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Eine Ohrfeige für die Erben von Byzanz


Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan plant, am 15. Juli in der Hagia Sophia – der Sophienkirche von Istanbul – das erste moslemische Gebet seit beinahe 100 Jahren vorzunehmen. Nachdem am 2. Juli der Staatsrat der Türkei für eine Aufhebung des Kabinettsbeschlusses von 1934 über die Umwandlung dieses Geschichts- und Kulturdenkmals in ein Museum plädierte, prüft nun das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei, ob die Hagia Sophia in eine Moschee umgewandelt werden darf. Für eines der einst größten christlichen Gotteshäuser sind bereits Teppiche im Stil der Epoche von Sultan Mehmed II., der 1453 Konstantinopel erobert und die Kirche in eine Moschee durch den Anbau von vier Minaretten umgewandelt hatte, erworben worden. Am 29. Mai verlas man wie auch in den vergangenen Jahren in der „Ayasofya“ (türkische Bezeichnung der Sophienkirche – Anmerkung der Redaktion) die 48. Sure des Korans Al-Fath („Der Sieg“) zur Erinnerung an der Eroberung von Byzanz. 

Bartholomeos I., der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, verurteilte am 30. Juni entschieden diese Pläne. „Im Jahr 2016 haben wir an den damaligen Verantwortlichen für Religionsangelegenheiten ein Schreiben gesandt und unsere Besorgnis hinsichtlich einer Veränderung des Status der Hagia Sophia bekundet“, sagte das Oberhaupt der Kirche von Konstantinopel, die sich als geistliche Erbin des Byzantinischen Reichs ansieht. „Dieses Gotteshaus darf kein Grund für einen Konflikt zweier Völker sein. Es gehört nicht nur dem Staat, der das Denkmal besitzt, sondern auch der gesamten Menschheit. Das türkische Volk ist verpflichtet, den universellen Wert dieses Denkmals zu unterstreichen.“ „Die Hagia Sophia als ein Museum dient als ein Ort und Symbol der Begegnung von Kulturen, der Solidarität und des gegenseitigen Verstehens zwischen Christentum und Islam. Eine Umwandlung der Kirche in eine Moschee wird Millionen von Christen in der ganzen Welt gegen den Islam einstellen“, drohte der Patriarch an. Am Vorabend hatte der Botschafter der USA in der Türkei, David M. Satterfield, das Oberhaupt der Kirche von Konstantinopel in dessen Istanbuler Residenz besucht. Wahrscheinlich haben die Amerikaner Bartholomeos I. diplomatische Unterstützung versprochen und damit den geistlichen Führer aufgemuntert, der Angst hat, direkt gegen die türkischen Behörden aufzutreten, von denen er abhängt. 

Und was ist mit der übrigen Welt? Gegen eine Veränderung des Status der einstigen byzantinischen Kirche trat als erstes Land Griechenland auf. Athen und Ankara tauschten scharfe Erklärungen aus diesem Anlass aus. Griechenlands Außenministerium bezeichnete das Lesen des Korans in den Mauern des Museums als unzulässig, wobei es daran erinnerte, dass die ehemalige Kirche ein Denkmal des UNESCO-Welterbes sei. „Das ist eine Frage der Souveränität. Die Griechen mischen sich ein, als wenn sich Konstantinopel und die Ayasofya auf ihrem eigenen Territorium befinden würden. Athen kann uns keine Befehle erteilen. Und wir werden nichts unternehmen, was wir nicht erklären können“, parierte Mevlüt Çavuşoğlu, der Außenminister der Türkei. Die Griechen unterstützten das Oberhaupt des armenischen Patriarchats von Konstantinopel, Sahak II. Maschalian, und der Botschafter der Vereinigten Staaten für Fragen der internationalen Religionsfreiheit, Sam Brownback. Zur gleichen Zeit haben aber die katholischen Bischöfe der Türkei zugesagt, dass sie die Pläne der Regierung nicht behindern würden. „Wir sind eine Kirche, der der juristische Status genommen wurde. Und daher können wir keinerlei Ratschläge bezüglich der inneren Angelegenheiten dieses Landes geben. Selbst wenn wir wollten, dass die Hagia Sophia weiter ein Museum bleibt, doch wir können uns nicht einmischen oder gar offiziell eine Meinung hinsichtlich der Entscheidung bekunden, die ausschließlich die Republik Türkei betrifft“, betonte man in der Konferenz der katholischen Bischöfe des Landes.

