Schulen, Sportpaläste und Kulturhäuser, Theater, Unterführungen, Betriebe und Fabriken, Hotels und Institute, die Metro… Sowjetische Mosaiken umgeben uns überall. „Lächelnde Burschen mit einem athletischen Körperbau, Bezwinger der von Sternen übersäten Weiten des Kosmos, die schnellsten und geschicktesten Sportler, Frauen, in deren Händen nicht nur Blumen, sondern auch die ganze Welt“, heißt es in der Annotation, „dies sind keine Helden eines neuen Comics von Marvel. Dies sind Personen der sowjetischen monumentalen Mosaikarbeiten, auf die man praktisch in jedem Kulturhaus oder in alten Stationen der Metro treffen kann… Neben einem historischen Exkurs werden dem Leser über einhundert detaillierte Fotos von Mosaikwandbildern der Hauptstadt vorgestellt, die durch den englischen Fotojournalisten und Pulitzer-Preis-Gewinner James Hill gemacht wurden“.
Wir haben es hier in der Tat mit einem farbenprächtigen Bildband zu tun („Monumentale Mosaikarbeiten Moskaus: zwischen Utopie und Propaganda“, erschienen 2021). Jedes Kapitel (über Mosaiken, die Lenin, dem Sport, der Wissenschaft, den Frauen oder den Militärs gewidmet sind) leitet eine kleine Erzählung darüber ein, was, wo, wann und durch wen dargestellt worden ist. Was erhalten geblieben, verlorengegangen oder verändert worden ist. Erzählt wird über das Schicksal nicht nur der Werke und der Künstler, sondern auch der dargestellten Personen.
Schließlich ist alles schon lange vor uns erfunden worden. Alle totalitären Regimes sind gleichartig, aber jedes auf seine Art. Allerdings sind auch nicht besonders totalitäre gleichfalls gleichartige. Und ebenfalls jedes auf seine Art. Daher inspiriert immer, wenn „seltsame Annäherungen“ auftreten. Wenn alles fließt, sich aber nichts verändert. Wobei vom Wesen her auch selbst nichts besonders fließt. In dem interessanten und ausführlichen einletenden Artikel von Jekaterina Ruskjewitsch und Anna Petrowa lesen wir (in dessen historischen Teil): „Die Errichtung der Hagia Sophia von Konstantinopel hatte noch unter Kaiser Justinian 532 begonnen… Ein späteres Mosaik befindet sich in der Südgalerie: Konstantin IX. Monomachos und Kaiserin Zoe bringen Christus Gaben dar (hier ist durch die Kunst das bewegte Leben der Kaiserin nachzuverfolgen: Zuerst war an der Stelle von Konstantin ihr zweiter Gatte Michael IV. der Paphlagonier dargestellt worden, nach dessen Tod der neue (byzantinische) Kaiser Michael V. Zoe aus Konstantinopel vertrieb und anwies, das Porträt zu zerstören. Und Zoe wurde gewaltsam zu einer Nonne geweiht. Nach einem Volksaufstand kehrt Zoe in die Hauptstadt zurück und heiratet mit 64 Jahren ein drittes Mal und ehelicht Konstantin IX. Monomachos, lässt das Mosaik mit ihrer Darstellung wiederherstellen und tauscht das Porträt des zweiten Gatten durch die Darstellung des dritten aus)“. Im Buch ist im Übrigen ein Druckfehler: „Und im Alter von 62 Jahren heiratet sie“. Nun, wir alle wissen doch aber, dass dies 1042 gewesen war. Und da war Kaiserin Zoe tatsächlich 64 Jahre alt (ein doch erstaunliches Mädchen, da gibt es keine Worte). Wir lassen uns aber nicht ablenken, zumal uns die oben erwähnten Annäherungen erwarten, und lesen weiter (bereits im „sowjetischen“ Teil): „Im Vestibül der Metrostation „Serpuchowskaja“ („Dobryninskaja“) wurden am 1. Mai 1951 drei große Wandarbeiten von Georgij Rubljow und Boris Jordanskij montiert. Eine von ihnen stellt eine 1.-Mai-Parade dar, bei der Sportler und Militärs mit Flaggen mit Porträts von Stalin marschierten. 1963 ersetzte man ein Profil des Führers durch das Garde-Zeichen und das Vollporträt durch das lächelnde Gesicht von Jurij Gagarin. Somit hatte sich ergeben, als hätte man ein Banner mit dem Porträt des Kosmonauten lange vor dem ersten Flug in den Kosmos getragen“.
