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Internationale Pharma-Giganten haben keinen Bedarf an russischer Coronavirus-Vakzine


Die Meldung, dass Russland als erstes Land die Entwicklung einer Coronavirus-Vakzine abgeschlossen hat, erfreute nur jene, die befürchten, an COVID-19 zu erkranken. Aber für den internationalen Pharma-Markt wurde dies zu einer unangenehmen Nachricht. Die Vertreter von Big Pharma (so heißt der Pool der größten Unternehmen, die auf dem Medikamentenmarkt nicht nur die Trends, sondern auch die Preise bestimmen) können ohne kolossale Gewinne bleiben. In dieser Situation begann man sofort im Ausland, die russische Vakzine zu kritisieren. Und Vertreter der in der Russischen Föderation tätigen Assoziation der Organisationen für klinische Untersuchungen veröffentlichten eine Erklärung, dass sie überhastet entwickelt worden sei und ihr Einsatz für die Patienten gefährlich sein könne. Ist dem aber tatsächlich so? Und wer braucht nicht das bahnbrechende russische Präparat?

Die russische Vakzine erhielt am 11. August eine Registrierungsurkunde des Gesundheitsministeriums und kann bereits für eine Immunisierung der Bevölkerung eingesetzt werden. Das Präparat erhielt den Namen „Sputnik V“ analog zum ersten künstlichen Erdsatelliten, der 1957 durch unser Land gestartet worden war. Das Gesundheitsministerium hatte am Vorabend sogar den Herstellungsprozess des einheimischen Impfstoffes gezeigt, der durch Spezialisten des Nationalen N.-F.-Gamaleja-Forschungszentrums für Epidemiologie und Mikrobiologie (NFZEM) entwickelt worden war. Die Massenherstellung wird, wie erwartet wird, im September beginnen. Für diese Entscheidung haben sich jedoch Kritiker gefunden. Das britische Magazin „Nature“ beispielsweise zitiert die Meinung des Genetikers François Balloux vom University College London und schreibt, dass nach Meinung von Experten die russische Vakzine für Menschen gefährlich sein könne, da sie keine klinischen Tests an einer großen Zahl von Patienten durchlaufen hätte. Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, erklärte in einem Interview der „Rheinischen Post“, dass „die Zulassung eines Impfstoffs ohne die entscheidende dritte Testreihe … ein hochriskantes Experiment am Menschen“ sei. Und Kellyanne Conway, Beraterin des US-Präsidenten, erklärte, dass die russische Entwicklung den amerikanischen hinterherlaufe. Und in den Vereinigten Staaten seien strengere Standards für die Registrierung derartiger Präparate vorgesehen. In Russland wurde zu einem Kritiker die Assoziation der Organisationen für klinische Untersuchungen, an deren Tätigkeit sich eine Reihe großer biopharmazeutischer Unternehmen beteiligen, darunter Bayer, AstraZeneca, Novartis u. a. Die Vereinigung sandte an den Leiter des Gesundheitsministeriums Michail Muraschko ein Schreiben, in dem es Besorgnis über die Pläne hinsichtlich des Einsatzes des russischen Präparats zum Ausdruck brachte. Darin wird beispielsweise weiter betont, dass an den Tests des vom Nationalen N.-F.-Gamaleja-Forschungszentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie entwickelten Impfstoffs weniger als 100 Personen teilgenommen hatten, während man im Verlauf der dritten Testphase die Präparate üblicherweise an mehreren tausend Personen testet. Gleichzeitig werden Beanstandungen noch zu einer Reihe anderer Punkte vorgebracht. 

Vertreter des Gamaleja-Instituts sind mit der Kritik nicht einverstanden und erklären, dass die technologische Plattform, die für die Entwicklung der Vakzine genutzt wurde, gut untersucht sei. Man habe sie unter anderem bei der Entwicklung von Vakzinen gegen andere gefährliche Infektionen – Ebolafieber und Middle East Respiratory Syndrome (MERS) – genutzt. „MERS, dies ist auch ein Coronavirus“, kommentierte der Direktor des N.-F.-Gamaleja-Zentrums Alexander Ginzburg. „Im Übrigen mit einer weitaus größeren Todesrate als bei COVID-19. Da geht die Sterberate bis zu 40 Prozent. Und wir sind bei dieser Entwicklung vorangekommen. Faktisch haben wir die zweite Phase der klinischen Tests hinsichtlich MERS abgeschlossen. Und das MERS ist zu 80 Prozent homologisch in Bezug auf COVID-19. Daher hatten wir den gesamten methodischen Apparat zur Hand. Die erforderliche Abfolge, die sich zu 20 Prozent vom MERS unterscheidet, was COVID-19 angeht, musste synthetisiert und faktisch in die gleichen Strukturen implementiert werden. Die Trägerstoffe, die wir bereits für die Entwicklung der Vakzine gegen das MERS verwendeten. Und alle Konzentrationen und Dosierungen waren uns da bereits gut bekannt“.

