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Für Cherson will man keine Wiederholung des Schicksals von Mariupol


Sowohl in Kiew als auch in Moskau hat man eine schwere „Schlacht um Cherson“ prognostiziert. Dabei wurden am Mittwoch die wichtigsten Nachrichten aus der Region durch Meldungen der russischen Seite bestimmt.

Unter anderem informierte die Verwaltung der Stadt Oleschky auf Telegram über den Beginn einer organisierten Evakuierung von Einwohner vom rechten Ufer des Dneprs auf das linke. Dazu sollten Fähren zum Einsatz gebracht werden, um die Menschen nach Oleschky oder nach Golaja Pristan zu bringen. Und dort haben die Rettungskräfte in eingerichteten Punkten für eine zeitweilige Unterbringung die Richtung für die weitere Bewegung der Bürger unter Berücksichtigung ihres eigenen Wunsches zu bestimmen, berichtete man in der Stadtverwaltung.

Dabei erklärte der amtierende Gouverneur des Verwaltungsgebietes, Wladimir Saldo, am Mittwoch in einer Sendung des russischen staatlichen Fernsehkanals „Rossia 24“, dass die Einreise für Zivilisten in das Gebiet für die nächsten sieben Tage im Zusammenhang mit der entstandenen unruhigen Situation eingeschränkt werde. „Wenn es zu Gefechten kommt, es zu einem Artilleriebeschuss kommen wird und man die Stadt (Cherson) bombardieren wird, ist es besser, die Menschen aus der Stadt zu bringen. Und so gehen wir derzeit auch vor“, präzisierte Saldo. Nach seinen Worten würden die einheimischen Behörden an einer Erweiterung der Leistung der Fährverbindungen arbeiten und zusätzliche Schiffe zum Einsatz bringen. Seit den Morgenstunden waren Menschen bereits zu den Sammelpunkten gekommen. Freilich werden auch alle Leitungsstrukturen inklusive der Militär- und Zivilverwaltung auf die linke Seite des Dneprs gebracht. Die Kosten für die Evakuierung werden aus dem russischen Staatshaushalt beglichen. Über 5.000 Menschen haben laut offiziellen Angaben in den letzten zwei Tagen die Region verlassen. Insgesamt sei aber nach Aussagen Saldos geplant, ca. 50.000 bis 60.000 Menschen vom rechten Ufer des Dneprs zu evakuieren.

Am Vorabend nannte der amtierende Gouverneur die Gefahr einer Überflutung als noch einen Grund für die bekanntgegebene massenhafte Verlegung von Einwohner Chersons. Diese könne sich im Falle eines Schlages ukrainischer Militärs gegen das Kachowka-Wasserkraftwerk ereignen. Aber „keiner wird Cherson hergeben, die Militärs wissen, was zu tun ist“, sagte der prorussische Politiker.

Es sei daran erinnert, dass der neue Befehlshaber der russischen vereinigten Truppen-Gruppierung im Gebiet der militärischen Sonderoperation, Armeegeneral Sergej Surowikin, am Dienstag von einer angespannten Lage in der Richtung Cherson gesprochen und „schwere Entscheidungen“ nicht ausgeschlossen hatte. „Die NATO-Führung der Streitkräfte der Ukraine verlangt schon lange vom Kiewer Regime Offensivoperativen in der Richtung Cherson, wobei es auf keinerlei Opfer Rücksicht nimmt – weder in den ukrainischen Streitkräften an sich noch unter der Zivilbevölkerung“, erklärte Surowikin in einem Interview für das russische Staatsfernsehen „Rossia 1“. Und er teilte gleichfalls mit, wobei er intensiv vom Teleprompter ablas, dass die russische Seite Angaben über einen möglichen Schlag gegen den Staudamm des Kachowka-Wasserkraftwerkes und die ziellose Führung eines massiven Raketen- und Artillerieschlage gegen die Stadt hätte. Derartige Handlungen könnten zu einer Vernichtung der Infrastruktur des großen Industriezentrums und zu hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung führen, warnte der General, ohne dabei irgendwelche konkreten Beweise vorzulegen.

Seinerseits informierte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte am Mittwochmorgen, dass russische Militärs die Arbeit der Betreiber mobiler Telefonnetze und des Internets in den Städten Tawrijsk und Nowaja Kachowka des Verwaltungsgebietes Cherson blockieren würden, um die Bewegungen von Gefechtstechnik und Militärs zu verschleiern, wies man im ukrainischen Generalstab hin.

