie nicht aus, dass es auch Konflikte innerhalb der Elite um ein Sich-Nähern an den ersten Mann im Staat gebe. Slabunowa hat aber auch eine eigene Version für das Geschehen: „Die „Partei des Krieges“ möchte die militaristischen Stimmungen in der Gesellschaft vor der Entfaltung von Offensiven auf den (Schlacht-) Feldern der Sonderoperation verstärken“.
Sergej Obuchow, Leiter der analytischen Verwaltung der KPRF, erklärte der „NG“: „Gegenwärtig ist die Gesellschaft offen ungehalten über die Handlungen der Offiziellen. Die Situation erlangt eine gefährliche Wende. Dies ist am Monitoring der sozialen Medien zu sehen. Wenn man dies mit Schweigen übergeht, kann alles eine nicht zu kontrollierende Wende annehmen. Daher erinnert man sich jetzt vieler Initiativen der KPRF, die früher in „Einiges Russland“ ignoriert wurden, und unterstützt sie, wobei nicht nur in Bezug auf die militärische Sonderoperation. Und bezüglich der Sonderoperation hatte man, als Sjuganow die Lage der Dinge kritisiert hatte, gegen ihn herumgezischelt. Dann aber fingen Kadyrow und Prigoschin an, dies auch zu tun (die Sonderoperation zu kritisieren – Anmerkung der Redaktion). Danach folgten Kartapolow und Guruljew, die selbst aus dem Verteidigungsministerium hervorgekommen sind“. Der Kommunist sieht eine Verstärkung der Konflikte innerhalb der Eliten, zumal in der letzten Zeit das System der Bremsen und Gegengewichte zwischen den Einflussgruppen begonnen hat, in die Brüche zu gehen. „Die Situation ist von solcher Art, dass eine gesellschaftspolitische Destabilisierung droht. Selbst Militärkorrespondenten kritisieren die Offiziellen. Und dies wollen einzelne Figuren und Clans an der Macht ausnutzen, die sowohl im Verteidigungsministerium als auch in der Präsidialadministration Einfluss besitzen“, unterstrich Obuchow.
Das Mitglied des Zentralrates der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“, Michail Jemeljanow, ist jedoch damit nicht einverstanden. „Es gibt bei uns im Land eine Zivilgesellschaft, es bilden sich bestimmte Meinungen und Stimmungen heraus. Und die Politiker werden zu ihren öffentlichen Sprachrohren. Während zu Beginn der Sonderoperation die Vorbereitung zu aktiveren Handlungen erfolgte und die Probleme nicht so deutlich an den Tag traten, so ist jetzt vieles offensichtlich geworden, die Gesellschaft ist ungehalten“, meint er. Und Jemeljanow rief auf, nicht die ganze Schuld den Militärs anzulasten. Zivilbeamte und Politiker seien seiner Meinung nach auch schuldig. „Schließlich besitzt die Russische Föderation einen politischen, Ressourcen- und militärischen Vorteil. Die Ukraine demonstriert aber in konkreten Gefechten ihre Fähigkeit zu Offensiven. Das heißt, es liegt eine unkluge Verwaltung der Ressourcen der Russischen Föderation auf der Hand. Fehler gab es auch mit der Mobilmachung. Ihr später Beginn, die geringe Anzahl (von einzuziehenden Reservisten) und die schwache materielle Sicherstellung“.
Der Generaldirektor des Zentrums für politische Informationen, Alexej Muchin, merkte an, dass „die Politiker die Nase in den Wind halten. Gegenwärtig befindet sich das Verteidigungsministerium in einer schwachen Position aufgrund der Offensive der ukrainischen Streitkräfte. Verlegen macht aber das, dass die Kritiker nicht berücksichtigen, womit dies für das Land enden kann“. „Sie machen für sich Werbung auf der Basis eines Hype-Themas. Sie schütten aber mit dem Bade das Kind aus, was die Zentren für informationsseitige Sonderoperationen der Ukraine auch ausnutzen. Daher kann man natürlich die Handlungen des Verteidigungsministeriums kritisieren, dies muss man aber nicht öffentlich tun“, meint der Experte.