Die Kandidaten für die Auszeichnungen der Spielzeit 2021/22 wurden nicht bekanntgegeben, sondern auf der Internetseite der russischen nationale Theaterauszeichnung „Goldene Maske“ veröffentlicht. Zur bemerkenswertesten Entscheidung der Experten wurde, dass im Wettbewerb der Schauspieltheater zwei der wichtigsten Nominierungen herausgefallen sind. In der Kategorie „Drama / Regiearbeit“ „werden auf Entscheidung des Stifters der Auszeichnung des Verbands der Theaterschaffenden keine Kandidaten nominiert. Und Kandidaten in der Kategorie „Drama / Arbeit eines Dramaturgen“ „sind angesichts des Fehlens eines Wettbewerbs nicht benannt worden“. Formell besteht die Ursache darin, dass im es im Hauptwettbewerb keine Inszenierungen zu zeitgenössischen Stücken gegeben habe.
Jedoch haben beide beispiellosen Entscheidungen, die angesichts des Drucks des Stifters und des Kulturministeriums in der sich herausgebildeten Situation zu erwarten waren, die russische Theatergemeinschaft erschüttert und erneut gespalten. Zumal die Idee, in dieser Saison das Festival der besten Inszenierungen ohne einen Wettbewerb durchzuführen, keine Unterstützung gefunden hatte. Ein Teil verurteilte solch einen Kompromiss scharf, da so auch der professionelle Beitrag der Regisseure an sich „gecancelt“ werde. Und vom Wesen her würden die Menschen, die hinter der Gestaltung konkreter Inszenierungen stehen, unter den Tisch fallen. (Und zur Praxis der russischen Theater werden bereits Programmhefte und Theaterplakate mit anonymen Autoren.) Aber gerade im Interesse einer Bewahrung der Werke an sich sei, wie der andere Teil der Theaterschaffenden überzeugt ist, dieses „Opfer“ dargebracht worden.
Im Wettbewerb sind somit Inszenierungen inoffiziell verbotener Regisseure und Dramatiker vertreten, deren Namen jetzt nicht offen genannt werden: die Moskauer Inszenierungen „Krieg und Frieden“ von Rimas Tuminas (Wachtangow-Theater), „Kostik“ von Dmitrij Krymow (Puschkin-Theater) und „R“ des Theaters „Satirikon“, aus dessen Spielplan der Name des Autors der Inszenierung – Michail Durnenkow – entfernt wurde; die Petersburger Aufführung „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ nach dem gleichnamigen Roman von Laurence Sterne im Lensowjet-Theater in einer Inszenierung von Boris Pawlowitsch (im Wettbewerb in der Kategorie „Experiment“ ist auch einer der Teile seines performativen „Pilzsucher-Projekts“ „Der Wald“) und die Nowosibirsker Arbeit „Die Wildente“ von Timofej Kuljabin im Theater „Rote Fackel“.
Für die „Große Form“ im „Schauspiel“ ist auch die Aufführung von Andrej Mogutschij mit Nina Usatowaja in der Hauptrolle – „Ein Mutterherz“ nach Wassilij Schukschin im Petersburger Großen Towstonogow-Schauspieltheater – nominiert worden. Diese Inszenierung wurde zusammen mit der Moskauer Inszenierung „Krieg und Frieden“ Spitzenreiter hinsichtlich der Anzahl einzelner Nominierungen – für Schauspieler und Gestalter. Für den Regisseur Pjotr Schereschewskij hat sich die Spielzeit als eine fruchtbare erweisen. Nominiert wurden drei seiner Arbeiten („Macbeth“ im Nowokusnezker Theater, „Maria Stuart“ des Moskauer Theaters für den jungen Zuschauer und „Atilla“ des „Tschechow-Zentrums“ aus Juschno-Sachalinsk). Bereichert wird die Liste durch die Regie-Debütanten Anton Fjodorow („Morphium“ nach Bulgakow im Pskower Dramentheater; seine Nominierung kommt auch in der „Kleinen Form“ für „Das Kind“ des Kammertheaters Woronesch vor) und Roman Gabria für „Karenina, A.“ des Großen Schauspieltheaters von Tjumen.