Zur gleichen Zeit gab der Chef der Militärverwaltung des Gebietes Nikolajew, Vitalij Kim, bekannt, dass Bürger Russlands Mitteilungen versenden würden, wonach man sich evakuieren lassen müsse, da die ukrainischen Streitkräfte Cherson beschießen würden. „Im Wissen um die russische Taktik und darum, dass sie Befestigungen im Raum Tschaplynka für Artilleriewaffen anlegen, akkurat um gegen Cherson Schläge zu führen, habe ich das Gefühl, dass die Russen sich darauf vorbereiten, gegen Cherson Schläge zu führen“, fügte der ukrainische Politiker Kim im Messenger-Dienst Telegram hinzu. Die in Kiew populäre Version von der beliebten Taktik der russischen Militärs, die sich ununterbrochen beschießen und selbst in die Luft sprengen, hat auch Dmitrij Orlow aufgegriffen, der ehemalige Bürgermeister von Energodar, dass sich seit dem Frühjahr zusammen mit dem dort gelegenen AKW Saporoschje unter Kontrolle Russlands befindet. Nach seinen Worten sei die Stadt erneut von Militärs der Russischen Föderation beschossen worden, wodurch das Energieversorgungssystem beschädigt wurde und Energodar teilweise ohne eine Stromversorgung geblieben war. Derweil berichtete der Vorsitzende der Bewegung „Wir sind zusammen mit Russland“, Wladimir Rogow, am Mittwoch der russischen staatlichen Nachrichtenagentur TASS, dass eine ukrainische Einheit mit 40 Schnellbooten versucht hätte, in Energodar an Land zu gehen, um die Stadt zusammen mit dem AKW Saporoschje zu besetzen. Die Anlandungsoperation sei aber durchkreuzt worden, präzisierte der prorussische Politiker Rogow.

Vor solch einem Hintergrund haben bereits mehrere Analytiker in Kiewer Massenmedien begonnen, von zu erwartenden baldigen Erfolgen der ukrainischen Streitkräfte zu sprechen, in erster Linie in Cherson. Obgleich, wie der ukrainische Militärexperte Oleg Schdanow in einem Interview eingestand, die Situation rund um die Stadt eine sehr schwere bleibe. Nach seinen Worten würden die russischen Militärs derzeit versuchen, die Gruppierung in Cherson mit Munition zu versorgen, wenn auch nur mit kleinen Partien. Gleichzeitig hätten sie über die Kachowka-Brücke drei einspurige Panzer-Überfahrten organisiert. Und dank dem hätten sie die Möglichkeit erhalten, Technik über den Dnepr zu bringen. Wobei man im Raum Cherson auch „Rohrleitungen durch den Dnepr anlegt, um Kraftstoffe durchzupumpen“, beschrieb Schdanow die Lage. Und daher sei es vorerst noch zu früh, von einer operativen Einkreisung des Verwaltungszentrums zu sprechen, resümierte er.

Derweil haben mehrere russische Analytiker bereits die Schlussfolgerung gezogen, dass sich aus der Erklärung von Armeegeneral Sergej Surowikin gleichfalls die Wahrscheinlichkeit einer Aufgabe von Cherson ergeben könne – unter den Bedingungen der sich an der Berührungslinie ergebenen Krisen-Situation, die imstande ist, bis Ende November/Anfang Dezember anzudauern.

Bei der Kommentierung dieser Äußerungen für die „NG“ verwies der Chefredakteur des Internetportals „Arsenal des Vaterlands“, Dmitrij Drosdenko, darauf: Für die Entwicklung des weiteren Szenarios in der Zone der Kampfhandlungen trägt Armeegeneral Surowikin die Verantwortung. Und er wird die Entscheidungen hinsichtlich der weiteren Handlungen treffen.

