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Furgalometrie der Wirklichkeit des Fernen Ostens


Alexander Sucharenko, unabhängiger Antikorruptionsexperte und Direktor des Zentrums zur Untersuchung neuer Herausforderungen und Bedrohungen für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation (Wladiwostok) 

Die die Öffentlichkeit des Fernen Ostens aufwühlende überraschende Festnahme des „Volks-“ oder hinsichtlich der Föderalen alternativen Gouverneurs Sergej Furgal, die Meetings mit vielen Teilnehmern nach sich zog, ist eine durchaus voraussagbare Reaktion auf das Moskauer Diktat in politischen und ökonomischen Fragen der regionalen Entwicklung und auf die unverständlichen „kremltreuen Aliens“ für Schlüsselposten. So war es bereits in den Jahren 2008, 2017 und 2018, als das  Primorje-Gebiet gegen die Einführung von Sperrzöllen für Karosserien gebrauchter ausländischer PKW (wurde im März 2018 revidiert) und deren obligatorische Ausrüstung mit dem Ortungs- und Informationssystem „ÄRA-GLONASS“ (wurde erlaubt, bis 2021 nicht zu installieren), aber auch gegen die zweifelhaften Ergebnisse des zweiten Urnengangs bei den Gouverneurswahlen, bei denen der zeitweilig Amtierende des Präsidenten den Sieg „errang“ (wurden aufgrund von Verstößen für ungültig erklärt), rebellierte. Obgleich der zweite, aber bereits ein einheimischer zeitweilig Amtierender war den Wählern ganz nach dem Geschmack.   

Im Zusammenhang mit dem nunmehrigen Skandal fallen einem die Meetings zur Unterstützung des im Sommer 2016 festgenommenen Bürgermeisters von Wladiwostok, Igor Puschkarjow, ein, der später in Moskau aufgrund von Bestechungen zu 15 Jahren strenger Lagerhaft verurteilt wurde. Das Video seiner Überstellung in die Hauptstadt hatte man ebenfalls im Fernsehen gezeigt, was nicht nur die Ernsthaftigkeit der Absichten der Rechtsschützer, sondern auch die Unabwendbarkeit der kommenden Bestrafung belegt. Recht bezeichnend war das Verhalten des Vertreters der Sondereinheiten, der Furgal am Kopf festhielt, so als würde er ihn aus den himmlischen Gouverneursgefilden auf die sündige Erde herunterholen. 

Ungeachtet der Verjährungsfristen bezüglich der dem Chabarowsker Gouverneur angelasteten Morde an Geschäftsleuten wird ihn das Gericht wohl kaum von der strafrechtlichen Verantwortung gemäß Teil 4 des Artikels 78 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation befreien. Wenn man sich auf die Gerichtspraxis hinsichtlich analoger Fälle stützt, so drohen ihm über 20 Jahre strenge Lagerhaft. Während aber der Ausgang der Strafsache von Furgal mehr oder weniger klar ist, löst der soziale Charakter der Proteste des Fernen Ostens, der zu „einer teuren Vitrine der Errungenschaften der Kreml-Wirtschaft geworden ist“, Fragen aus. Einheimische Experten sprechen von einem gewissen letzten Tropfen, der das Fass der Volksgeduld zum überlaufen brachte und eine so stürmische Reaktion der Bevölkerung auf die Verhaftung des Regionsoberhauptes nach sich zog (zuvor hatte man Chabarowsk den Hauptstadtstatus im Fernöstlichen Föderalen Bezirk und die damit verbundenen Präferenzen weggenommen). Die Einwohner von Chabarowsk sind eher nicht so sehr für eine Freilassung des Gouverneurs und „Reformers“, der den Föderalen nicht gefallen hatte, auf die Straße gegangen, als vielmehr für den unerfüllten Traum, mit seiner Hilfe ihr trostloses Leben kardinal zu verändern. 

