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Interview mit Jürgen Trittin


Interview von 5.4.2019 mit Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/ Die Grünen, Ex-Bundesumweltminister und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss   

Frage 1: Wie sehen Sie die heutige innenpolitische Lage in Deutschland? Die Grünen erleben im Moment einen Aufschwung. Wieso sind sie so populär bei den deutschen Wählern?

Antwort 1: Man muss erstmal die gesamte Situation sehen und auf das, was in den letzten Jahren das Land geprägt hat. Wir haben jetzt seit 2005 dreimal eine große Koalition erlebt. Die Wahlen seit 1998 waren immer davon geprägt, dass es knappe Mehrheiten links oder rechts der Mitte gegeben hat. Aber seit 2013 werden die Mehrheiten rechts der Mitte größer. Und es gibt ein neues Element — nämlich eine parlamentsfähige rechte Partei, eine völkisch nationalistische ja in viel Punkten auch rassistische Partei. Und gegen diese Partei, die AfD gibt es einen klaren Gegenpol  — und das sind die Grünen. Wir sind auf dieser transnationalen Konfliktlinie der europäische Gegenpol zum nationalistischen Pol AfD. Alle anderen Parteien sind in dieser Frage gespalten. Das gilt für die Linken, für die Sozialdemokraten, für die CDU. Die FDP hat sich in der Frage sogar deutlich rechts positioniert. Nur die Grünen sind da klar und deshalb profitieren wir in dieser neuen gesellschaftlichen Polarisierung.

Zweites ist glaube ich, dass wir auch davon profitieren, dass wir als eine Konzeptpartei angesehen werden, die eine Alternative zu dem Frust über die große Koalition sind. Und die sich zudem glaubwürdig personell erneuert hat. Unsere beiden neuen Vorsitzenden sind erfolgreich darin, dieses Bild der Partei zu präsentieren.

Kurz gesagt, die Grünen symbolisieren im Verhältnis zur großen Koalition eine Partei, die eine bestimmte andere Idee bzw Konzept hat wie dieses Land werden kann. Das ist unsere Stärke. Wer den Aufstieg der Grünen verstehen will, muss auch sehen was sich in der Gesellschaft abspielt.

Frage 2: Welche grüne Ideen bewegen die Gesellschaft?

Antwort 2: Die Grünen haben in einigen bestimmten Bereichen, wo wir früher für ausgelacht wurden, parteiübergreifende, die Gesellschaft und die Industrie übergreifende Konsense durchgesetzt. Das galt bei Atomausstieg, das gilt bei Kohleausstieg. Und dabei wurde immer behauptet, die Grünen hätten schon ihre Themen verloren. Die Realität zeigt aber, dass die Versäumnisse beim Klimaschutz sogar eine neue Jugendbewegung hervorgerufen hat. Heute am Freitag ( am 5.4.2019) demonstrieren in vielen deutschen Städten Schüler unter der Motte «Fridays for future“ dafür, dass endlich Maßnahmen ergriffen werden, dass die globale Erwärmung auf maximal 1,5 Grad begrenzt wird. Der Kampf gegen die Klimakrise ist, neben der Haltung zum Nationalismus und der Frage der globalen Gerechtigkeit eine ganz zentrale Frage heute.

Frage 3: Wir wissen,dass die deutsche Gesellschaft gespalten ist und in erster Linie wegen Migrationskrise, wie sie von Bundeskanzlerin Merkel und Regierung behandelt wird. Wie sehen Sie die Gründe für eine solche Entwicklung?