Die Pläne der Türken kommentierte man auch in der Russisch-orthodoxen Kirche (ROK). Der Vorsitzende des Amtes für auswärtige Kirchenbeziehungen (AAKB), Metropolit Hilarion (Alfejew), erklärte: „Jegliche Versuche, den gegenwärtigen Status der Sophienkirche zu verändern, … führen zu einer Zerstörung jenes fragilen interkonfessionellen und zwischenreligiösen Gleichgewichts, das sich bis in die heutige Zeit herausgebildet hat“. „Natürlich ist dies eine sehr schlechte Entscheidung. Und dies ist eine Ohrfeige für die ganze Orthodoxie und das gesamte Christentum. Die orthodoxen Christen der Türkei hatten leider bereits seit dem Fall von Konstantinopel keinerlei Rechte auf dieses Heiligtum und haben sie auch heute nicht. Aber die Gefahr einer Aufhebung des Dekrets von Atatürk und eine Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee sind sehr spürbare, denn mit diesem einmaligen Denkmal hängt die Geschichte der Christianisierung der Rus zusammen. Dadurch ist auch die Reaktion seitens der Russischen Kirche ausgelöst worden, die durchaus offiziell in den Worten von Metropolit Hilarion artikuliert worden ist. Und wir wissen, dass seine Worte von vielen orthodoxen Christen in verschiedenen Ländern der Welt mit Mitgefühl und Dank aufgenommen worden sind“, erläuterte man der „NG“ im AAKB. Am Donnerstag bekräftigte Hilarion noch einmal die Besorgnis aus russischer Sicht: „Wir verfolgen aufmerksam und mit ernster Besorgnis die Ereignisse um die Sophienkirche. Wir warten auf die offizielle Veröffentlichung der Entscheidung des Obersten Gerichts der Türkei, dass, wenn man den Meldungen in der Presse Glauben schenkt, der Auffassung war, dass der Status der Hagia Sophia, die gegenwärtig ein Museum ist, durch einen Erlass des Präsidenten des Landes verändert werden kann. Wir hoffen, dass die Entscheidung, die Kirche in eine Moschee zu verwandeln, nicht getroffen wird“. Ansonsten folgte bisher zu dieser Frage keine gesonderte synodale Erklärung – im Unterschied zur Situation in Montenegro, wo sich ein Konflikt der Behörden mit der Serbischen Kirche entwickelt. Im AAKB bringt man das Ausbleiben einer harten Haltung hinsichtlich der Hagia Sophia nicht mit dem Abbruch der eucharistischen Kontakte mit dem Patriarchat von Konstantinopel aufgrund der Orthodoxen Kirche der Ukraine in einen Zusammenhang.    

Der Leiter des Intellektuellen-Klubs „Katechon“, Arkadij Maler, unterstrich in einem Gespräch mit der „NG“: „Die Erlangung der Mission eines Dritten Roms durch Russland muss gerade die aktive internationale Position der Russischen Kirche hinsichtlich des Schutzes aller christlich-orthodoxen Gotteshäuser und Reliquien in der ganzen Welt und nicht das Sich-beschränken auf ihre eng nationalen Interessen und das Vergessen der anderen orthodoxen Kirchen und Völker fördern. Man kann sich dessen gewiss sein, dass, wenn die Hagia Sophia in Konstantinopel auf einmal in eine Moschee verwandelt wird, seitens unserer Kirche härtere Erklärungen folgen werden. Und keiner wird diesen historischen Exzess verschweigen. Die Tatsache, dass es zu diesem Ereignis gerade jetzt kommt, unter der Herrschaft von Patriarch Bartholomeos I., wird natürlich eine offensichtliche Bestrafung sein, die durch Gott aufgrund der kanonischen Verbrechen zugelassen wurde. Aber die christlich-orthodoxen Menschen können aus diesem Grunde keine Schadenfreude empfinden, da jede orthodoxe Kirche ein gemeinsames orthodoxes Heiligtum ist, und umso mehr solch eines wie die Hagia Sophia von Konstantinopel“. 

Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, ist der Auffassung, dass für die ROK derzeit weitaus wichtiger sei, die guten Beziehungen mit Erdogan zu bewahren. „Als ein Symbol des Christentums hat die Hagia Sophia schon lange Russland interessiert“, sagte der Politologe gegenüber der „NG“. „Als Russland im Ersten Weltkrieg auf eine Kontrolle des Bosporus und der Dardanellen Anspruch erhob, bestand die Frage darin, der Hagia Sophia den Status eines christlichen Gotteshauses zurückzugeben. Nun ist dieses Thema der Geschichte anheimgefallen. Wenn die ROK gute Beziehungen mit Patriarch Bartholomeos I. hätte, hätte sie sich eher gedämpfter für die Kirche engagiert. Da nun aber das geschehen ist, was geschehen ist, hat die ROK jetzt ein anderes Problem: Wer wird die Russen seelsorgerisch betreuen, die sich in der Türkei erholen? Und die ROK ist hier nicht an einer Unterstützung durch das Patriarchat von Konstantinopel und den Status der Kirche interessiert, sondern daran, dass jene russischen Touristen, für die nicht nur ein komfortabler Urlaub, sondern auch die religiöse Komponente wichtig ist, ruhig die kirchlichen Riten zelebrieren können. Daher wird das Moskauer Patriarchat Erdogan nicht verärgern.“

Der türkische Präsident hat mehrfach erklärt, dass er nicht vorhabe, den Touristen die Ayasofya wegzunehmen. „Die Touristen werden die Kirche besuchen können, wenn sie zu einer Moschee wird. Wie dies auch mit der Blauen Moschee auf dem Sultan-Ahmed-Platz der Fall ist“, versicherte das türkische Staatsoberhaupt Anfang Juni. Freilich ist unklar, was mit den Fresken und Mosaiken wird, die in der Kirche seit den byzantinischen Zeiten teilweise erhalten geblieben sind. Und viele von ihnen sind durch die Arbeit von Restauratoren zurück ans Licht der Welt gebracht worden. Wenn sie übermalt werden, wie die moslemischen Gesetze vorschreiben, wird das Denkmal seine Attraktivität für die Touristen verlieren. Schließlich besuchen viele die Hagia Sophia gerade deshalb, um sich an den Zeugnissen ihrer byzantinischen Vergangenheit zu ergötzen. In Vielem dank der Spuren der christlichen Kultur kostet die Eintrittskarte für das Museum 100 türkische Lira (13 Euro), während jeder Interessent die Blaue Moschee kostenlos besuchen kann, aber zu speziell dafür vorgesehenen Stunden, wenn dort keine Gottesdienste durchgeführt werden. Ja, und Moscheen gibt es hinreichend in der Stadt. Mindestens sieben historische – die Fatih-, am Aksaray Platz die Valide-, die Laleli-, die Beyazıt-, die Sultan-Ahmed- sowie die Neue und die Süleymaniye-Moschee. Im März 2019 wurde im asiatischen Teil der Stadt die größte Moschee in der Türkei geweiht – die Çamlıca-Moschee, in der gleichzeitig über 60.000 Menschen das Gebet verrichten können.

„Die Hagia Sophia braucht Erdogan nur als Revision der Politik von Atatürk“, meint Makarkin. „Da der Präsident aber den Atatürk-Kult im Land nicht vollkommen diskreditieren kann, versucht er mit solchen Methoden den zu zerstören. Da als Alternative zum Gründer der Republik zwei miteinander verbundene Faktoren – das Sultanat und das Kalifat – wirken, ist Erdogan bestrebt, gerade an sie zu appellieren. Und in seinen Reden wendet er sich nicht Atatürk zu, sondern der Herrschaftsperiode von Sultan Mehmed II., der Konstantinopel erobert und die Hagia Sophia in eine Moschee verwandelt hatte. Erdogan ist bestrebt, sich nicht nur als Fortsetzer dessen Traditionen, sondern auch als ein informeller Nachfolger zu zeigen. … In der heutigen Türkei erlangt dieser Trend einen immer aktiveren Charakter“, resümierte der Experte. 

https://www.ng.ru/ng_religii/2020-06-30/9_489_sofia.html