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In Nordtaurien führt Russland ein Experiment zur Entnazifizierung durch


Im dritten Monat der von Präsident Wladimir Putin am 24. Februar befohlenen sogenannten militärischen Sonderoperation in der Ukraine ist das Räderwerk der russischen Bürokratie in Gang gekommen. Und die Taktik für die Handlungen auf den sogenannten befreiten Territorien ist klar geworden. Bei denen handelt es sich um das Verwaltungsgebiet Cherson und ein Teil des Kiew abgenommenen Verwaltungsgebietes Saporoschje. Die Innenpolitik der neuen Offiziellen gestaltet sich nach einem Strickmuster. Die Aufmerksamkeit wird der Informations- und propagandistischen Arbeit und dem Kampf gegen frühere ukrainische Staatssymbole geschenkt. Aber zivile Machtorgane als solche gibt es dort nicht. Die prorussischen Aktivisten und sich neutral gebenden Verwaltungsangestellten tun so, als ob die Hebel bei ihnen seien. Natürlich aber sind sie bei den Vertretern der russischen bewaffneten Organe, die auf ukrainischem Territorium walten und schalten. So als ob sie im eigenen Land wären. Aber daher reduziert sich die Verwaltungs- und Wirtschaftstätigkeit vor allem auf Instandsetzungsarbeiten und eine humanitäre Tätigkeit. Alles, was globaler ist, ist gleichfalls eine PR-Tätigkeit. In Nordtaurien erfolgt scheinbar ein experimenteller Probedurchlauf für jene Entscheidungen und Lösungen, die zum Gesamtplan für die von Russland deklarierte und angestrebte Entnazifizierung der Ukraine gehören werden.

Auf den ersten Blick betreffen die aktuellsten Nachrichten aus eben jenem Gebiet Cherson gerade wirtschaftliche und administrative Veränderungen, die mit dem Übergang dieser Region unter die vollständige russische Kontrolle verbunden sind. (Schließlich wird es nach dem Willen des Kremls die Ukraine in den Grenzen von vor dem 24. Februar 2022 nicht mehr geben. – Anmerkung der Redaktion). Allerdings mit Ausnahme der westlichsten Territorien, die das nächste Hinterland der Armeegruppierung darstellen, die Nikolajew bedroht. Die Nähe zur Front ist ständig zu spüren. So wurde in der Nacht zum Donnerstag, dem 28. April, unmittelbar gegen Cherson ein komplexer Raketenschlag geführt. In der Stadt gibt es Zerstörungen, obgleich die Informationen über Opfer widersprüchliche sind.

Dennoch aber kursierten ab den Morgenstunden des Donnerstags in den russischen Medien Informationen über den baldigen Übergang des Verwaltungsgebietes in die Zone des russischen Rubels. Zur Informationsquelle wurde eine der staatlichen russischen Nachrichtenagenturen, aber auch das russische Staatsfernsehen „Rossia 24“, die sich auf eine Erklärung des stellvertretenden Vorsitzenden der Militär- und Zivilverwaltung Kirill Stremousow beriefen. Der 45jährige leitet auch das sogenannte gesellschaftliche Komitee zur Rettung des Cherson-Gebietes „Für Frieden und Ordnung“. Stremousow erläuterte, dass der Übergang bereits am 1. Mai beginne (was auch durch russische Medien bestätigt wurde – Anmerkung der Redaktion) und vier Monate andauern werde, in deren Verlauf die ukrainische Währung Griwna parallel zum Rubel kursieren werde. Danach werde sie objektiv ihm Platz machen. Am 28. April brachte er sich auch durch die spektakuläre Erklärung in die Schlagzeilen, dass der Kanal zur Krim, der in dieser Region verläuft, garantiert funktionieren werde. Und es eine Wasserblockade der seit 2014 zu Russland gehörenden Halbinsel nie wieder geben werde. Es ist klar, dass dies eine eindeutige Anspielung darauf ist, dass das ukrainische Verwaltungsgebiet Cherson zu einem Teil Russlands oder zumindest eines gewissen Proxy-Gebildes wird, das Moskau ergeben sein wird.

Wer ist jedoch dieser Stremousow, der für die Führung der Russischen Föderation Fragen über den Wirkungsbereich des Rubels und der Lage ihrer Staatsgrenze entscheiden kann? Die „NG“ hat auf gründlichste Art und Weise alle prorussischen Netzwerke von Cherson durchforstet. Bis hin zu jenen, wo die Fahrpläne von neu eingerichteten Buslinien veröffentlicht werden. Und nirgends wurden Erwähnungen darüber gefunden, wer denn da die Militär- und Zivilverwaltung von Cherson leitet. Vom Prinzip her müsste dies ein Vertreter der russischen Sicherheits- und Rechtsschutzkräfte sein. Es scheint aber, dass es formal keinen solchen gibt. Außerdem haben sich auch keine Hinweise dafür gefunden, unter welcher Adresse sich diese „Militär- und Zivilverwaltung“ befindet. Der angeblich studierte Ökonom Stremousow ist somit ein prorussischer Aktivist, der die Illusion erweckt und dabei in den russischen Staatsmedien einen aktiven Gehilfen gefunden hat, dass sich Cherson unter der starken Hand Russlands befinde.