In der „Kleinen Form“ hat Moskau zwei Positionen eingenommen, beide durch unabhängige Theater – „Shoot / Get Treasure / Repaet“ der Brusnikin-Werkstatt und „Das Kapital“ des Kammertheaters „Sreda 21“. Aufgetaucht sind neue „Akteure“ für die Auszeichnung – das Irkutsker unabhängige Theater „Neues Drama“ und das munizipale Jugend-Studiotheater „Dominante“ aus der Verwaltungsregion Perm. Von den Theatern mit einem bereits bestehenden großen Ruf sind „Anna Karenina“ des Nowosibirsker Theaters „Das alte Haus“, in der die Handlung vollkommen in die Gegenwart verlegt wurde, und „Serotonin“ des Petersburger Theaters „Komödianten-Zufluchtsort“ nominiert worden – beide in einer Inszenierung von Andrej Prikotenko.
In der Situation eines Wegstreichens von Namen und Stücken (beispielsweise wurden für den jetzigen Wettbewerb die Premieren zu Stücken von Iwan Wyrypajew nicht berücksichtigt, da man sie ab dem Frühjahr aus den Repertoires genommen hatte), ja und auch ganzer Theater erlangt die Long-List eine besondere Bedeutung. In ihr sind Aufführungen ausgewiesen worden, von denen man sich einige schon nicht mehr ansehen kann – zum Beispiel „Ich nehme nicht am Krieg teil“ des Gogol-Zentrums, „Decamerone“ von Kirill Serebrennikow in einer Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin und „Russischer Tod“ von Dmitrij Wolkostrelow im Meyerhold-Zentrum. Hervorgehoben wurden aber auch zwei Inszenierung entsprechend dem Stück „Häufchen“ des Dramatikers Alexej Schikowskij, der vom Zentrum „E (xtremismus“ des russischen Innenministeriums verfolgt wird.
Im Wettbewerb der Kategorie „Experiment“ repräsentieren die Nominierten zahlreiche Regionen und Theater, von Tjumen bis Tula, vom Binären Biotheater bis zum Labor für moderne Kunst. In der Sparte „Puppentheater“ dominieren traditionell neben der Hauptstadt Jekaterinburg und Petrosawodsk. Nominiert wurde aber auch das Puppentheater von Barnaul. Um den Titel „Beste Inszenierung eines Puppentheaters“ wird auch die Inszenierung „Ich – Sergej Obraszow“ mit Jewgenij Zyganow in der Hauptrolle ringen, die an der Schnittstelle von Schauspiel- und Puppentheater auf die Bühne gebracht wurde.
Bei der Vorstellung der Ergebnisse der Experten-Arbeit in Bezug auf das Musiktheater lohnt es sich, einige Momente hervorzuheben. Die Spielzeit wäre zweifellos eine beeindruckendere gewesen, wenn nicht die „Kunst der Fuge“ und „Chowanschtschina“ im Bolschoi-Theater und der Abend moderner Choreografie im Stanislawskij- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater abgesetzt worden wären. Ja, und auch die heutigen Umstände wirkten sich in der Liste der Finalisten aus: Einzelne Theater haben Bewerbungen zurückgezogen, mehrere Künstler haben gekündigt und nehmen nicht mehr an der Aufführung von Inszenierungen teil, was nicht erlaubt, die Nominierungen entsprechend der für die „Goldene Maske“ geltenden Bestimmung über den Expertenrat zu diskutieren.
Herausgekommen ist eine kompakte, insgesamt aber repräsentative Short-List. Geografisch hebt sich wohl Petrosawodsk ab (die Oper „Der Bajazzo“ in einer Inszenierung von Anna Osipenko), dessen Aufführungen nicht oft Nominierungen erhalten. Im Übrigen ist alles ohne Überraschungen. Der Akzent liegt auf Perm, dessen Inszenierungen in den Kategorien „Oper“ („Eugen Onegin“, „De temporum fine comoedia – Das Spiel vom Ende der Zeiten“, eine Produktion des Djagilew-Festivals) und „Musical“ („Drei Kameraden“) vorkommen, sowie auf Moskau, Petersburg, Jekaterinburg und Nowosibirsk.