Antwort 3: Wir sollen unterscheiden zwischen dem was ist und dem, was Menschen wahrnehmen. Deutschland ist so sicher wie nie zuvor. Es gibt eine abnehmende Kriminalität, was zum Beispiel Einbrüche oder schwere Straftaten angeht. Ich glaube, 95% der Länder der Welt wären froh, wenn sie einen solchen Zustand hätten, wie es ihn in Deutschland gibt. Das sagt aber nichts darüber aus, wie die öffentliche Wahrnehmung ist. Objektiv gibt es natürlich überhaupt keine Migrationskrise in Deutschland. Migrationskrise oder Fluchtkrise, wir müssen eher über Flucht reden, als über Migration in diesem Fall. Wenn wir in den Libanon schauen, wo ein Drittel der Bevölkerung aus Geflüchteten besteht, dann wissen wir, was wirklich eine Krise ist – bei uns sind es nämlich knapp 2% und nicht über 30%. Es gab 2015 eine Situation, wo Abläufe nicht so gut funktioniert haben, wie sie sollten. Aber als eine Flucht — oder Migrationskrise würde ich das nicht bezeichnen. Ich habe schon Begriff Migrationskrise für falsch, weil Migration eine Einwanderung bedeutet. Die Einwanderung ist etwas wovon wir eigentlich mehr brauchen, weil wir Bedarf an Fachkräfte haben.
Hier geht es aber einfach um die Bewältigung der Folgen von Krieg und Staatszerfall. Es geht um Menschen, die einfach ihr Leben retten wollen. Und da sollten wir helfen.

Frage 4: Ich habe jahrelang in Deutschland als Journalist gearbeitet und habe in den 70- Jahren sehr starke Friedensbewegung in Deutschland miterlebt. Wie stehen die Grünen zu Frage der nuklearen Wettrüsten heute?

Antwort 4: Wir haben damit konfrontiert, dass alle Atommächte  USA, Russland ,China, unsere Nachbarn Großbritanien und Frankreich ebenso, ihre strategische und taktische  Atomwaffen modernisieren. Und wir müssen mit Sorge und ich würde auch sagen mit Erbitterung zu Kenntnis nehmen, dass deshalb die Zeit der nuklearen Abrüstung von den Atommächten schlicht und ergreifend beendet worden ist. Und da hilft es nicht, dass man sich hinstellt und sagen, wie das aktuell die beiden großen Atommächte machen, der andere hätte doch angefangen. Aus dieser Sandkastenlogik müssen wir raus! Die Antwort , die wir darauf geben wäre heißt — wir müssen alles dafür tun um die Welt atomwaffenfrei zu machen. Deswegen plädieren die Grünen dafür, dass wir  endlich den UN-Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen, wie es schon 122 andere Länder getan haben.
Und gleichzeitig wird der INF gekündigt, weil die USA Russland beschuldigt, eine Waffe zu besitzen, die nicht durch den INF Vertrag abgedeckt ist  — und Russland umgekehrt den USA die Stationierung ihrer Raketenabwehr, die inzwischen ja quasi öffentlich zugegeben gegen Russland gerichtet ist – vorwirft. In so einer Situation muss Europa doch ein Interesse daran haben, dass wir wieder über Abrüstung reden! Wir brauchen einen konkreten gegenseitigen Abrüstungschub. Die NATO sollte anbieten, ihre taktischen Atomwaffen aus Europa abzuziehen und außerdem auf die US-Raketenabwehr zu verzichten – wenn Russland ebenfalls zu Abrüstungsschritten bei Iskander-Raketen und Marschflugkörpern bereit ist. Das wäre ein Schritt praktischer Abrüstung.

Frage 5: Wir haben schon am Anfang unseres Gespräches festgestellt, dass die Grünen eigentlich an der Regierung teilnehmen können. Wie sehen Sie die Chancen bei den heutigen innenpolitischen Konstellation an der Regierung noch vor den Wahlen 2021 teilzunehmen?

