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In Kiew veröffentlichte man einen Plan B für den Donbass


Bis zum Ende der Gültigkeitsdauer des ukrainischen Gesetzes „Über die Sondermodalitäten für die örtliche Selbstverwaltung in einzelnen Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk“ sind knapp drei Wochen geblieben. Bis zum 12. Dezember muss die Werchowna Rada (das Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion) entscheiden, ob das nicht wirkende Gesetz verlängert oder ein neues verabschiedet wird, wobei die „Steinmeier-Formel“ in dieses einbezogen wird. In Kiew ist immer mehr die Rede davon, dass die im vergangenen Jahr begonnenen Verhandlungen keinen Erfolg gebracht hätten und man zum „Plan B“ übergehen müsse.

Vor kurzem sagte der in die ukrainische Delegation bei den Minsker Verhandlungen aufgenommene Berater Alexej Arestowitsch in einem Interview für den Fernsehsender „TSN“, dass die Seiten es wohl schon nicht mehr schaffen würden, einen neuen Entwurf des Gesetzes abzustimmen. Schließlich müsse man gemäß den festgelegten Regeln den Entwurf zuerst im Rahmen der Minsker Gruppe erörtern und erst dann für das Prozedere der Abstimmung in der Werchowna Rada übergeben. 

Der Beamte bekräftigte, dass die ukrainische Seite Änderungen am Gesetz über die Besonderheiten der Selbstverwaltung im Donbass vornehmen könne: „Wir können die „Steinmeier-Formel“ in das Gesetz aufnehmen, aber in solch einem Format, wie wir mit Ihnen durchgesprochen haben: mit der Grenze (mit einer Übergabe der Kontrolle der Ukraine über die Grenze mit der Russischen Föderation – „NG“), einem Abzug der bewaffneten Formationen und ausländischen Truppen (vom Territorium des Donbass – „NG“), und erst dann – Wahlen und alles andere. Damit unsere Interessen gewährleistet sind“.

Für die Klärung der Frage sind ganze vier Tage geblieben. Das Parlament wird vom 1. bis 4. Dezember im Regime von Plenartagungen arbeiten. Doch einen Entwurf für ein neues Gesetz gebe es nach Aussagen von Arestowitsch noch nicht. 

Es sei daran erinnert, dass das Gesetz über die Besonderheiten der örtlichen Selbstverwaltung de jure wirkte, aber de facto nicht angewandt wurde. Die Ukraine hatte stets die Liquidierung der Donezker und der Lugansker Volksrepublik und eine Wiedererlangung der Kontrolle über das Territorium mit Stand vor dem Krieg an die erste Stelle gesetzt, wobei sie zusagte, danach die Region mit einem besonderen Status in Form einer relativen Eigenständigkeit zu versehen. In den „Republiken“ forderte man, die DVR und LVR anzuerkennen und deren Sonderstatus in den Text der Verfassung der Ukraine aufzunehmen. Die sich gegenseitig ausschließenden Herangehensweisen hatten es nicht erlaubt, den Konflikt zu lösen. 

Im Herbst vergangenen Jahres hatt das an die Macht gekommene Team von Wladimir Selenskij einen ersten Schritt in Richtung einer Kompromisslösung unternommen. Es wurde mitgeteilt, dass Kiew die „Steinmeier-Formel“ akzeptieren könne. Dies ist ein Teil des Plans zur Konfliktregelung, dessen Autorenschaft seit dem Jahr 2016 dem einstigen bundesdeutschen Außenminister (und später Präsidenten der BRD) Frank-Walter Steinmeier zugeschrieben wird. Es ging um solch eine Abfolge der Handlungen: Die Werchowna Rada verabschiedet ein spezielles Gesetz über Regionalwahlen im Donbass, wonach die Seiten die Truppen auseinanderziehen und vollkommen das Feuer einstellen. Die Situation kontrolliert die OSZE. Für die Zeit des Wahlkampfs gewährt Kiew dem Donbass zeitweilig einen Sonderstatus. Nach Abhaltung der Wahlen und unter der Bedingung, dass die OSZE sie als den internationalen Standards entsprechende anerkennt, wird der Sonderstatus der Region in der ukrainischen Gesetzgebung für immer verankert. Und erst danach wird der Punkt der Minsker Vereinbarungen über den Abzug der Truppen vom Territorium des Donbass und über die Übergabe der Kontrolle über die Grenze durch die Ukraine. In Kiew versuchte man, den letzten Punkt anzufechten, wobei man darauf verwies, dass die Fragen hinsichtlich des Truppenabzugs und der Übergabe der Kontrolle der Grenze vor und nicht nach den Wahlen im Donbass geklärt werden müssten.

Im Jahr 2019 wurde in der Ukraine die Widerstandsbewegung gegen eine Kapitulation gebildet, die gegen eine Anwendung der „Steinmeier-Formel“ in der Gestalt auftrat, in der man sie zuvor beschrieben hatte. Die Mitglieder der Bewegung fordern von den ukrainischen Offiziellen, die Umsetzung aller Punkte der Minsker Vereinbarungen, die der Sicherheit gewidmet sind, zu gewährleisten, bevor die Realisierung der politischen Punkte beginnt. 

