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Im Donbass wird es bald keine ukrainischen Staatsbürger mehr geben


Der Sekretär des ukrainischen Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung Alexej Danilow hat erklärt, dass die Einwohner der nichtkontrollierten Gebiete im Donbass rund 630.000 Pässe der Russischen Föderation erhalten hätten. In Kiew ist man davon überzeugt, dass die Aktivierung des Prozesses der vereinfachten Gewährung der russischen Staatsbürgerschaft mit den Septemberwahlen zur Staatsduma, dem Unterhaus des russischen Parlaments, zusammenhängt. Die ukrainische Seite sieht aber auch ernsthaftere Gefahren im Zusammenhang mit der Vergabe der Pässe.

Sergej Garmasch, Mitglied der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen, erklärte jüngst laut einer Meldung der Nachrichtenagentur „Ukrinform“, dass in mehreren Jahren auf dem Territorium, das derzeit durch die nichtanerkannten Republiken DVR und LVR kontrolliert wird, keine ukrainischen Staatsbürger mehr übrigbleiben könnten. „Laut meinen Informationen wird bis zum Jahr 2025 die Aufgabe gestellt, dass es dort keine mehr geben wird, die ukrainische Pässe haben werden… Die Russische Föderation isoliert zielgerichtet diese Territorien von der Ukraine“. Er erläuterte, dass die Bürger, die einen russischen Pass erhalten hätten, nicht ungehindert auf das ukrainische Territorium über die Kontroll- und Passierpunkte an der Trennungslinie gelangen könnten. Sie würden gleichfalls die Rechte verlieren, die die Ukraine ihren Bürgern garantiere.

Darauf hat der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung Alexej Danilow die Aufmerksamkeit in einem Interview für den Fernsehsender „Ukraine 24“ gelenkt. „Faktisch ist dies ein Ghetto, denn sie haben es abgeriegelt, auf der einen Seite ist eine Grenze und auf der anderen Seite ist eine Grenze…“ In Russland hatte man früher der Ukraine Vorwürfe gemacht. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa erklärte, als sie über die Ausstattung von Einwohnern des Donbass mit russischen Pässen sprach: „Die humanitäre Geste Russlands ist eine direkte Konsequenz der Nichterfüllung der eigenen Pflichten hinsichtlich der Minsker Abkommen durch die Ukraine. Mehr noch, sie entspricht vollkommen der internationalen Praxis. Bekanntlich stellen Polen, Ungarn und Rumänien ihre Pässe in großen Mengen Einwohnern der Ukraine aus“.

Laut Verfassung erkennt die Ukraine keine doppelte Staatsbürgerschaft an. Obgleich diese Frage viele Streitigkeiten auslöst. Doch in der Gesetzgebung ist keine Bestrafung für den Erhalt eines zweiten Passes vorgesehen. Der Gründer der Organisation „Östliche Menschenrechtsgruppe“ Pawel Lisjanskij erklärte in einem Interview für den TV-Kanal „Dom“ („Das Haus“), dass es für die Werchowna Rada (das ukrainische Parlament – Anmerkung der Redaktion) an der Zeit sei, sich über die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortung für den Erhalt eines russischen Passes Gedanken zu machen. „In der Ukraine gibt es viele Menschen, die Pässe verschiedener Länder haben. Warum muss man gerade aufgrund eines russischen Passes eine strafrechtliche Haftung anwenden? Alles ist sehr einfach: Weil die Russische Föderation ein Aggressor-Land in Bezug auf die Ukraine ist, weil die Russische Föderation bereits im Verlauf von sieben Jahren versucht, die Situation zu destabilisieren. Sie strebt an, dass die Ukraine nicht existiert“. Lisjanskij ist davon überzeugt, dass es nicht bei der Ausgabe von Pässen im Donbass bleiben werde. Die russische Staatsbürgerschaft könnten auch Einwohner anderer Regionen der Ukraine erhalten. „Die Ausstattung mit Pässen ist ein Instrument einer politischen Okkupation durch Russland. Wenn sie in einzelnen Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk – grob gesagt – eine Million Menschen mit Pässen ausstatten, werden sie danach Truppen einrücken lassen und sagen, dass sie ihre Bürger schützen würden“.

In Kiew sind schon lange Befürchtungen hinsichtlich eines Einmarschs russischer Friedenstruppen unter dem Vorwand eines Schutzes der Bürger der Russischen Föderation auf dem ukrainischen Territorium zu vernehmen. Dieses Thema wurde im Jahr 2019 aktiv diskutiert, als Russland ein vereinfachtes Prozedere für die Gewährung ihrer Staatsbürgerschaft für Bewohner einzelner Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk einführte. Besondere Aufmerksamkeit hat die im Frühjahr abgegebene Erklärung des stellvertretenden Leiters der russischen Präsidialadministration Dmitrij Kosak ausgelöst, wonach die Handlungen Russlands von der Entwicklung der Situation abhängen würden. „Wenn dort, wie unser Präsident sagt, ein Srebrenica veranstaltet wird, werden wir augenscheinlich gezwungen sein, zu einer Verteidigung überzugehen“.