Und hier ist, wie der Staatsduma-Ausschuss für Haushalts- und Steuerfragen das Leben der Bewohner des Fernen Ostens in seinem Gutachten zum Entwurf des föderalen Haushalts für die Jahre 2019-2021 charakterisierte: Ungeachtet der Aufstockung der Haushaltsmittel für die Realisierung des staatlichen Programms zur Entwicklung des Fernen Ostens ist die Lebenserwartung dort geringer als die durchschnittliche in Russland (72,7 und 70,1 Jahre), doppelt so hoch ist die Sterblichkeit aufgrund von Tuberkulose (6,2 und 12,4 Menschen). Und die generelle Sterberate der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt um 21 Prozent höher (473,4 und 572,3 Fälle je 100.000 Einwohner). In der Region ist der Anteil des baufälligen Wohnraums dreimal größer und macht zwei Prozent aus (der höchste Wert unter den Bezirken). Und die Kosten für Neubauten sind um 21 Prozent höher. Der Grad der Schuldenbelastung in einer Reihe von Regionen des Fernöstlichen Föderalen Bezirks übersteigt den ökonomisch sicheren. Daneben bewahrt der Ferne Osten einen geringen spezifischen Anteil an den Investitionsausgaben der aktuellen staatlichen Programme zur Entwicklung von Kultur und Tourismus (0,5 Prozent), des Gesundheitswesens (2,4 Prozent), des Bildungswesens (2,9 Prozent), des Wohnungsbaus und der kommunalen Wohnungswirtschaft (2,9 Prozent) sowie von Körperkultur und Sport (4,8 Prozent). Im Ergebnis dessen sind selbst die vorrangigen Objekte, die in die „Fernost-“ Abschnitte aufgenommen wurden, mit keiner Finanzierung abgesichert. 

Müde geworden vom endlosen Warten auf Billionen-Investitionen und die damit verbundenen hochbezahlten Arbeitsplätze sowie von den Beamten-Mantras (Territorium mit einer vorauseilenden sozial-ökonomischen Entwicklung, Freihafen Wladiwostok und Sonderverwaltungskreise) und virtuellen Vergünstigungen, versuchen die Einwohner des Fernen Ostens immer häufiger, beim Kreml Gehör zu finden. Und es gibt in der Tat etwas, worüber man sich Gedanken machen muss. Gemäß dem Rating der Regionen der Russischen Föderation fanden sich hinsichtlich der Lebensqualität im Jahr 2019 sechs der elf Subjekte des Fernöstlichen Föderalen Bezirks (FFB) unter den schlechtesten wieder, wobei sie unter dem 67. Platz lagen. Und die anderen lagen zwischen dem 30. und dem 50. Platz. Die Hauptursachen sind das geringe Niveau der sozial-ökonomischen Entwicklung, das Zurückbleiben hinsichtlich der Einkommen der Einwohner und die Arbeitslosigkeit. Es stellt sich die Frage, wohin sind die 57,8 Milliarden Rubel geflossen, die aus dem föderalen Haushalt für die Lösung der Aufgaben für eine vorauseilende Entwicklung und Anhebung der Lebensqualität der Bevölkerung des Bezirks bereitgestellt wurden?

Es entmutigen auch die Ergebnisse der Prüfungen durch den Rechnungshof Russlands: „Vor dem Hintergrund des allgemeinen Rückgangs der Ausgaben zur Unterstützung von Investitionsprojekten und zur Entwicklung der Infrastruktur der Territorien mit einer vorauseilenden Entwicklung sind die Kosten für die Unterhaltung der Beamten der Entwicklungsinstitute erheblich angestiegen. Dabei hat deren Tätigkeit die Beschleunigung der Wirtschaft der Regionen des Fernöstlichen Föderalen Bezirks nicht wesentlich beeinflusst“. Ungeachtet der erheblichen Ausgaben hat die Umsetzung des staatlichen Programms „Soziale Unterstützung der Bürger“ zu keiner Zunahme des Wohlstands der Einwohner des Fernen Ostens geführt. Und die darin festgelegten Parameter erlauben nicht, das Erreichen der gestellten Ziele weder zu überprüfen noch zu bestätigen. Der Grad der Verarmung, das heißt „der Anteil der Bevölkerung mit Einkünften unterhalb des Existenzminimums, ist in den meisten fernöstlichen Regionen höher als im Durchschnitt in Russland. Eine deutliche Überschreitung dieses Wertes ist in der Region Transbaikalien, in Jakutien und im Jüdischen Autonomen Bezirk registriert worden. Obwohl es dort entsprechende Zuschläge und Koeffizienten gibt“, erklärte der Rechnungsprüfer des Rechnungshofs Sergej Schtogrin. 