Antwort 5: Wir Grüne sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, ja. Das haben wir 2017 deutlich gemacht, als wir entschieden haben mit der CDU und FDP über die Möglichkeit einer Regierungsbildung zu verhandeln. Wir haben das nicht leichtfertig gemacht. Wir haben in diesen Verhandlungen erfahren wie schwierig ein solches Bündnis sein konnte. Aber bekanntenweise war die FDP komplett überfordert und sie hat sich aus dieser Geschichte zurückgezogen. Das Ergebnis war eine neue große Koalition. Die hat sich vereinbart bis zum Jahr 2021 zu regieren. Ob sie das schaffen, weiß ich nicht. Aber wenn sie das nicht schafft, wird es Neuwahlen geben. Und dann wird im Lichte der neuen Wahlergebnisse darüber zu reden sein wie sich die Mehrheiten bilden werden. Und da niemand diese neuen Wahlergebnisse kennt, weiß man nicht was für die Koalition rauskommt. Aber wahr ist auch, wenn man nicht will das ist in Deutschland österreichische Verhältnisse gibt – als eine Machtübertragung an die Rechten — Dann müssen demokratische Parteien zumindest im Prinzip miteinander koalitionsfähig sein. Und Sie sehen, wir koalieren in Thüringen, wir koalieren in Berlin mit der SPD und Linken. Aber die Länder sind nicht der Bund. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer solchen Konstellation kommt ist ganz arithmetisch aktuell nicht besonders hoch. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass die stärkste Fraktion, das ist die Fraktion die den Kanzler stellt, wieder die CDU/CSU sein wird und sich dann die Frage stellt, wer mit der CDU koaliert —  erneut die SPD oder wir oder andere Partei? Das hängt vom Ausgang von Wahlen ab und kann man nicht jetzt im Voraus sagen.

Frage 6: Ausgang von den Wahlen oder Ausgang vom Programm?

Antwort 6:  Der erste Schritt ist immer die Wahl und ihr Ergebnis und der zweite Schritt sind die Verhandlungen, die auf der Basis von Programmen geführt werden. Da gibt es ganz offen zutage tretende Konflikte. Es fängt in der Rentenpolitik an, wo wir der Auffassung sind, da muss es eine Garantierente geben für die Menschen, die lange gearbeitet haben. Das entspricht dem Modell, das die SPD vertritt. Die CDU ist dagegen. Die Linke ist auch dafür. Da gibt es also Gemeinsamkeiten. Da geht es aber auch um die Frage, wie hoch sollen eigentlich die Rüstungsausgaben in Deutschland sein. Das sehe ich, dass die CDU sich für 2% ausspricht. Die Grünen sind dagegen, ebenso wie Sozialdemokraten und Linke Partei. Und wir haben die Debatte, wo wir sagen, wir müssen den Bereich stärker reglementieren, wo die Emission von Treibhausgas am schnellsten wachsen — der Verkehrssektor.  Da würde ich mal sagen, wir Grünen haben die CDU und SPD gegen uns, weil weder die eine noch die andere wollen da wirklich etwas tun. Das hieße nämlich, dass man zum Beispiel die Maut für LKWs so hoch ansetzt, dass es tatsächlich zu einer Zurückverlagerung auf die Schiene kommt.

Ich bin gespannt, wie solche Verhandlungen ausgehen, weil sie mit keinem einfach werden.

Frage 7: Jetzt kommen wir zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Wie schätzen Sie den heutigen Zustand. Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema?

Antwort 7:  Einmal sind die Verhältnisse zwischen Europa und Russland besser, als Verhältnisse zwischen Russland und der USA. Was ist denn der Maßstab der Unterschiede? Wenn ich das vergleiche mit dem was die Menschen im Lande empfinden auf deutscher und auf russischer Seite dann glaube ich, dass die Beziehungen auch gegenseitig sehr viel voneinander halten. Sie wissen, es gibt Umfragen, zu denen sicher der jetzige US-Präsident aktiv beigetragen hat. Auf die Frage, wer ist verlässiger die USA oder Russland, Putin oder Trump, entscheiden immer drei viertel der Deutschen zugunsten Russland und Putin. Wen wir das objektivieren muss man aber sagen, dass die deutsch-russischen Verhältnisse heute deutlich schlechter sind, als sie vor zehn Jahre waren.

