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In Russland herrscht ein Personalmangel an künstlerischen Führungskräften


Im letzten Jahr war in Russland ein Exodus künstlerischer Kräfte unübersehbar: Das Land und die Kollegen haben Regisseure verlassen, Dirigenten, von denen viele bedeutende Kollektive geleitet hatten. Die einen erklärten ihre Position als Staatsbürger und haben ihre Ämter verlassen, andere nötigte man, Ämter aufzugeben und das Land zu verlassen. Die Namen der einen oder anderen verschwanden aus den Spielplänen. Die Inszenierungen anderer wurden ungeachtet dessen, dass sie große Einnahmen brachten, wurden aus dem Repertoire gestrichen. Ein Jahr ist kein so großer Zeitraum, damit die russische Kultur zu stagnieren begann. Das „Pulver“ reicht selbst in einer Isolation von der Welt noch für einige Jahre aus, wenn nicht gar für länger. Jedoch hat sich bereits ein wichtiges Problem abgezeichnet: Bei einem im Großen und Ganzen durchaus anständigen künstlerischen Niveau der Künstler an sich ist ein akuter Mangel an künstlerischen Führungskräften offensichtlich.

Heute sind viele Persönlichkeiten, die den künstlerischen Prozess leiten und das jeweilige Ensemble auf ein neues Niveau heben sowie einen neuen Impuls und eine Wende veranlassen oder zumindest die Qualität auf dem für das jeweilige Theater oder Orchester erforderliche Niveau halten könnten, faktisch aus dem Blickfeld der russischen Kultur gefallen.

Wenn man sich auf die hauptstädtischen Orchester fokussiert, stellt sich heraus, dass derzeit drei Theater ohne einen Musikdirektor geblieben sind – das Bolschoi-Theater (Tugan Sochijew verzichtetet im Frühjahr letzten Jahres auf sein Amt), die Neue Oper (Valentin Urjupin ist vor Beginn der Spielzeit auf eigenen Wunsch gegangen) und das Natalia-Saz-Kindermusiktheater. Ohne einen Chefdirigenten sind das Staatliche Swetlanow-Orchester (Wassilij Petrenko, der durch solide Verträge im Westen gebunden ist, hat mit Beginn der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine die Tätigkeit in Russland ausgesetzt und später den Vertrag gelöst) und das Moskauer staatliche akademische Sinfonie-Orchester (Pawel Kogan, der das Ensemble mehr als ein Jahrzehnt geleitet hatte, kündigte und verließ das Land) geblieben. Lediglich für einen Klangkörper wurde ein künstlerischer Leiter gefunden, für das Russische Nationalorchester. Ja, und dies ist auch das Ergebnis eines Kompromisses aller Seiten. Alexander Rudin, der zugestimmt hatte, dieses Amt zu übernehmen, ist durch Verpflichtungen und mit dem Herzen an ein anderes Kollektiv gebunden (das Kammerorchester Musica Viva), er unterrichtet, befasst sich als Gastdirigent mit regionalen Orchestern usw.

Vladimir Urin, der Generaldirektor des Bolschoi-Theaters, kommentierte die Situation mit der Wahl eines neuen Musikdirektors bei einer Pressekonferenz zu den Plänen für die kommende Spielzeit und sagte: „Dies ist sehr schlecht. Und ich sage dies absolut ehrlich… Ich bin aber genauso vollkommen davon überzeugt, dass, wenn wir mit Ihnen eine Diskussion beginnen und Sie Kandidaten nennen werden, nichts Gutes daraus werden wird… Wir arbeiten mit einem großen Teil der jungen Musiker, deren Namen am Horizont aufgetaucht sind. Wir geben ihnen sowohl Inszenierungen des aktuellen Repertoires als auch neue Inszenierungen… Sie verstehen ausgezeichnet, was der Chefdirigent des Bolschoi-Theaters ist, was für Funktionen er, daneben das, dass er ein begabter Musiker sein muss, auferlegt bekommt. Wir übereilen nichts, begreifen aber die Notwendigkeit einer Entscheidung. Sobald sich eine geeignete Kandidatur ergibt, werden wir sie Ihnen sofort vorstellen“. Hinter dieser ausführlichen Antwort verbirgt sich das Wesen: Man sucht im Bolschoi-Theater keinen musikalischen Leiter. Denn, nachdem man ein dutzend russischer Dirigenten ausprobiert hat, begreifst du: Derzeit gibt es in Russland keine Spitzenkraft, die dem wichtigsten Theater des Landes würdig ist. Das Übrige wäre ein Kompromiss. Aber Urin, der erfahrene Manager, ist nicht bereit, sich auf solchen einzulassen. Was augenscheinlich richtig ist. Die Situation im Bolschoi demonstriert sinnfällig den akuten Personalmangel in Russland.

Solch eine Situation besteht auch in den anderen oben ausgewiesenen Moskauer Kollektiven. Dort, wo ein Direktor in sich die Kräfte spürt, einen Plan für die künstlerische Arbeit zu gestalten und kein Administrator, sondern ein Intendant zu sein, tut er dies selbst, indem er beispielsweise verschiedene Dirigenten für unterschiedliche Programme engagiert. In den Theatern ist es schwieriger: Die tagtägliche Routine verlangt einen verantwortungsbewussten. Daher ist es schwierig, ohne einen Chefregisseur auszukommen. Jedoch sind auch da die Ernennungen eher technische. Was aber die ideologischen Entscheidungen angeht, so verstecken sich die Theater vorerst hinter den sogenannten Künstlerischen Räten. In der Perspektive wird dies aber wohl kaum funktionieren. Schließlich hält der künstlerische Leiter den gesamten Prozess in seinen Händen, angefangen bei der Lesung von Stücken und bis hin zur Anwesenheit bei Aufführungen. In solch einer Rolle kann man sich schwerlich Volkskünstler vorstellen.

Eine andere Sache ist, dass es auch nicht viele Manager gibt, die in der Lage sind, der Welt irgendetwas wirklich Innovatives zu bieten. Die muss man erziehen. Und möglicherweise hat der einst schockierende Gedanke des Rektors der Staatlichen Schauspiel-Hochschule GITIS, die Theater- und die Producer-Fakultät zusammenzulegen, gerade heute Sinn. Oder es macht Sinn, zumindest die Lehrpläne zu revidieren.

Die gilt auch für die Orchester. Russland hat das sowjetische Paradigma geerbt, in dem die Funktion des Chefdirigenten klar bestimmt gewesen war: Er war der Herr (im besten Sinne dieses Wortes), der Herrscher des Ensembles, er gehörte aber auch selbst dem Orchester. Schrittweise, mit dem Fallen des „eisernen“ Vorhangs, hat diese Funktion ihre Konturen verloren. Es kamen Verträge im Westen auf, Gastspiele usw. Jetzt aber hat eine Zeit begonnen, in der wahrscheinlich endgültig die Disposition „Kollektiv – künstlerischer Leiter“ einer Revision unterzogen wird. Beispielsweise engagiert eines der weltweit besten Orchester – die Wiener Philharmonie – selbst einen Dirigenten für das eine oder andere Programm. Gestern trat mit ihm Valerij Gergijew auf (heute leider nicht), morgen Daniel Barenboim usw. Wie aber die Musiker eine außerordentliche Qualität erreichen, dies ist gleichfalls ein Geheimnis, das man ertasten, dass man sondieren muss. Offensichtlich hat eine Zeit begonnen, in der das Leitungsschema in den Künstlerkollektiven revidiert werden kann und sogar neu überdacht werden muss.