Es gibt auch ungeheuerlichere Fakten einer Beamten-Schlamperei. Entsprechend den Ergebnissen des vergangenen Jahres haben die Subjekte des FFB zwei Milliarden Rubel, die für sie aus dem föderalen Haushalt als einmaliger Zuschuss für die Errichtung, Instandsetzung und Modernisierung von Sozialobjekten (Kindergärten, Schulen, Polikliniken, Sportkomplexen und Straßen) in 57 Zentren für ein Wirtschaftswachstum (dort leben 80 Prozent der Bevölkerung der Makroregion oder 6,6 Millionen Menschen) bereitgestellt worden waren, ungenutzt gelassen. Im Ergebnis dessen wurden die Verwaltungsregionen Primorje und Chabarowsk, Sachalin, die Jüdische Autonomie und das Amur-Verwaltungsgebiet mit 105 Millionen Rubel wegen der „Verletzung der Pflichten zum Erreichen der Ergebnisse bei der Nutzung der Transfers“ bestraft. Ungeachtet dessen hat die Regierung im April den Regionen für diese Ziele aus ihren Reserven weitere 4,3 Milliarden zu den bereits vorhandenen 28,7 Milliarden zugeschoben. Und im Juni hat sie ganz und gar die Erhebung von Strafen von ihnen bis zum Jahr 2022 ausgesetzt. Zur Information: Heute hängen dem Bezirk bereits 5.800 nicht fertiggestellte Sozialobjekte mit einem Wert von insgesamt 195,5 Milliarden Rubel an. 

Und noch ein paar Worte über die unselige Personalfrage, die immer mehr die Öffentlichkeit erregt. Die Vorherrschaft unhaltbarer, aber politisch „richtiger“ Kandidaten und die Entwertung des Instituts der Wahlen, multipliziert mit der elektoralen Apathie eines signifikanten Teils der Bevölkerung und der Korruption auf vielen Ebenen – dies sind die Hauptursachen dafür, dass Führungskräfte mit einem finsteren Hintergrund in den Machtorganen auftauchen. Schließlich bleibt das Haupthindernis auf dem Wege zur ersehnten Funktion eine nichtaufgehobene (ungetilgte) Vorstrafe und nicht operative Informationen über die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Gruppierung. Freilich, solch kompromittierendes Material wird periodisch zur Diskreditierung eines für die Herrschenden missliebigen Kandidaten verwendet (mit Hilfe provokanter Flugblätter, entlarvender Artikel und Fernsehsendungen). Allerdings bleibe angeblich das letzte Wort beim Wähler, dessen bewusste Entscheidung ein Schutz der Wahlämter vor der Kriminalität sei. Und da stellt sich heraus, dass im Falle der Wahl zweifelhafter Persönlichkeiten das Elektorat selbst keinen Einwand gegen sie hat. Es existiert aber auch eine andere Theorie: Die Führungskräfte-„Schufte“, die mit der stillschweigenden Zustimmung der Herrschenden gewählt werden, seien ein bequemes Instrument für ein Manipulieren. Daher verwirre deren dunkle Vergangenheit nur wenige Menschen. Im Bedarfsfall könne man stets solch ein Oberhaupt einsperren oder aufgrund eines Vertrauensverlustes entlassen. 

Nun und zu guter Letzt, wenn man sich der zahlmäßig großen Kaderreserve der Staatsorgane (106.200 Menschen) erinnert, der Finalisten des gesamtrussischen Wettbewerbs „Russlands Spitzenkräfte“ und der Kostspieligkeit der Ausbildung in führenden Hochschulen des Landes, stellst du dir unwillkürlich die Frage: Brauchen denn die Herrschenden Profis, wenn Schlamperei und Eigennutz (den Berichten des Rechnungshofs, der Generalstaatsanwaltschaft und des Föderalen Dienstes für Finanzmonitoring nach zu urteilen) ehrenvoll sind? Vor diesem Hintergrund sieht die kriminelle Vergangenheit eines Beamten wie ein banales Missverständnis und nicht wie ein beschämender Fleck in der Biographie aus. Zumal das Niveau des sozialen Wohlergehens der Bevölkerung der Region bei weitem nicht von dieser Tatsache abhängt und die für seine Karriere bereitgestellten unglaublichen Mittel gemeinsam verschleudert werden.