Die zweite große Neuigkeit aus dieser Region besteht jedoch beispielsweise darin, dass für das Verwaltungsgebiet bereits ein neuer Gouverneur ausgewählt wurde. Es handelt sich dabei um den ukrainischen Oppositionspolitiker Wladimir Saldo, dessen Partei („Partei der Regionen“) jüngst per Selenskij-Erlass verboten wurde. Zum Bürgermeister des Verwaltungszentrums wurde Alexander Kobez, ein amtierender Abgeordneter des Stadtrates und laut ukrainischen Angaben ehemaliger persönlicher Fahrer des Bürgermeisters von Cherson. Übrigens, vor etwas mehr als einen Monat figurierte der bisherige Bürgermeister, der – wie sich herausstellte – aus der Ukraine gesandt worden war, noch unter den Gründer des sogenannten Komitees zur Rettung des Gebietes Cherson. Die Neuernennungen sehen aber wie eine gewisse parallele Struktur zur angeblich funktionierenden Militär- und Zivilverwaltung aus. Tatsächlich probieren jedoch die russischen Kuratoren von Nordtaurien scheinbar unterschiedliche Varianten für die Herstellung einer Kontrolle über das Territorium aus.

Im von Russland besetzten Teil des Gebietes Saporoschje beispielsweise, zu dessen zeitweiligen Hauptstadt Melitopol geworden ist, ist die Situation noch verwirrender. Von einer dortigen Militär- und Ziviladministration ist auch weder zu hören noch zu sehen. Dafür agiert aber ein gewisser Hauptrat bei dieser Struktur. Allerdings ist es ebenfalls unmöglich, Informationen darüber zu finden, wer zumindest dieses Gremium leitet. Dafür gibt es aber das aktive Mitglied des Hauptrates Wladimir Rogow, der aus Saporoschje stammt und der in den Jahren 2014/2015 im russischen Staatsfernsehen als einer der eifrigsten Propagandisten des sogenannten russischen Frühlings auftauchte. Jetzt befasst er sich etwa genau mit dem gleichen, obgleich es auf dem Telegram-Kanal Rogows viele Posts und einen Wirtschaftsplan gibt.

Sie alle sind jedoch entsprechend einem Schema gestaltet worden: Ja, alles werde schrittweise organisiert, bald werde überhaupt alles normal. Es ist aber unschwer zu bemerken, dass sich die russischen Offiziellen in diesen beiden ukrainischen Regionen vorerst intensiv nur eben mit einem propagandistischen Kampf gegen die Ukraine befassen. Von daher all diese Aufmerksamkeit dafür, was für eine Flagge hängt oder nicht hängt. Und ein neues Stadium ist die generelle Entfernung der gelb-blauen Dreizacke, zumal sich die russischen Offiziellen wie die Hausherren fühlen. Und noch im Vorfeld zum 9. Mai, dem Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, tauchte gleich in vielen Kleinstädten der Gebiete Cherson und Saporoschje die Symbolik dieses Feiertages auf, die in den für die Russische Föderation traditionellen postsowjetischen Tönen gehalten ist. Allem nach zu urteilen, ist dies alles keine Zufälligkeit, sondern ein Sammeln praktischer Lösungen zur sattsam bekannten und vom Kreml angestrebten „Entnazifizierung der Ukraine“, die – was eine klare Sache ist – gerade mit einer Umgestaltung der Hirne gerade der breiten Durchschnittsbevölkerung begonnen werden soll. Für die aktive Minderheit sollen offenkundig keine Kräfte und Zeit aufgewandt werden, wobei man davon ausgeht, dass irgendein Teil von ihr vernichtet wird, ein anderer fliehen wird. Und diejenigen, die in die Illegalität gegangen sind, wird man über die sozialen Netzwerke und durch operative Handlungen ermitteln. Dafür eignen sich im Grunde genommen auch die letzten innerrussischen Erfahrungen. Was aber die Wirtschaftsangelegenheiten angeht, so halten sie die innenpolitischen Kuratoren aus dem Kreml, denen jetzt die Ukraine-Frage zugefallen ist, offensichtlich nicht für die vorrangigen – ebenfalls entsprechend dem russischen Vorbild.

