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Gergijew hat den Prozess einer künstlerischen Diffusion gestartet


Im Moskauer Bolschoi-Theater hat eine inoffizielle Amtseinführung des Generaldirektors stattgefunden. Es ereignete sich das, auf das man so lange gewartet hatte: Valerij Gergijew dirigierte das Orchester des berühmten Hauses. Das Ereignis wurde gleich 5mal zelebriert. Valerij Abissalowitsch (Vatername von Gergijew – Anmerkung der Redaktion) duldet keine halbherzigen Maßnahmen. Fünf Abende in Folge wurde auf der historischen Bühne die Oper „Chowantschtschina“ von Modest Mussorgskij zur Aufführung gebracht. Es sei angemerkt, dass die Opernaufführungen um Mitternacht endeten. Und während die Solisten wechselten, so traf dies nicht für den Dirigenten zu. Dies ist eine kolossale Belastung!

Valerij Abissalowitsch steht zu seinem Wort. Am 1. Dezember, als man ihn der Truppe vorstellte, sagte er, dass er als erstes im Bolschoi „Chowanschtschina“ auf die Bühnenbretter bringen werde. Und sein Versprechen erfüllte er bereits in diesem Monat. Freilich kann dies doch nur bedingt als eine neue Inszenierung bezeichnen. Das Mariinskij-Theater kam mit seiner Arbeit (Mitte vergangenen Jahrhunderts hatten die Stars des Bolschois – der Regisseur Leonid Baratow und der Bühnenbildner Fjodor Fjodorowskij – die Oper inszeniert) und seinen Solisten. Und in Moskau erfolgten die Aufführungen mit dem Chor und dem Orchester des Bolschois.

Gleichzeitig damit begab sich eine andere Arbeit von Baratow und Fjodorowskij, „Boris Godunw“ von Mussorgskij, zum Mariinskij, eine Perle, die vom Bolschoi-Theater rund 80 Jahre sorgsam bewahrt wird. In der Rolle von Boris trat Ildar Abdrasakow (ein weltbekannter Bass und Solist des Mariinskij-Theaters) auf, ebenso Solisten des Bolschois, und das Orchester und den Chor stellte das Mariinskij-Theater.

Gergijew hat bereits eine gemeinsame Reise der Theater nach Tichwin, in die Heimat von Nikolaj Rimski-Korsakow, einem der bedeutendsten russischen Komponisten (wie auch Mussorgskij, angekündigt. Dem 180. Geburtstag von Rimski-Korsakow waren auch die ersten gegenseitigen Gastspiele der Theater gewidmet, als das Bolschoi die „Zarenbraut“ nach Petersburg brachte und das Mariinskij-Theater drei Opern – „Die Pskowerin“, „Die Nacht vor Weihnachten“ und „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und von der Jungfrau Fewronija“ – nach Moskau.

Somit zeichnet sich ein Vektor ab, dementsprechend sich das Bolschoi-Theater nach Auffassung von Gergijew entwickeln soll. Erinnert sei daran, dass der Dirigent zum Zeitpunkt seines Amtsantritts im Theater kein Programm als ein solches gehabt hatte. Vor kurzem trat der Maestro mit einer ausschweifenden Rede auf, in der er vor allem die Repertoire-Lücken des Bolschois hervorhob – mitunter berechtigt, manchmal aber nicht ganz. „Pique Dame“ wurde beispielsweise tatsächlich recht oft im Bolschoi gezeigt. Ja, und „Eugen Onegin“ stand nur deshalb nicht auf dem Spielplan, weil eine Neuinszenierung der Oper (innerhalb der letzten zehn Jahre bereits die dritte) vorbereitet wurde. Was aber die Gastspiele russischer Theater im Bolschoi angeht, so weiß der Maestro möglicherweise nicht um das Festival „Musik sehen“, in dessen Rahmen regelmäßig Aufführungen von Musiktheatern Russlands nach Moskau gebracht werden. Gezeigt werden sie dabei unter anderem auf allen Bühnen des Bolschois.

Wahrscheinlich sieht Valerij Gergijew die Entwicklung beider Theater in einer gegenseitigen Integration ihrer Ensembles und der Repertoires. In der gleichen (bereits erwähnten) Rede versprach er, dass man die letzten Premieren des Mariinskij-Theaters („Die Puritaner“ von V. Bellini und „Die Hugenotten“ von G. Meyerbeer) in dieser Spielzeit nach Moskau bringen könne. Mehr noch, es wird gesagt, dass man schon für das Oster-Festival die Musiker beider Theater vereinen werde.

Als die Wiedergeburt der Direktion der kaiserlichen Theater diskutiert wurde, sagten Experten, dass es recht schwierig werde, juristisch solch einen Prozess zu organisieren. Wie aber die ersten zwei Monate der Tätigkeit zeigten, braucht Valerij Gergijew dies auch nicht. Er gestaltet die künstlerischen Prozesse so, dass bereits eine künstlerische Diffusion begonnen hat. Und sie wird fortgesetzt werden. Einige hatten dies auch befürchtet, wobei sie annahmen, dass im Ergebnis dessen die Individualität des Bolschois allmählich verblassen werde. Natürlich, zu Zeiten der kaiserlichen Theater war dies alles ebenfalls so gewesen: Eine Inszenierung konnte nach der Premiere in Petersburg nach Moskau gebracht werden. Wird aber diese Rückwärtsbewegung eine Vorwärtsentwicklung bewirken? In den vergangenen 100 Jahren hat sich in jedem der Theater eine eigene Biografie entwickelt – eine gleichermaßen glänzende, aber dennoch eigenständige. Eine Aufgabe dieser Traditionen zugunsten einer Vereinigung der Repertoires und der Ensembles kann zu einem gewissen Ausradieren der Geschichte des Bolschois führen.

  1. Dennoch muss wohl doch der Sommer abgewartet werden, wenn Gergijew Pläne für die kommende Spielzeit bekanntgeben wird.