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Im Herzen der Stadt, auf der Kant-Insel


Kaliningrad, wo jüngst ein internationaler Organisten-Wettbewerb stattgefunden hat, wird seit den letzten Jahren unweigerlich nicht nur mit der Kant-Insel, dem sich dort befindlichen Dom und dem Geburtsort von E. T. A. Hoffmann in Verbindung gebracht, sondern auch mit der größten Orgel in Russland.

Für die Bürger Russlands, die oft in Deutschland und Polen weilten, aber die es das erste Mal nach Kaliningrad verschlagen hat, erinnert die Stadt von ihrer Architektur her gleich an beide Länder. Wenn du von der Insel Kants nach links gehst, erblickst du das Gebäude des Gebietsmuseums der Schönen Künste, das in den Mauern der einstigen Königsberger (Neuen) Börse, die 1875 nach einem Entwurf des deutschen Architekten Heinrich Müller erbaut worden war, eine Heimstatt gefunden hat. Seine Fassaden lassen an eines der Gebäude der berühmten Berliner Museumsinsel erinnern. Brichst du aber auf, einen Spaziergang entlang den Fortifikationsbauten aus roten Ziegelsteinen in der einstigen Litauischen Wallstraße zu unternehmen, beginnst du unwillkürlich diese Stadt mit der Atmosphäre irgendeiner italienischen Schwester zu vergleichen, besonders wenn man näher zum Bernstein-Museum kommt, das der Engelsburg in Rom (Castel Sant’Angelo) unwahrscheinlich ähnlich ist.

Der „Mehrkanal“-Klang der Orgel scheint in Kaliningrad jede Minute präsent zu sein, wobei er nonverbal den Raum strukturiert und natürlich mit den historischen Mauern harmoniert. Diese Mauern unterstützen hartnäckig und nicht ohne einen neckenden Eifer und ein Herausgeputztsein (entgegen der gesichtslosen grauen Architektur der Sowjetzeit, die nicht wenige wirkungsvolle landschaftliche Punkte im Stadtzentrum verschandelte) das Image dieser Stadt, die mit einem westeuropäischen kulturellen Kontext eng verbunden ist. Noch vor kurzer Zeit schwieg die Orgel des Doms, die heute das größte derartige Musikinstrument in Russland ist. Nach Aussagen der Art-Direktorin Vera Tariwerdijewa „hatte der Wettbewerb in einem gewissen Sinne den Bau dieser Orgel provoziert“.

Heute befindet sich das Instrument im Herzen der Stadt, auf der Kant-Insel, wo der weltbekannte Philosoph beigesetzt wurde, der der Welt den berühmten Ausspruch vom Sternenhimmel über uns und moralischen Gesetz in uns hinterlassen hat („Der bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ — Zitat aus dem „Beschluß“ von Immanuel Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), in dem der Philosoph die äußere erfahrbare Welt mit der inneren Natur des Menschen verbindet und im menschlichen Bewusstsein zusammenführt. – Anmerkung der Redaktion). Ausgehend von diesem Axiom wird jeder sich selbst achtende Tourist, ja und auch ausgelassene Mensch, den es einfach an die Mauern des majestätischen Gotteshauses verschlagen hat, doch ins Innere schauen, nachdem er vorab irgendeine einheimische Spezialität verzehrt hat.

So war es auch beim Organisten-Wettbewerb, der im Verlauf aller drei Durchgänge für ein öffentliches Anhören ein offener gewesen war. In Kaliningrad fanden das Halbfinale und das Finale statt. Die Anhörungen des ersten Durchgangs erfolgten in Hamburg und in Lawrence, im US-Bundesstaat Kansas, vom April bis einschließlich August, an denen junge Musiker aus 16 Ländern teilgenommen hatten.

Die Orgel in einem üppigen Barock-Design ist wie ein Phoenix aus der Asche auferstanden. Schließlich fristete noch in den 1990er Jahren der Dom an sich, der in der Festung Königsberg 1333 errichtet worden war, das erbärmliche Dasein eines Objekts, das in Ruinen lag. Er war 1944 nach einem Bombardement der British Royal Air Force fast vollkommen ausgebrannt. Heute stellt die Architektur der Orgel einen erstarrten Triumph im Himmel mit geschäftlich auf unterschiedlichen Instrumenten spielenden grazilen Musen dar, wobei sie jeglichen Eintretenden buchstäblich in ihr ewiges himmlisches Theater einlädt. Die ideale Akustik erlaubt den Stimmen dieses Instruments, in gleicher Weise vorteilhaft in den Sprachen der unterschiedlichen Epochen und Stile zu erklingen.

