Die Theaterinszenierung „Finist – ein klarer Falke“ der Regisseurin Shenja Berkowitsch und Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk hat die Aufmerksamkeit das Untersuchungskomitees der Russischen Föderation nach entsprechenden fragwürdigen Denunziationen ausgelöst, was zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihre Autoren gemäß Paragraf 205.2 des russischen Strafgesetzbuches (öffentliche Aufrufe zur Vornahme einer terroristischen Tätigkeit, öffentliche Rechtfertigung von Terrorismus oder Propagierung von Terrorismus) führte. Dieser Paragraf sieht eine Bestrafung von bis zu sieben Jahre Freiheitsentzug vor. Berkowitsch und Petrijtschuk sind für zwei Monate in U-Haft genommen worden.
Da „Finist – ein klarer Falke“ schon zwei Jahre lang nicht aufgeführt wird, ist zum Gegenstand einer Expertise, die zur Grundlage des Strafverfahrens wurde, die Videoaufnahme einer Lesung beim Festival für zeitgenössische Dramaturgie geworden. Bei dem war das Stück von Petrijtschuk, das von Berkowitsch auf die Bühnenbretter gebracht und im Weiteren für die Inszenierung mit dokumentarischen Monologen ergänzt wurde, erstmals präsentiert worden. Die Schöpfer der Inszenierung betonen, dass sie sich im Verlauf der Theaterproben nicht nur mit jenen konsultiert hatten, die sich zum Islam bekennen, sondern gar mit Vertretern der russischen Rechtsschutzorgane.
Das auf der Grundlage realer Ereignisse geschriebene Drama „Finist – ein klarer Falke“ erzählt Geschichten von Bürgerinnen Russlands, die sich radikalen Islamisten angeschlossen hatten, wobei der IS (eine in Russland verbotene terroristische Organisation) im Text nicht direkt, sondern als „ein weit, weit entfernter Staat“ ausgewiesen wird. Die Dramaturgin wählte absichtlich das Genre eines Märchens, wobei sie den zu erzählenden Ereignissen eine maximale Verallgemeinerung verleiht. Aber das Märchen dominiert hier bis zu einer bekannten Grenze und wird am Ende entlarvt: Das Pathos des lyrischen Monologs der Hauptheldin wird drastisch durch den Kontrapunkt der zweiten (Handlungs-) Linie – der rund um einen Gerichtsprozess, bei dem sich ein trockener Dialog zwischen dem Richter und der Märchen-Marjuschka gestaltet – zurückgewiesen. Das heißt, schon die eigentliche Komposition des Werkes vermittelt klar den Gedanken der Autorin.
In der Inszenierung erzählen junge, vom Äußeren her wohlbehaltene Mädchen über ihre persönliche Lebenskrise, die sie dazu veranlasst, einen Briefwechsel mit unbekannten, aber sehr anziehenden Männern (Anwerbern) aufzunehmen. Die unbekannten orientalischen Prinzen aus den sozialen Netzwerken stimulieren ihre Phantasie durch Charisma, Heroismus und Romantik. Und nachdem sie per Skype das Ritual einer Trauung durchliefen und zum Islam übergetreten sind, brechen sie nach Syrien auf, um ihre treuen Ehefrauen zu sein. Die eine oder andere erreicht das Ziel und, nachdem sie den Betrug erkannte, da sie in eine Versklavung geraten war, versucht dennoch, mit aller Macht zurückzukehren. Andere werden bereits beim Versuch der Ausreise festgenommen. Im Finale des Stücks wird von einer Anleitung gesprochen, „wie man richtig in einer russischen Strafkolonie das Kopftuch bindet“. Und Marjuschka erhält eine Haftstrafe. Konnten die Autorinnen die gedankliche Position direkter und eindeutiger zum Ausdruck bringen?