Über solch eine Reihenfolge, die eine Veränderung der Abfolge der Umsetzung der Punkte der Minsker Vereinbarungen bedeutet, können sich die Seiten nur im Minsker Format einigen (danach können die Pläne im Normandie-Format bestätigt werden). Arestowitsch betonte, dass die nächste Videokonferenz im Minsker Format für den 25.-26. November geplant sei. Die Teilnehmer haben eine Reihe schwieriger Fragen zu klären – über einen Austausch der festgehaltenen Personen bis zu den Neujahrsferien, über eine Minenräumung von einzelnen Gebieten und über die Eröffnung von Kontroll- und Übergangsstellen an der Trennungslinie (oder zumindest über die von der ukrainischen Seite vorgeschlagene Einrichtung „grüner Korridore“ für Rentner). Außerdem steht auf der Tagesordnung der ukrainische Entwurf einer Roadmap für die Konfliktregelung mit dem Titel „Plan für gemeinsame Schritte“. Arestowitsch sagte: „Wir schlagen in der politischen Untergruppe vor, zumindest den „Plan für gemeinsame Schritte“ zu erörtern“. 

Wenn es erneut nicht gelingt, sich über Kompromisse zu einigen, könne Kiew einen „Plan B“ in Kraft setzen, von dem man bereits beinahe ein Jahr spricht – seit dem Moment des letzten Gipfeltreffens der „Normandie-Vierer-Gruppe“ in Paris. Arestowitsch sprach das erste Mal darüber, worum es geht: „Ich spreche inoffiziell über den „Plan B“ als eine Privatperson. Er wird hinter den Kulissen diskutiert. Und das Schlüsselwort dort ist „Friedensstifter“. Er unterschiedet sich durch nichts vom Plan Petro Poroschenkos. Hinter den Kulissen kursiert nur solch eine Legende, dass man sich im Jahr 2016 beinahe über Friedensstifter geeinigt habe, aber irgendwer aus der ukrainischen Delegation habe sich quergestellt. Und der Plan für einen Einsatz von Friedenstruppe scheiterte. Wir haben jetzt eine Form gefunden, um faktisch Friedenstruppen zu stellen. Eine Aufstockung der speziellen OSZE-Beobachtermission ist ein starkes Kontrollelement“.

Im „Plan für gemeinsame Schritte“, den Anfang November der Leiter der ukrainischen Delegation, Leonid Krawtschuk, vorgestellt hatte, wird eine Aufstockung der OSZE-Mission im Donbass und deren Ausstattung mit neuen Funktionen erwähnt. Als das Team von Petro Poroschenko vor einigen Jahren die Idee einer „friedensstiftenden Mission der OSZE“ unterbreitete, machte man sich über sie lustig, da die OSZE nie Friedensoperationen durchgeführt hatte. Im vergangenen Sommer sagte Alexej Resnikow, ukrainischer Vizepremier, Minister für Frage der Reintegration der zeitweilig okkupierten Gebiete und stellvertretender Leiter der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen, bei einer politischen TV-Talkshow, dass die Idee eine Lebensberechtigung habe. „Die OSZE hat das Recht, ihre Friedenstruppen einzusetzen, obgleich sie so etwas im Leben nie getan hat. Formal und juristisch ist dies aber möglich“. 

Die Gegner Selenskijs verdächtigen die ukrainischen Offiziellen der Bereitschaft, russische Truppen in den Donbass einrücken zu lassen – unter der Ägide einer OSZE-Friedensmission. Arestowitsch wies solche Vermutungen zurück. „Dies sind die Russen, die verschiedene Versionen in Umlauf bringen, um unter dem Volk der Ukraine Panik auszulösen, das – sagen wir es einmal so – sich nicht ganz einer informationsseitigen Aggression widersetzen kann und sehr schnell auf jeglichen Verrat reagiert. Dies wird getan, um Druck auf die Bevölkerung auszuüben. Und damit die Opposition Druck auf die Delegationsmitglieder (bei den Minsker Verhandlungen – „NG“) und auf den Präsidenten der Ukraine ausübt… Ich kann Ihnen offiziell versichern, dass es in jeglicher Variante einer Friedensmission keinerlei russische Friedenstruppen geben kann. Das einzige, was möglich ist: Einige Zeit werden im Rahmen des Gemeinsamen Zentrums zur Kontrolle und Koordinierung beispielsweise gemeinsame Gruppe der OSZE von ukrainischen Offizieren und russischen Offizieren arbeiten, wie dies ab dem Jahr 2014 der Fall war“. 

Maria Solkina, politische Analytikerin der I-Kutscheriw-Stiftung „Demokratische Initiativen“, erklärte gegenüber dem Magazin „Apostroph“, dass in den letzten sechs Monaten die ukrainischen Offiziellen alternative Varianten für eine Lösung des Donbass-Problems erörtern würden. „Die Haupt- der Reservevarianten ist die Möglichkeit, die Minsker Vereinbarungen zu revidieren“. Sie erläuterte, dass es um die Reihenfolge der Umsetzung der Punkte gehe, insbesondere um die Zeiträume für die Übergabe der Kontrolle der Grenze. Aber auch darum, dass die Ukraine keinen Punkt über den Sonderstatus des Donbass in die Verfassung aufnehme. Nach Aussagen Solkinas gebe es auch zwei andere Varianten. Die eine von ihnen sei der Einsatz einer internationalen Friedensmission im Donbass unter Beteiligung von Polizeikräften. Und parallel – die Bildung einer Übergangsverwaltung, die „eine Demontage des Okkupationssystems der „Republiken“ gewährleistet und den Prozess der Reintegration der Gebiete in den politischen und Rechtsraum der Ukraine vorbereitet“. Das Problem bestehe darin, dass man in der DVR und LVR früher solch eine Variante nicht akzeptiert hätte, wobei nur einer russischen Friedensmission zugestimmt wurde, die Kiew ablehnt. 

Noch ein Plan sei laut Aussagen der Expertin: „Die Ukraine kann den aktiven Verhandlungsprozess aussetzen, aber ohne einen offiziellen Ausstieg aus den Minsker Vereinbarungen… In solch einem Fall geht es um eine Rückkehr zur Situation der Jahre 2016-2019, aus der Selenskij auszubrechen geplant hatte“.