Georgiens Staatsanwaltschaft hat gegen den festgenommenen Ex-Präsident Michail Saakaschwili eine neue Anklage erhoben: illegaler Grenzübertritt. Das frühere Staatsoberhaupt stimmte am 20. Tag seines Hungerstreiks dem Erhalt medikamentöser Hilfe zu, und etwas später – der Verlegung in ein Krankenhaus. Freilich bis zum Sonntagabend befand er sich noch immer im Gefängnis von Rustawi. Derweil haben die Offiziellen Georgiens einen Brief von 70 europäischen Politikern mit der Forderung, Saakaschwili freizulassen, lediglich „zur Kenntnis genommen“. Die Behörden bereiten im Vorfeld des zweiten Urnengangs der Kommunalwahlen, der für den 30. Oktober anberaumt wurde, eine Aktion vor, die vom Maßstab her das kürzliche Meeting der Opposition zur Unterstützung von Saakaschwili übertreffen soll.
Die etwas verspätete Erhebung der Anklage aufgrund des illegalen Grenzübertritts gegen Michail Saakaschwili ist scheinbar durch die Fülle von Materialien und Videoaufnahmen ausgelöst worden, die die Rechtsschützer zwecks Vermeidung der geringsten Fehler sorgfältig studieren mussten. Erst danach wurde gegen den dritten Präsidenten der Republik das Verfahren eingeleitet, in dessen Ergebnis er weitere fünf bis sechs Jahre Haft erhalten kann.
In einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft heißt es, dass am späten Abend des 28. September 2021 das Schiff „Vilnius“ im Hafen von Poti eingelaufen ist, das aus dem ukrainischen Hafen Tschernomorsk gekommen war. Von diesem Schiff fuhr bereits nach Mitternacht ein Sattelschlepper mit Milchprodukten. Beobachtungskameras hatten festgehalten, wie Saakaschwili aus dem Laderaum in die Fahrerkabine einstieg und sich neben dem Fahrer setzte. Danach hat er bereits selbst Selfies in Batumi, Kutaissi und Tbilissi gemacht und gepostet. In der Mitteilung der Staatsanwaltschaft heißt es, dass 69 Personen befragt, hunderte Aufnahmen von Beobachtungskameras gesichtet, Durchsuchungen und andere Untersuchungsarbeiten durchgeführt sowie letztlich fünf Männer, die Saakaschwili bei der illegalen Einreise nach Georgien geholfen hatten, verhaftet worden seien.
Das neue Verfahren gegen Saakaschwili ist nach der Veröffentlichung eines kollektiven Briefs von 70 Politikern eingeleitet worden. Unter ihnen sind Abgeordnete des Europaparlaments sowie ehemalige Präsidenten und Premiers europäischer Länder. In dem Appell an Tbilissi ist von der herausragenden Rolle des Ex-Präsidenten bei der Herausbildung der georgischen Staatlichkeit, der Realisierung progressiver Reformen und der Abwehr der aggressiven Politik Russlands die Rede und die faktische Forderung enthalten, ihn freizulassen, womit den europäischen Freunden Georgiens die Möglichkeit gelassen wird, dieses weiter als ein Land anzusehen, das sich entsprechend demokratischen Vorlagen entwickelt.
Etwa zur gleichen Zeit tauchte noch ein kollektiver Brief auf, in dem sechs Abgeordnete aus Ländern des Baltikums fordern, Saakaschwili freizulassen, bevor das Verdikt des georgischen Gerichts im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untersucht. Es sei daran erinnert, dass der dritte georgische Präsident eines Missbrauchs von Haushaltsmitteln, des Auftrags zum Verprügeln eines Abgeordneten des georgischen Parlaments, der Behinderung der Aufklärung des Falls der Ermordung eines jungen Mannes durch Offiziere des Innenministeriums sowie der Enteignung der Familie des Geschäftsmannes Badri Patarkatsischwili bezichtigt wird. Saakaschwili war in Abwesenheit zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden, wobei das Gericht noch nicht alle Anklagen behandelte.
Das frühere Staatsoberhaupt hält sich nicht für schuldig. Und seine westlichen Partner erklärten die gegen ihn eingeleiteten Verfahren für politisch motivierte. Bei der sich ergebenen Perspektive einer langwierigen Behandlung dieser Fälle im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und einer erzwungenen Freilassung Saakaschwili bis zur Annahme einer Entscheidung durch die europäischen Richter, mag es vorerst auch eine völlig unklare Perspektive sein, brauchten die georgischen Offiziellen offensichtlich einen einfacheren und sicheren Anlass, um ihn hinter Gittern halten zu können. Nun in der Tat, wozu sich mit der Legitimität des Schneiderns von Anzügen für den Präsidenten auf Kosten des Haushalts oder mit den unbestreitbaren Beweisen für eine Beteiligung Saakaschwilis an der Konfiszierung des TV-Senders „Imedi“ von Patarkatsischwili usw. groß den Kopf zerbrechen, wenn sie doch so auf der Hand liegt – die unbestreitbare Gesetzesverletzung in Form des illegalen Einreisens nach Georgien durch ihn, die von Videogeräten festgehalten wurde und durch eine Vielzahl von Zeugen bestätigt wird!