Die gegen die Autorinnen vorgebrachten Anklagen implizieren eine „öffentliche Erklärung über die Anerkennung der Ideologie und Praxis von Terrorismus als richtige sowie einer Unterstützung und Nachahmung bedürfende“, aber gleichfalls die Verbreitung „einer Überzeugtheit von deren Attraktivität oder einer Vorstellung von der Zulässigkeit der Vornahme einer terroristischen Tätigkeit“. Es ist offensichtlich, dass die Expertise, die den Untersuchungsbehörden darüber berichtete, die Reden der erfundenen Personen als reale und direkte auslegte, aber auch absichtlich ihre negative Konnotation ignorierte, die durch die Dramaturgin eindeutig formuliert worden war, wobei die Gesetze der künstlerischen Logik ignoriert wurden. Denn, wenn man solchen Methoden folgt, kann man auch Dostojewskij strafrechtlich verantwortlich machen – aufgrund der Äußerungen von Raskolnikow („Schuld und Sühne“), Stawrogin („Die Dämonen“), Werchowenskij („Die Dämonen“) usw. Übrigens, sowohl Dostojewskij als auch beispielsweise Bulgakow hatten ihre Sujets aus realen Nachrichten aufgegriffen. So auch hier: In dem Stück finden Details und Motive des bekannten Falls von Warwara Karaulowa eine Reflexion, die versucht hatte, sich dem „Ehemann“ im IS anzuschließen, und wegen einer Beteiligung an einer terroristischen Organisation verurteilt wurde. Und selbst ihr Hauptkonflikt wird exakt widergespiegelt: Wer sind diese Mädchen, die Liebe weitab von der Heimat suchten? Komplizen von Mördern oder Opfer der Umstände? Und wer trägt die Schuld? Die an sich verlorenen Frauen oder die Gesellschaft?
Kompliziertheit und ein Diskussionscharakter sind jeglichem Kunstwerk wesenseigen. Während sein Wesen — eine Reflexion der Wirklichkeit in künstlerischen, kreativen Formen – durch heutige Dramaturgen noch weniger von der Realität losgelöst wird. Es gibt da die bekannte Wahrheit: Das Leben erweist sich häufiger als ein schrecklicheres und weiseres als die Fiktion.
Ein wichtiger Aspekt ist: Man hörte auf, die Inszenierung nach einer Serie von beinahe sofort erfolgten Denunziationsversuchen zu zeigen. Und nunmehr hat man ihnen eine aktuelle „destruktologische Expertise“ von Mitarbeitern eines entsprechenden Labors der Moskauer staatlichen Linguistik-Universität hinzugefügt (geleitet wird dies durch Roman Silantjew, der diese Pseudowissenschaft aus der Taufe gehoben hat – Anmerkung der Redaktion). Diese Organisation besitzt keine staatliche Lizenz als eine Experten-Einrichtung. Und ihr Profil, die sogenannte Destruktologie, ist überhaupt nicht wissenschaftlich anerkannt worden. Das Gutachten behauptet, dass in den Materialien „Anzeichen der IS-Ideologie enthalten sind“, und in dem Stück „wird unterstrichen, dass die russische Gesellschaft aus der Sicht der Barmherzigkeit nicht besser als der IS ist“. So bewerten die Pseudo-Experten die Entscheidung der literarischen Heldinnen, in den Orient zu gehen, nachdem sie im Heimatland kein persönliches Glück gefunden haben.
Interessant ist, dass im berühmten „Tannhäuser-Fall“ von 2015 ebenfalls eine Expertise die Grundlage bildete, in der ein gewisser Theologe die Inszenierung des Nowosibirsker Operntheaters einer Entweihung christlicher Werte bezichtigt hatte. Ein erneutes komplexes religionskundliches und kunstwissenschaftliches Gutachten widerlegte das erste, wobei es die Schlussfolgerung zog, dass in der Auslegung der Oper durch den Regisseur kein wahres Bild von Christus enthalten sei, „denn die evangelische Gestalt Christi ist eine wahre, aber die Figur Christi in der Inszenierung ist eine Fiktion“.
Der „Theaterfall von Berkowitsch und Petrijtschuk“ ist im Zusammenhang damit ein markanter, da man den Versuch unternimmt, die Regisseurin und Dramaturgin post factum (im Nachhinein) zu verurteilen, für ein Werk, das erstens schon nicht mehr ein breites Publikum erreicht und zweitens auf staatlicher Ebene offiziell anerkannt und gewürdigt wurde. Die Inszenierung wurde mit einem Zuschuss das Verbands der Theaterschaffenden auf die Theaterbretter gebracht und erhielt später zwei „Goldene Masken“ (für die Dramaturgie und die künstlerische Ausgestaltung) – die höchste Theater-Auszeichnung des Landes, hinter der sowohl der Verband der Theaterschaffenden als auch Russlands Kulturministerium stehen. Wer muss da in solch einem Fall die Verantwortung für ein „Propagieren von Terrorismus“ mit den angeklagten Frauen teilen – Vertreter des Verbands, des Kulturministeriums?
Wie unberechenbar kann die Vergangenheit sein, wenn man Autoren, denen man gestern einen Preis gegeben hat, heute für das Gleiche vor Gericht zerren will? Von der Idee her soll eine Bestrafung die Bürger stimulieren, keine Straftaten zu verüben. Derartige Situationen nehmen aber der Gesellschaft die Orientierungspunkte dafür, was man tun kann und was nicht.