Die besten Inszenierungen in der Oper reflektieren den Trend der letzten Zeit und vereinen Aufführungen der großen Form („Die tote Stadt“ in der Neuen Oper, „Aida“ in der Helikon-Oper sowie die bereits genannten „Der Bajazzo“ und „Eugen Onegin“) und experimentelle Projekte, in denen die Musik die Schlüsselrolle spielt. In gewisser ist für diese Kategorie die Inszenierung „Curiosity“ zu einer programmatischen geworden – eine Oper von Nikolaj Popow in einer Inszenierung von Alexej Smirnow. Ein Teil von ihr wurde die Diskussion „Was ist die Oper heute und wie ist sie auf die Bühnenbretter zu bringen?“. Die Fülle von Misch-, von synthetischen Formen, das untrennbar Verbundene und durch die Entwicklung des Theaters Hervorgebrachte versetzen die Experten in eine sackgassenartige Situation. Sogar die Nomination „Experiment“ wurde zu einer engen. Was soll man da erst über die konservative Aufteilung nach Oper, Ballett, moderner Tanz sowie Operette/Musical sagen!
In die Kategorie „Operette/Musical“ geraten beim Nichtvorkommen einer eigentlich klassischen Operette musikalische Inszenierungen, die von der Form her dramatische sind, aber mit einer starken musikalischen Komponente und gar beeindruckenden musikalischen Lösung aufwarten. (Vom Wesen ist solch eine die Inszenierung „Antigone“, eine „Goldene Maske-2022“ erhielt.) Zusammen mit großen und unbekannten Beispielen des westlichen Musicals („Onegin“ vom Theater an der Taganka und „Cabaret“ vom Theater der Nationen sowie „Kleine Serenade“ der Swerdlowsker Musikalischen Komödie) sind in der Short-List „Der große Gatsby“ von Wladimir Baskin im Musiktheater von Nowosibirsk, die Premiere des Musicals von Jewgenij Sagot „Drei Kameraden“ im Theater-Theater von Perm und „Der Kirschgarten“ („Unabhängiges Theaterprojekt“), das in der Technik eines Sounddramas gestaltet wurde.
Beim Ballett sind das Beispiel für eine sorgfältige Rekonstruktion des Balletts „Catarina, ou La Fille du Bandit“ (Krasnojarsk), vier Inszenierungen zeitgenössischer russischer Choreografen in dem Projekt „L.A.D.“ (Jekaterinburg), das dem Komponisten Leonid Desjatnikow gewidmet und durch seine Musik inspiriert wurde, die ausgezeichnete „Tanzmanie“ von Wjatscheslaw Samodurow (Bolschoi-Theater) und Prokofjews „Romeo und Julia“ (Stanislawskij- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater) in einer Interpretation des Regisseurs Konstantin Bogomolow.
Der moderne Tanz ist durch Arbeiten vertreten, die sich auf eine Untersuchung der expressiven Möglichkeiten der Plastik konzentrieren. Dies sind die Inszenierungen der Choreografen, die im Anziehungsfeld der „Goldene Maske“ aufgefallen sind – Xenia Michejewa, Tatjana Tschischikowa und Olga Zwetkowa. Unter den Debüts sind Olga Wassiljewa aus Petersburg („Adam und Eva“) sowie das Duett von Maria Nurijewa und Marcel Nurijew aus Kasan („DOR“).
Mit dem modernen Tanz sind Neuerungen in der Komponisten-Kategorie verbunden. Der Expertenrat erlaubte sich, die Soundtracks extra abzuklammern, die in einer improvisatorischen Manier gestaltet wurden („DOR“ und „Gesplitteter Gang“), hob aber auch die Tendenz hervor, bei der der musikalische bzw. Klangteil aufhört, ein untergeordneter in der plastischen Aufführung zu sein, sondern zu einer eigenständigen Partitur (Oleg Gudatschjow, „Ein Ort, den es noch nicht gegeben hat“; Vangelino Currentzis, „Soulwhirl“). Damit ist die Komponisten-Nominierung eine der der üppigsten der letzten Jahre, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Dies ist das virtuose Stück von Jurij Krasawin für das Festival „Tanzmanie“ sowie die große Arbeit von Pjotr Pospelow zur Verwandlung von zwei Zeilen des Violinen-Lehrers Cesare Pugni in die großangelegte dreistündige Partitur „Katharina“.
Bleibt, die Daumen zu drücken und darauf zu hoffen, dass man alle von den Experten hervorgehobenen Inszenierungen beim Festival spielen wird.