In der russischen Aufsichtsbehörde für das Gesundheitswesen Roszdravnadzor bezeichnete man die Beanstandungen der Pharma-Unternehmen hinsichtlich des russischen Impfstoffs als auf der Unkenntnis der Untersuchungsergebnisse basierende. Die Vakzine ist bereits an Freiwilligen getestet worden. „Wobei die ersten Freiwilligen alle Mitarbeiter des Gamaleja-Instituts waren“, schreibt Dr. sc. med. Sergej Zarenko, stellvertretender Chefarzt für Anästhesiologie und Intensivtherapie des Moskauer Stadtkrankenhauses Nr. 52. „Sie haben sich wie die Erbauer einer neuen Brück unter diese Brücke gestellt, während über sie der erste Zug fuhr! Danach ist die Vakzine an Freiwilligen aus den Reihen der Militärs getestet worden. Es gab nicht eine Komplikation. All habe eine starke Immunität“. 

„Die Vakzine hat eine ernsthafte vorklinische Testphase an Tieren durchlaufen und die Fähigkeit demonstriert, eine zelluläre Immunität und eine humorale spezifische Immunität zu entwickeln“, erzählte gegenüber Journalisten Jelena Smoljartschuk, Leiterin des Zentrums für die klinische Untersuchung von Heilpräparaten der hauptstädtischen Setschenow-Universität. 

Viele westliche Massenmedien und Politiker warfen die Frage nach den gedrängten Zeiträumeen für die Entwicklung des Impfstoffs gegen COVID-19 in Russland auf, wobei sie Zweifel an dessen Effektivität und Authentizität anmeldeten. „Solch schnellen Ergebnisse sind durch das Expertenwissen und die Erfahrungen zu erklären, die Russland auf dem Gebiet der Impfstoffforschung gesammelt hat“, betont Kirill Dmitrijew, Generaldirektor des Russischen Fonds für Direktinvestitionen (RFDI). „Seit den 1980er Jahren befassen sich die Wissenschaftler des N.-F.-Gamaleja-Zentrums mit der Schaffung einer technologischen Plattform auf der Basis der Adenoviren des Menschen, die in den Adenoiden und bei Menschen, die akute  Atemwegsinfektionserkrankungen überstanden haben, festgestellt werden. Sie sind die „Vektoren“ oder „Übertrager“, die das genetische Material eines anderen Virus in eine Zelle bringen. Das die Infektion auslösende Gen des Adenovirus wird vom „Vektor“ entfernt, und das Gen mit dem Code des Eiweißes eines anderen Virus wird eingesetzt. Dieses eingesetzte Element ist für den Organismus ungefährlich. Doch dabei hilft es dem Immunsystem, zu reagieren und Antikörper zu entwickeln, die uns vor einer Infektion schützen“. Laut Angaben Dmitrijews habe die Russische Föderation bereits von 20 Ländern Bestellungen für die Lieferung von insgesamt einer Milliarden Dosen des neuen Impfstoffs erhalten. 

Mittlerweile schreiben Kritiker darüber, dass in der ersten Testphase des Impfstoffs angeblich „Nebenwirkungen“ aufgetreten seien, wobei sogar eine Zahl genannt wurde. Derer hätte es angeblich 144 gegeben. Dies ist jedoch tatsächlich die Anzahl der unerwünschten Erscheinungen oder Reaktionen, die im Verlauf der Untersuchung der Reaktion der Patienten fixiert wurden. Die Ärzte hatten alles festgehalten, was sich mit einer Testperson ereignet, wobei jegliche Reaktionen festgehalten wurden. Dabei hat oft ein Teil von ihnen nichts mit dem Präparat zu tun. Und außerdem, so die Mediziner, sei ein derartiges Berichten über alle festgestellten Erscheinungen ein Format der Offenheit, das in der ganzen Welt üblich sei. Die Hersteller selbst der gewöhnlichsten Medikamente informieren die Verbraucher über mögliche Nebenwirkungen. Und dies bedeutet nicht, dass es gefährlich ist, diese Medikamente anzuwenden. Einige Pharma-Unternehmen versichern sich so vor Klagen der Verbraucher. Unter Berücksichtigung dessen, dass die russische Vakzine ein großes Potenzial in der Welt besitzt, ist die Einhaltung der üblichen Formate der Offenheit bzw. Transparenz äußerst wichtig. Und die Entwickler haben nicht zufällig entschieden, die Angaben über alle unerwünschten Erscheinungen zu veröffentlichen, wobei nichts verborgen wird.