Dennoch haben die Offiziellen das kollektive Ersuchen der europäischen Politiker nicht unbeachtet gelassen. Premierminister Irakli Gharibaschwili erklärte in einer konfrontativen Manier, dass diese Gruppe von Abgeordneten und Ex-Beamten ihm und Georgiens nichts bedeuten würden. Mögen sie sich mit den Angelegenheiten ihrer Länder befassen und sich um sie sorgen. „Keiner kann sich der Realisierung des Gesetzes und der Gerechtigkeit widersetzen.“ Nach Aussagen Gharibaschwilis müsse Saakaschwili die Verantwortung für seine Handlungen vor dem georgischen Volk tragen.
Der EU-Botschafter in Georgien Carl Hartzell versuchte, die Situation zu beruhigen, indem er gegenüber Journalisten erklärte, dass der Brief der 70 Politiker ein Ausdruck ihrer persönlichen Meinung und nicht der europäischen Institute sei. „Das Vorgehen der EU besteht darin, dass die Frage Saakaschwilis transparent, im Rahmen der Oberhoheit des Gesetzes behandelt wird“, sagte er und erinnerte dennoch daran, dass viele der Unterzeichner des Schreibens zur Verteidigung des dritten Präsident Georgiens mehrfach in der internationalen Arena für eine Verteidigung der Interessen von Georgien an sich aufgetreten seien.
Die Schärfe der Antwort von Gharibaschwili kann durch die Nervosität ausgelöst worden sein, unter der die Herrschenden nach den Kommunalwahlen leiden. Und obgleich die regierende Partei „Georgischer Traum“ im Land über 45 Prozent der Stimmen erhielt, womit die Opposition die Möglichkeit verlor, über vorgezogene Parlamentswahlen zu sprechen (hätte die regierende Partei den Wert von 43 Prozent nicht erreicht, der durch das annullierte „Charles-Michel-Abkommen“ vorgesehen worden war, hätte die Situation freilich anders ausgesehen), finden am 30. Oktober in 20 Munizipalitäten Stichwahlen statt. Darunter in den Schlüsselstädten Tbilissi, Kutaissi, Batumi und Poti. Und es ist bei weitem keine Tatsache, dass die Partei „Georgischer Traum“ in allen 20 Kommunen einen Sieg erringen wird, wie jedoch deren Führer versprechen. Auf jeden Fall gibt es nach der Massenkundgebung der Opposition vom 14. Oktober zur Unterstützung von Saakaschwili schon nicht mehr die frühere Gewissheit hinsichtlich eines totalen Erfolgs der Herrschenden. Natürlich muss man ein völlig unerschütterlicher Anhänger des Ex-Präsidenten und seiner „Nationalen Bewegung“ sein, um von mehreren Zehntausenden Teilnehmern jenes Meetings zu sprechen. Solch eine Menge von Menschen passt einfach nicht auf den Platz der Freiheit in Tbilissi und den angrenzenden Straßen. Doch ist es wohl auch unklug, die Zahl bis auf „ein paar Tausend“ zu reduzieren.
Heute hate die regierende Partei „Georgischer Traum“ die Vorbereitung ihrer analogen Aktion begonnen. In Tbilissi sollen ihre hauptstädtischen und regionalen Anhänger zusammenkommen. Oder anders gesagt, die Gegner der „Nationalen Bewegung“. Dies ist bei der heutigen Polarisierung vom Wesen her ein und dasselbe. Und wie mit Bitterkeit in der Gesellschaft gesagt wird, muss erneut zwischen dem Schlechten und dem Schlechtesten ausgewählt werden. Die Partei „Georgischer Traum“ muss die „Nationale Bewegung“ hinsichtlich des Massencharakters ihrer Aktion übertreffen, und dies spürbar, damit hinsichtlich der Ergebnisse des zweiten Urnengangs keine besonderen Zweifel aufkommen. Obgleich, wie der Vorsitzende des „Georgischen Traums“ Irakli Kobachidse sagte, dies „nur eine Aktion zur Mobilisierung unserer Anhänger vor den Wahlen und nicht mehr ist“.
Die „Nationale Bewegung“ hat ihre Aktionen auf eine andere Ebene verlegt. Der Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von Tbilissi Nika Melia hat die Zusammensetzung der Stadtregierung im Falle seines Sieges bekanntgegeben. Praktisch ist nicht eine der bemerkbaren oppositionellen Parteien leer ausgegangen. Alle werden in der hauptstädtischen Führung vertreten sein und gar vier Vizebürgermeisterposten erhalten. Der Schachzug ist klar. Es geht darum, beim zweiten Urnengang ein Maximum der Stimmen des gesamten oppositionellen Teils des Landes zu bekommen, der so zersplittert ist, dass es die meisten Parteien abgelehnt hatten, an dem erwähnten Meeting für eine Freilassung Saakaschwilis teilzunehmen.
Der berühmte Gefangene an sich hat angesichts des durch den Hungerstreik verschlechterten Zustands einer Einweisung in ein Krankenhaus zugestimmt, die jedoch bisher nicht erfolgte. Er erklärte aber, dass er seine Aktion nicht beenden werde, zumal er der Auffassung ist, dass sein Tod helfen werde, Georgien von düsteren Kräften zu befreien. Er hat scheinbar den Annäherungsversuch mit der Georgischen orthodoxen Kirche beendet und den Versuch aufgegeben, mit für ihn wesensfremden Erklärungen sich ihrer Unterstützung zu versichern. Mehrere Geistliche hatten zwar Sympathien für Saakaschwili bekundet, doch die gesamte Führungsriege der Georgischen orthodoxen Kirche hat sich sogar gegen seine Freilassung ausgesprochen.