Es hatte keinerlei biografische Verbindung des Komponisten Mikael Tariwerdijew mit Kaliningrad gegeben. Die Witwe Vera Tariwerdijewa spricht mit einer entwaffnenden Einfachheit darüber, dass sie selbst beschlossen hatte, dass der nach ihm benannte Wettbewerb in dieser schönen Stadt ausgetragen wird. Aber sobald man sich des Meeres-Themas im Spielfilm „Auf Wiedersehen, Jungs“ (sowjetischer Spielfilm von 1966) erinnert, wird diese unsichtbare Bande des Komponisten mit dem Ort auf fantastische Weise offensichtlich. Und diese Stadt ist die einzig mögliche für die Durchführung eines derartigen Wettbewerbs. Das Motiv der Wellen, der Freiheit und des Meeres findet ideale Kontrapunkte in den wie das Leben der Seele launischen Melodien des Autors der Musik zum Film „Ironie des Schicksals“ (1975). Ja, und auch die Wärme des Ostseebernsteins harmoniert so sehr mit seiner Musik!

Vera bezeichnet Mikael Tariwerdijew nicht ohne Grund als einen „Barock-Komponisten“. „Herausgebracht wurde ein ganzer Band Orgelmusik, in dem drei Konzerte, eine Sinfonie für Orgel und zehn Orgel-Präludien enthalten sind. Die Barock-Prinzipien sind in seinem Stil markant vorgestellt worden, in seiner Persönlichkeit, was auch im Hang zur Improvisation zu spüren ist, in den strukturellen Prinzipien der Formgebung“.

In der Sinfonie „Tschernobyl“ offenbart sich dies in beiden Teilen. Tariwerdijew hatte als erster im Kino 1961 in dem Spielfilm „Der Sonne nach“ ein Solo-Cembalo eingesetzt. Die Neigung für diese Instrumente bestand bei Mikael Leonowitsch (Tariwerdijew) seit dem Jugendalter. Er hatte am Moskauer-Gnessin-Institut bei Aram Chatschaturjan, in dessen Unterrichtsraum es eine Orgel gab, studiert. Er war Student des ersten Studienganges an ihr gewesen. In „Tschernobyl“ ist markant der Dialog des Komponisten mit Bach beim Begreifen der tragischen Fehler der blinden Menschheit zu vernehmen. Der Tonschöpfer hat die Erinnerungen an die Reise nicht nur in Worten im Memoirenband „Ich lebe einfach“ hinterlassen, sondern auch weitaus wichtigere in der Musik. Einer der Teile der Sinfonie heißt „Die Zone“, der andere – „Quo vadis“ oder „Wohin gehen wir“. Tariwerdijew selbst hatte sich an „Stalker“ von (Andrej) Tarkowskij (Spielfilm aus dem Jahre 1979 nach einem Abschnitt aus „Picknick am Wegesrand“ der Brüder Strugazki und nach ihrem von dem Roman abgeleiteten Drehbuch „Die Wunschmaschine“ – Anmerkung der Redaktion) erinnert, als er frappiert von der Prophezeiung des Filmregisseurs am Ort der Katastrophe weilte.

Es war faszinierend zu hören, wie auf unterschiedliche Weise die jungen Orgelspieler und Wettbewerbsteilnehmer diese Empfindungen in ihrem Spielen zu interpretieren vermochten. Der eine gab sich dem Willen der Emotionen hin (in der Regel waren dies die jungen Männer). Ein anderer entrückte, wobei er eine Distanz schuf und dadurch sehr stark gewann. Zu einer der ausdruckstärksten Interpretationen wurde der Auftritt der 25jährigen Amerikanerin Carolyn Craig, die durch die Benommenheit und Erstarrung der reliefartigen Posten und Fakturen fesselte und an die (Figuren-) Komposition „Die Bürger von Calais“ von (Auguste) Rodin mit ihrer dem Tode geweihten Prozession ins Unbekannte erinnerte. Die Russin Jelisaweta Borodajewa fand in ihrer strengen und groß angelegten Interpretation eine Balance zwischen der unweigerlichen russischen Sensibilität und der europäischen Sichtweise von der Seite her. Und sie sammelte damit Sonderpreise ein, hauptsächlich in Gestalt von Einladungen zu Solokonzerten nach Riga, Hamburg und Moskau. An sie ging gleichfalls die Figur eines „Bernsteinengels“.

Der Auftritt eines jeden Finalisten verblüffte bei weitem nicht durch die jugendliche Reife. Die Fähigkeit, den gigantischen Orgel-Mechanismus in Bewegung zu bringen, machte die jungen Musiker zu Verwandten von Demiurgen, die sie im Grunde genommen in jenem Moment auch gewesen waren. Schaut man sich die Ergebnisse des XII. Internationalen Tariwerdijew-Wettbewerbs an, bei dem zu Finalisten drei Amerikaner, zwei Vertreter Russlands und eine Südkoreanerin geworden waren (und die im Offline-Regime eine angesehene repräsentative internationale Jury unter Leitung des Vorsitzenden Winfried Bönig aus Köln), wird klar, was für eine kolossale diplomatische und humanitäre Rolle dieser Wettbewerb spielt, der auffordert, sowohl den Sternenhimmel als auch die moralischen Gesetze zu bewahren.