Noch eine Beanstandung der Kritiker hängt mit einer Reihe von ausgewiesenen Einschränkungen zusammen. In der Anleitung zur medizinischen Anwendung ist beispielsweise ein Alter von 18 bis 60 Jahren ausgewiesen worden. Wie die Spezialisten betonen, sei diese Bedingung in solch einem klaren Rahmen im Zusammenhang damit ausgewiesen worden, dass dies eine standardmäßige Einschränkung für neue Präparate in der Welt sei. Mit der Neuheit des Impfstoffs verbindet man auch die für ihn ausgewiesene Aufbewahrungstemperatur (minus 18 °C und niedriger), was die Kritiker zu der Vermutung veranlasste, dass das Präparat möglicherweise sehr instabil oder außerordentlich empfindlich gegenüber äußeren Einwirkungen sei. Jedoch seien derartige Temperatur-Beschränkungen, wie Spezialisten unterstreichen, für die zu entwickelnden Präparate charakteristisch, zu denen es bisher wenig Angaben bezüglich ihrer Stabilität gebe. Bei einer Massenherstellung kann die Vakzine in einer anderen Form mit der gewohnten Lagertemperatur (plus 2 bis 8 °C) produziert werden. Die gleiche Geschichte gibt es auch mit der Haltbarkeitsdauer des Präparats, die bisher ein halbes Jahr ausmacht. Sie werde jedoch, wie die Viruslogen sagen, im Weiteren präzisiert.

Nach Aussagen von Kirill Dmitrijew werde Russland nicht das erste Mal mit Zweifeln der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich seiner Führungsrolle in der Wissenschaft konfrontiert. „Während der Poliomyelitis-Epidemie in den 1950er Jahren in Japan waren die Mütter, deren Kinder an Poliomyelitis gestorben waren, zu einer Demonstration gegen ihre Regierung, die den Import des sowjetischen Impfstoffs gegen Poliomyelitis aus politischen Gründen verboten hatte, auf die Straßen gekommen. Die Protestierenden erreichten ihr Ziel, und das Verbot wurde aufgehoben, dank dem das Leben von über 20 Millionen japanischen Kindern gerettet wurde“, betonte der Leiter des RFDI.

„Es stellt sich die Frage: Wer finanziert diese Kampagne in der Presse? Von wem hängen die „unabhängigen Experten“ ab? Es ist ein offenes Geheimnis – von den Herstellern anderer Impfstoffe, die bisher hinter den russischen Wissenschaftler zurückgeblieben sind. Und noch von den Herstellern von Antivirus-Präparaten – mitunter wirksamer Präparate, aber nur bei leichten Formen der Krankheit und die eine Vielzahl von Nebenwirkungen aufweisen“, betonte Sergej Zarenko.

„Denken Sie nur einmal darüber nach! Wenn mit Hilfe des russischen Impfstoffs konkrete Personen, konkrete Firmen viele Milliarden Dollar verlieren. Nun, was für eine Reaktion wollen Sie da sehen? Mir scheint, die Reaktion ist eine völlig normale. Dies ist wie ein Knüppel, mit dem man in einem Ameisenhaufen herumstochert“, erklärte der Direktor des N.-F.-Gamaleja-Zentrums. Alexander Ginzburg nannte in diesem Zusammenhang auch eine beeindruckende Zahl: Der Pool „Big Pharma“ schätzt, dass allein der internationale Markt für Impfstoffe gegen COVID-19 einen Umfang von 25 bis 30 Milliarden US-Dollar ausmache. Möglicherweise auch mehr. Auf jeden Fall liegt der Exportpreis der russischen Vakzine im Bereich von 10 Dollar, meldete die russische Nachrichtenagentur „Interfax“. 

In der letzten Augustwoche sollen nun in Russland die Untersuchungen für die 3. Testphase des neuen Impfstoffs Sputnik V beginnen. 40.000 Testpersonen erfasst die Doppelblindstudie (eine randomisierte kontrollierte Studie), bei der weder die beteiligten Ärzte noch die Studienteilnehmer (Patienten) Kenntnis über die jeweilige Gruppenzugehörigkeit (Kontrollgruppe, Experimentalgruppe) haben. Deren Ergebnisse sind aus psychologischer Sicht auch für die russische Bevölkerung wichtig, wie eine jüngste Umfrage des staatlichen Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTSIOM deutlich macht. 56 Prozent der 1600 Befragten erklärten, dass sie vor einer Erkrankung an COVID-19 Angst haben, zumal 58 Prozent eine zweite Coronavirus-Welle im Land befürchten (sechs Prozent mehr als im vorangegangenen Monat). Paradox dabei ist jedoch die Tatsache, dass 52 Prozent der Befragten sich nicht mit Sputnik V impfen lassen wollen. Hat da also der Jubel der Staatsmedien darüber, dass Russland den internationalen Wettlauf bei der Entwicklung von COVID-19-Vakzinen gewonnen hat, seine Wirkung verfehlt?