Ich bin niemand, der mit dem Finger nur auf eine Seite zeigt. Aber Russland hat gegen die Charta von Paris aus dem Jahr 1990 und damit gegen die Schlussakte von Helsinki verstoßen, als es in der Ukraine und der Krim intervenierte. Die Ukraine stand 2014 vor der Entscheidung, möchte sie mehr ökonomische Assoziierung mit EU oder Mitglied der euroasischen Wirtschaftsunion werden. Auf die Entscheidung pro EU hat Russland mit einem Bruch der einfachsten Regel dieses Abkommens reagiert – nämlich der Unverletzlichkeit der territorialen Integrität. Noch einmal, ich finde nicht, dass EU-Kommission sich in diesem Prozess klug verhalten hatte. Aber die Entscheidung ist durch die Ukraine zu treffen.

Das Ganze hat natürlich massiv zu der Verschlechterung der Beziehungen zu Deutschland und Europa beigetragen und sie dahin gebracht, wo sie heute sind.

Europa hält dennoch daran fest, klar zu sagen, wir arbeiten weiter mit Russland ökonomisch und wo es sinnvoll ist auch politisch zusammen. Aber es sagt auch klar, dass es eine Aufhebung zum Beispiel der Sanktionen wegen der Ostukraine nur auf Grundlage des Minsker Abkommen gibt. Das was Russland unterzeichnet hat, muss auch ungesetzt werden.

Es gibt ja positive Beispiele einer Zusammenarbeit, wie beim Iran-Abkommen. Und Deutschland will anders als die USA Russland nicht aus der Energiezusammenarbeit aussperren, nicht weil wir von Russland abhängig sind. Das ist ein Irrtum. Es stimmt, wir beziehen knapp 40% unseres Gases aus Russland. Wir kriegen 40% unseres Öl aus Russland und wir kriegen 40% Kohle aus Russland Aber ehrlich gesagt, könnten wir das Zeug auch irgendwo anders in der Welt auf dem Markt kaufen. Das ist nicht unser Problem. Sondern wir finden, dass wir an der Stelle die Nachbarschaft und die Kooperation mit Russland weiter pflegen sollten, weil wir keine Interesse an einem destabilisierten und ökonomisch in Frage gestellten Russland. Das unterscheidet die europäische Interessenlage von der der USA. Die nämlich haben offenbar ein Interesse daran Russland in einer Krisensituation zu verwickeln.

Frage 8 : Sie haben schon Probleme in den deutsch-russischen Beziehungen erwäht und wenn ich Sie richtig verstehe ein besonders schwieriges Problem heißt Ukraine?

Antwort 8:   Nicht die Ukraine ist das Problem, sondern der Umstand, dass auf dem Gebiet von Ukraine mit Billigung und Unterstützung Russlands militärische Aktionen vorgenommen werden — wenn ich das mal ganz neutral und sehr freundlich formuliere. Nochmal: die Vereinbarungen, die Wladimir Putin mit Frau Merkel und mit  dem damaligen Präsidenten Holland in Minsk getroffen hat, werden bis heute nicht umgesetzt. Nicht von Russland, aber auch zum Teil nicht von der Ukraine. Ich bin jemand der hinsichtlich von Sanktionen immer sagt, Sanktionen machen nur Sinn wenn sie dazu dienen, ein definiertes Ziel zu erreichen und eine Verhaltensänderung zu bewirken. Was die USA gegen Russland praktizieren sind die nicht Sanktionen, die Verhaltungsänderung zu Folge haben sollen, sondern sie zielen auf etwas anderes. Trotzdem würde ich sagen, ist die Antwort Europas eine angemessene. Wenn nicht eingehalten wird, was verabredet wurde, dann bleiben die Sanktionen erst einmal bestehen.

Die russische Variante des Interviews mit dem Leiter des Berliner Bueros von Nesawisimaya Gazeta Oleg Nikiforov.