Die erwähnte Erklärung des russischen Staatsoberhauptes Wladimir Putin erklang im Herbst 2017 das erste Mal, als die ukrainische Seite hart darauf zu bestehen begann, dass die Grenze zur Russischen Föderation entlang der Linie des Donbass unter ihre Kontrolle gestellt werde, bevor in den nichtkontrollierten Gebieten Wahlen zu den örtlichen Machtorganen angesetzt werden. Der russische Präsident erwiderte, dass nur nach Erfüllung der Punkte der Minsker Vereinbarungen, die die politische Konfliktregelung betreffen, die Frage nach einer Schließung der Grenze erörtert werden könne. Andernfalls „wird die Schließung der Grenze zwischen Russland und den nichtanerkannten Republiken zu einer Situation wie in Srebrenica führen. Dort wird einfach ein Blutbad angerichtet“. Ende 2019 betonte der russische Staatschef, dass Kiew weiter auf eine Schließung der Grenze zwischen den nichtkontrollierten Donbass-Gebieten und der Russischen Föderation bestehe. „Ich stelle mir vor, was weiter anfangen wird. Es wird ein Srebrenica geben. Ja, und das war es dann“.

Russland schließt nicht nur nicht die Grenze, sondern stellt Einwohnern des Donbass Pässe aus. Im Frühjahr dieses Jahres teilte das Pressezentrum des russischen Innenministeriums der staatlichen Nachrichtenagentur TASS mit: „Seit Beginn der Umsetzung des Erlasses des Präsidenten der Russischen Föderation vom 24. April 2019 … haben die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation über 527.000 Personen erhalten, die ständig auf den Territorien einzelner Gebiete der Verwaltungsregionen Donezk und Lugansk der Ukraine leben“. Rund 2.000 Menschen wurde die Ausstellung eines russischen Passes verweigert. In Kiew ist man der Auffassung, dass das Tempo der Ausstattung mit russischen Pässen mit jedem Monat zunehme. Und in Verbindung gebracht wird dies mit den anstehenden Wahlen zur Staatsduma der Russischen Föderation. Nunmehr spricht der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung von 630.000 Pässen. Vor anderthalb Monaten sprach die Menschenrechtsbeauftragte der Werchowna Rada Ludmilla Denisowa von etwa 580.000. Nach ihren Worten würden die Donbass-Einwohner die russische Staatsbürgerschaft annehmen, „damit die Möglichkeit besteht, irgendwelche zusätzlichen Zahlungen zu bekommen, um sich medizinisch behandeln zu lassen… Dies betrifft noch jene Menschen, die als Lehrer und Ärzte arbeiten. Wenn sie solche Pässe nicht bekommen, verlieren sie ganz und gar die Arbeit. Daher nehmen sie diese Pässe, um zu überleben“.

Das Oberhaupt der „Donezker Volksrepublik“ (DVR) Denis Pischulin hatte früher einheimischen Journalisten gesagt, dass die Einwohner der nichtanerkannten Republik die russische Staatsbürgerschaft erhalten würden, da „sie an der Gestaltung der Zukunft Russlands beteiligt sein wollen und mit voller Verantwortung an diese Frage herangehen“. Nach seinen Worten könnten sie an den russischen Parlamentswahlen im September teilnehmen. Es ist bekannt, dass es auf dem Territorium der DVR und LVR keine Wahllokale geben wird. „Es gibt zwei mögliche Varianten. Eine Einreise in die Russische Föderation oder eine elektronische Abstimmung“, sagte Pischulin.

In der Ukraine steht man äußerst negativ dem gegenüber, dass Einwohner des Donbass bei den Staatsduma-Wahlen abstimmen werden können. Zuvor hatte der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums Oleg Nikolenko gegenüber der Agentur „RBC-Ukraine“ gesagt: „Die Absichten, eine Abstimmung von Einwohner der zeitweilig okkupierten Gebiete des Donbass bei den Wahlen zur Staatsduma der Russischen Föderation zu sichern, ist ein erneuter Versuch, die staatliche Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu verletzen“. Er betonte, dass, wenn Einwohner des Donbass und der Krim an der Abstimmung teilnehmen, „damit die Legitimität der Wahlen in Zweifel gestellt wird. Und die Ergebnisse solch einer „Abstimmung“ werden weder durch die Ukraine noch durch die internationale Staatengemeinschaft anerkannt“.

Die ukrainische Seite kann aber nicht die Ausstellung russischer Pässe beeinflussen. Außenminister Dmitrij Kuleba betonte in einem Interview für Radio Liberty: „Wir haben physisch sehr wenig Möglichkeiten, um die Vergabe der Pässe auf den okkupierten Donbass-Territorien zu beeinflussen. Aber ein harter Sanktionsdruck als Antwort auf solche Handlungen Russlands würde den Prozess ausbremsen. Da es keinen solchen Druck gab, es gab nur Worte, hat Russland dort im Fließbandverfahren eine Vergabe von Pässen begonnen“. Der Minister tadelte den Westen: „Dies ist ein großer Fehler unserer Freunde und Partner, dass sie von Anfang an unzureichend hart auf den Beginn der Pass-Ausstellung reagierten… Das heißt, sich nicht recht ernsthaft demgegenüber verhielten. Russland spürte, dass man könne, und hat diesen Prozess in Gang gesetzt“.