„Wird man Cherson aufgeben oder nicht“ – dies wird von vielen Faktoren abhängen. Die endgültige Antwort kennt gegenwärtig keiner. Die Situation ist für die angreifenden und für die sich verteidigenden Kräfte eine sehr schwierige. Für die ukrainischen Streitkräfte ist dies die letzte Chance vor Beginn des Einsetzens der von Regenfällen und schlammigen Wegen begleiteten Zeit, um den Versuch zu unternehmen, eine entscheidende Niederlage an einer einzelnen operativen Richtung zuzufügen“, erklärte Konstantin Siwkow, stellvertretender Präsident der Russischen Akademie für Raketen- und Artilleriewissenschaften, gegenüber der „NG“. Augenscheinlich hat das ukrainische Kommando damit gerechnet, fuhr er fort, auch hier den Erfolg der Charkow-Variante zu wiederholen. Und es habe in dieser Richtung eine große Gruppierung gebildet. Neben anderem und unter Berücksichtigung der Spezifik der Gegend könnten die ukrainischen Streitkräfte ebenfalls versuchen, einen Schlag gegen den Staudamm zu führen, um eine Überflutung vorzunehmen. Die Militärs der Russischen Föderation würden natürlich um diese Pläne wissen und sich darauf vorbereiten, die Offensive abzuwehren. Sie würden insbesondere Schläge gegen Einheiten des Gegners führen, aber auch die Zivilbevölkerung wegbringen, um auszuschließen, dass sie in den Bereich der Kampfhandlungen oder einer möglichen Überflutung gerät. Die Militärs würden bestrebt sein, die Zivilisten zu schützen. Und sie wollen nicht, dass Cherson genauso zu einer zerstörten Stadt wird wie einst Mariupol, konkretisierte Siwkow.

Wird sich jedoch da nicht jetzt das Szenario vom September wiederholen, als der Hauptschlag der ukrainischen Streitkräfte anfangs in der Cherson-Richtung vorausgesagt wurde, letztlich aber, nach einer Reihe erfolgloser Versuche eines Durchbruchs sich die ukrainischen Einheiten rasch neu orientiert hatten und im Raum von Charkow vorrückten?

Wie der „NG“ der Militärexperte Jurij Knutow, Direktor des Museums der Truppen für Luftverteidigung, erläuterte, seien zum heutigen Tag für die ukrainischen Streitkräfte drei Schlüsselrichtungen für eine Offensive auszumachen. Die erste sei die Cherson-Richtung. Und die zweite sei die Saporoschje-Richtung, wo man am Vorabend erneut versucht hatte, ein Anlandungsmanöver vorzunehmen, das abgewehrt wurde. In dieser Richtung seien bereits eine große Anzahl von Drohnen und gepanzerten Fahrzeugen sowie unterschiedliche Mittel für ein Übersetzen konzentriert worden, die erlauben würden, den Dnepr zu überwinden und einen Brückenkopf für ein weiteres Vorrücken in Richtung Energodar und des AKW Saporoschje zu schaffen. Und die dritte Richtung ziele auf Lisitschansk-Sewerodonezk ab. Sie bleibe nach wie vor eine aktuelle. Und dort würden vorerst erfolgreich Verteidigungsgefechte fortgesetzt werden. Allerdings sei die Möglichkeit von Schlägen gleich in allen drei Richtungen nicht auszuschließen. Augenscheinlich könne man sie mit Verbesserung des Wetters erwarten. Obgleich vor kurzem ukrainische Einheiten auch bei Regenwetter verlegt worden seien, konstatierte Knutow.

Nach seiner Meinung sei bereits bis Ende dieser Woche ein Beginn aktiver Handlungen zu erwarten. Die ukrainischen Streitkräfte müssten sich auf maximale Weise beeilen, da am 8. November die Wahlen zum US-Kongress anstehen. Für die Demokratische Partei sei es wichtig zu demonstrieren, dass die Ukraine dank Waffenlieferungen aus Washington neue militärische Erfolge erzielt. Wie man dort meint, werde dies ihnen helfen, weiter Stimmen zu gewinnen und die Sitze im Kongress zu bewahren, was man auch der Kiewer Führung erklärt hätte. Und daher werde von ihr ein spektakulärer Sieg gefordert, in der Art einer Einnahme von Cherson oder des AKW Saporoschje, da die erwähnten Richtungen derzeit in aller Munde seien. „Es ist klar, der Druck auf die russischen Truppen wird ein kolossaler sein. Da es Aufgabe der Ukraine ist, bis zum Monatsende zu versuchen, die Stadt zu erreichen und zu versuchen, unsere Militärs zu verdrängen. Dabei wird sich die Ukraine auf maximale Weise bemühen, Cherson zu zerstören, unter anderem um sich an dessen Einwohnern für die Teilnahme am Referendum zu rächen“, behauptete Knutow. „Daher sind die Appelle der einheimischen Offiziellen hinsichtlich einer Evakuierung gerechtfertigt. Und man muss ihnen Gehör schenken“, meinte der Analytiker.