Dennoch hat die „NG“ beschlossen, bei Experten herauszufinden: Ist nicht das derzeitige übermäßige Setzen auf Propaganda und einen ideologischen Symbolismus nicht überzogen? Der Leiter der analytischen Verwaltung der KPRF Sergej Obuchow ist anderer Meinung. Gerade „bis zu einer politischen Arbeit in den befreiten Territorien ist es vorerst weit“. Derzeit werde nach seiner Meinung gerade mehr auf eine Organisierung des tagtäglichen Lebens gesetzt. „Was die Herrschenden angeht, so hat man sich im Kreml offensichtlich nicht festgelegt, was mit diesen Territorien letztlich getan werden soll. Es gibt weder eine endgültige Entscheidung noch einen klaren Aktionsplan. Werden diese Territorien zu unabhängigen, wie man dies geplant hatte, mit der DVR und der LVR zu tun, oder werden sie zu einem Teil Russlands? Oder werden sie doch zu einer neuen unabhängigen Ukraine? Und da es gerade solch eine Gemengelage von Meinungen gibt, wird auch das Anpeilen eines Zieles nicht proklamiert“, erläuterte der Kommunist der „NG“. Dabei lenkte er das Augenmerk darauf, dass scheinbar gerade im Verwaltungsgebiet Cherson aufgrund der Nähe der Krim das Anbahnen des zivilen Lebens doch erfolgreicher erfolge, da die ukrainischen Streitkräfte begonnen hätten, ziellos einen Beschuss vorzunehmen. Obuchow erklärte gleichfalls, warum die Leiter der Militär- und Zivilverwaltungen nicht besonders zu sehen seien: „Dies sind doch Menschen aus den Reihen der Militärs. Entsprechend dem Status dürfen sie sich nicht hervortun. Logischer ist es, einheimische Einwohner in den Vordergrund zu rücken, die in die neuen Machtorgane gegangen sind. Obgleich es vernünftiger wäre, eine prorussische Exil-Regierung der Ukraine zu schaffen. Zumindest weil augenscheinlich nach der DVR und der LVR die ukrainischen Gebiete doch teilweise an Russland angegliedert werden, entsprechend der Technologie Lenins. Vorerst aber will man dies nicht verkünden. Derzeit gibt es nur taktische Erfolge. Und wenn es strategische geben wird, da werden dann auch irgendwelche Pläne verkündet werden“.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow ist ebenfalls der Auffassung, dass doch eine Wirtschaftstätigkeit auf den befreiten Territorien durchgeführt werde. Da es aber hinsichtlich ihrer Zukunft keine Gewissheit gebe, beeile man sich auch nicht, sie zu aktivieren. Genauso wie man sich auch nicht beeile, Verwaltungsstrukturen zu etablieren. „Der Kreml hat keine vollständige Gewissheit, dass es gelingen wird, die zu halten. Daher ist das erste, was man dort getan hat, die russischen Fernsehkanäle zur Ausstrahlung zu bringen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Für eine Gewinnung der Einwohner für die Russische Föderation hat man auch ein merkantiles Interesse ausgenutzt, indem man jeweils 10.000 Rubel (umgerechnet ca. 131 Euro) bereitgestellt, was vom Wesen der Sache her der Versuch ist, sich Loyalität zu erkaufen. Es ist jedoch keine Tatsache, dass dies funktioniert. Die Menschen können durchaus das Geld nehmen, aber nichtloyale bleiben“, erläuterte der Experte. Bei der informationsseitigen Bearbeitung der Menschen gebe es offensichtlich vorerst auch keine besonderen Erfolge. Beispielsweise habe man sich letztlich doch nicht dazu entschieden, im Verwaltungsgebiet Cherson ein Referendum abzuhalten. Wenn dies kein Fake gewesen war, so hänge die Verschiebung eventuell damit zusammen, dass es bisher keine Möglichkeit gibt, eine Prozedur zumindest für das Wecken eines Anscheins von Anständigkeit über die Bühne zu ziehen. Nicht umsonst kommt ein Teil der Einwohner von Cherson nach wie vor zu proukrainischen Protesten, die durch die russischen Militärs jedoch ungern gesehen und unterbunden werden. „Die aktive Informations- und Propaganda-Arbeit ist die erste Etappe der Erschließung der Territorien. Die administrative beginnt, wenn das Ergebnis zumindest etwas verankert wird“, erläuterte Kalatschjow. Dabei „versuchen die Herrschenden der Russischen Föderation auf die eine oder andere Weise, die Wirtschaft und die Verwaltung zu organisieren. Es gibt aber keine Kader und Strukturen. Von den Einheimischen sind dort bisher zu einer Zusammenarbeit nur Ex-Blogger und Journalisten bereit. Russische Verwaltungsangestellte gehen auch in die Regionen Russlands ungern. Und Interessenten, die in der Ukraine arbeiten wollen, gibt es scheinbar keine. Einheimische Wirtschaftsvertreter, Ökonomen und Verwalter, die selbst theoretisch bereit sind, auf prorussischen Positionen zu arbeiten, haben Angst aufgrund der Unbestimmtheit des weiteren Schicksals dieser Territorien“.