Wer hätte daran gezweifelt?! Iosif Wissarionowitsch Stalin – der erste Kosmonaut. Stimmt was nicht? Und im Übrigen sieht es doch normal und rechtens aus. Die Sowjetmenschen vermochten einfach voraussehen. Da gibt es keinerlei Mystik, nur die sowjetische Wissenschaft. Und die ist bekanntlich die wissenschaftlichste in der Welt.
Die UdSSR war doch ein Vorreiter. Bei uns hatte man nicht nur Stalin gegen Juri Gagarin ausgetauscht. Bei uns hatte man leicht und gern den sowjetischen Bürgern das Geschlecht geändert. „… Die Kompositionen des Sportkomplexes „Konstrukteur“ (1973). In der zentralen von ihn – „Die Sieger“ – ist der junge Mann mit dem Pokal durch die Künstler Sergej Iwanow und Wladimir Kolesnikow aus der Figur eines Mädchens gelegt worden (Beweis dafür sind die weiblichen Körperproportionen)“. Heutzutage ist Derartiges allerdings intolerant und nicht politkorrekt. Jetzt kann man dies nur umgekehrt tun. Obgleich weibliche Körperproportionen von Burschen durchaus zulässig sind.
Ja, und über den Künstler Wladimir Kapustin und seine Arbeiten im universellen Sportpalast „Krylja Sowjetow“ heißt es: „Seine etwas ermüdeten Eishockeyspieler, Eiskunstläuferinnen und Läufer … in erstarrten Posen und mit traurigen Gesichtern“. Genauer sagst du es nicht. Die Läufer sind besonders betrübt. Da möchte man auch gern fragen: Wohin lauft Ihr, traurige Läufer? Doch nicht etwa zum Kommunismus? Oder von einem Infarkt zu einem Schlaganfall? Oder einfach weit weg, um uns nicht zu sehen? Eher das letztere.
Und die zwei letzten Akkorde aus dem Finale des einleitenden Beitrags. Der lehrreiche: „Die sowjetischen dokumentarischen Mosaiken haben einen Weg vom Kampf gegen Mythen in der Epoche des Avantgardismus und sozialistischen Realismus zur Anerkennung und aktiven Verbreitung genau solch märchenhafter Sujets im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zurückgelegt. Heute scheint das sowjetische Projekt an sich eine zauberhafte Utopie zu sein, die einen eigenen Entwicklungsweg propagierte“. Und der traurige Akkord ist, was bereits zu etwas Gewohntem geworden ist, besonders wenn von Moskau die Rede ist: „Die aggressive Dekommunisierungspolitik, die negative Haltung zur Vergangenheit darf sich nicht auf die Kunst erstrecken. Die herausragenden Kunstdenkmäler und -werke müssen bewahrt, beschrieben und veröffentlicht werden. Natürlich hat es unter den sowjetischen monumentalen Arbeiten eine Vielzahl zweitrangiger, „gepfuschter“ und aufgrund des Wunsches, Geld zu verdienen, in Eile geschaffener Arbeiten gegeben. Aber selbst solche Beispiele sind Symbole der Epoche und Wahrzeichen der Zeit: Die Faktur eines Ortes muss eine vielgestaltige bleiben“.
Sogar ich, der einst kurze Zeit in einem Taxi-Fuhrpark als Künstler arbeitete, habe mit an dem sowjetischen propagandistischen Pfusch Hand angelegt. In einer der zahlreichen Darstellungen des Anführers des Weltproletariats, die einige Zeit den Tuschino-Stadtbezirk Moskaus schmückte, gibt es einen Teil meiner bescheidenen Teilnahme. Danach habe ich mich in der Armee mit derartigen Sachen tagtäglich beschäftigt. Doch um die Truppenteile war es mir (auf dem Gebiet der Kunst und Propaganda) nicht schade. Um die geliebte Stadt aber ist es mir schade.
Am Ende des Buches ist ein „Verzeichnis der monumentalen Mosaiken Moskaus der sowjetischen Periode“. Das eine oder andere mit Adressen. Aber sehr ist leider auch Derartiges anzutreffen: „Demontiert“, „Nicht zugänglich“, „Nicht gefunden“… Freilich gibt es auch so etwas: „Nicht nachprüfbar“. Nun, und das bedeutet, dass es zumindest noch irgendeine Hoffnung gibt.