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Keine Chancen für nichtslawische Schauspieler


Im Moskauer Sacharow-Zentrum haben eine szenische Lesung und Diskussion des neuen Stücks „Nichtformat“ von Nana Grinschtein stattgefunden. Regisseur der künftigen Inszenierung ist Anastasia Patlaj. Auf dem Konto dieses Duetts sind bereits mehrere spektakuläre Arbeiten, die auf der Bühne von Teatr.doc realisiert wurden: „Herauskommen aus dem Schrank“, „Außerhalb des Theaters“ und „Kantgrad“. Mit der kommenden Inszenierung des Stücks „Nichtformat“ werden Grinschtein und Patlaj ihren Zyklus von „Zeugen“-Stücken fortsetzen. In denen spielen die Darsteller sich selbst.

Das Stück von Nana Grinschtein ist wie ein Puzzle aus Fragmenten von fünf großen Interviews zusammengesetzt worden. Die hatten die Schauspieler Feruza Ruziyeva, Aziz Beischenaliyev, Nargis Abdullayeva, Dshan Lot und Rafael Durnoyan gegeben. Die ersten drei sind aus Taschkent nach Moskau gekommen, Dshan aus Elista, Rafael ist in Moskau geboren worden und wuchs in einer armenischen Familie auf, in der man stets Russisch sprach. Sie alle sind, wie man in Annoncen schreibt, „Personen nichtslawischer Nationalität“. Alle sind aber russischsprachige Schauspieler, die entsprechend der russischen Theaterschule (wenn auch in verschiedenen Hochschulen und zu unterschiedlicher Zeit) erzogen wurden. Im von Schauspielern übersättigten Moskau (fünf Instituten beenden alljährlich mehrere und nicht nur ein Studiengang von Theater- und Filmschauspielern pro Ausbildungsstätte) müssen sie sich Angebote solcher Art anschauen: „Gebraucht wird ein Mann von asiatischem Äußeren, 30 bis 40 Jahre alt, für eine Episode ohne Text (Rolle eines Gastarbeiters), Dreharbeiten übermorgen, von 11 bis 23 Uhr, Honorar: 1500 Rubel (umgerechnet nicht einmal 20 Euro – Anmerkung der Redaktion)“. „Im russischen Film sind wir nur Reinemachefrauen oder Terroristinnen. Ich verstehe schon nicht, gibt es in ihm einen Platz für mich?“, fragt mit Verbitterung die dunkelhäutige Schönheit Feruza Ruziyeva, vor kurzer Zeit noch eine Schauspielerin des Jugendtheaters von Usbekistan, heute eine Studentin der Werkstatt von Wladimir Chotinenko und Pawel Finn bei den Hochschullehrgängen für Szenaristen und Regisseure.

Auf die Frage „Warum bist du nach Moskau gekommen?“ hat jeder seine Antwort, aus dem Bereich der persönlichen Lebenslinie. Es gibt aber auch eine Gesetzmäßigkeit in diesen Geschichten: Moskau lockt die Schauspieler als ein Zentrum progressiven Theaters und der Produktion von Autorenkino im russischsprachigen postsowjetischen Raum an. Der Kalmyke Dshan Lot absolvierte die Russische Akademie für Theaterkunst, die auch als GITIS bekannt ist, kehrte in die Heimatstadt Elista zurück und nahm eine Arbeit im Theater des jungen Zuschauers auf. Doch lange hat er es doch nicht ausgehalten – uninteressant und perspektivlos war es da für ihn. Und er kam nach Moskau zurück, um sich im Beruf zu entwickeln. Aber die Hauptstadt hat ihm schnell den Korridor der Möglichkeiten bestimmt…  

„Nichtformat“ ist auf keinen Fall eine Sammlung von Klagen nichtslawischer Schauspieler. Dies ist in erheblichem Maße ein Gespräch über das Maß der künstlerischen Freiheit russischer Filmdramaturgen und Regisseure. Sie sind faul (oder haben Angst?), über den Rahmen von Klischees in der Vorstellung von den in Russland lebenden Asiaten und Kaukasiern zu gehen. Und damit verankern sie im Bewusstsein ihres Publikums „Masken“: ein Tadschike ist ein Hofarbeiter bzw. Straßenkehrer, ein Kirgise – ein Kurier, ein Usbeke – ein Gärtner, ein Aserbaidschaner – ein Händler. Und die meisten Produzenten von Kino- und TV-Produkten für das Massenpublikum wollen ganz und gar keine Erwähnungen über „Zugereiste“. Der Szenarist Alexander Topuria (er las für den abwesenden Aziz Beischenaliyev, der nicht aus Almaty nach Moskau fliegen konnte, da es keine Flüge gibt) erzählte: Kaum das man eine Usbekin in der Rolle einer Einwohnerin des modernen Moskaus als Heldin vorschlägt, tun sich Regisseure und Produzenten schwer. Nun ja, aber wozu die „nationale Frage“ einbringen? … Nargis Abdullayeva, eine Schülerin des berühmten Regisseurs Mark Weil, spielte auf der Bühne seines Taschkenter Theaters „Ilchom“ Usbekinnen, Mexikanerinnen, Italienerinnen, Engländeringen und schließlich Kassandra in der letzten Inszenierung des Meisters, in „Orestie“ nach der Tragödie von Aischylos. Moskauer Casting-Direktoren tauften sie „Mädchen mit schwarzen Augenbrauen“ und offerieren wieder ein reines „Gastarbeiter-“ Repertoire. Die Frage besteht nicht darin, Offensichtlichem zu widersprechen und eine Usbekin in der Rolle eine Russin zu drehen (die Leinwand betrügst du nicht), sondern darin, dass unser Film sich nicht beeilt, die deklarierte Multinationalität der Russischen Föderation (der Metropolie der einstigen Imperiums) widerzuspiegeln. 

Bisher ist „Nichtformat“ noch nicht in die Form eines Theaterstücks „gegossen“ worden. Die szenische Lesung des Stücks erfolgt in dem Regime work-in-progress. Das heißt, sie wurde durch eine Diskussion mit den ersten Hörern fortgesetzt. Bemerkenswert ist, dass sie aus ihm eine Vielzahl möglicher Entwicklungswege „herausholten“. Die Autoren hatten „Nichtformat“ als ein Projekt ausgerichtet, das „die Fremdenfeindlichkeit und das Monoethnische der Kulturpolitik in Russland“ reflektiert. Und die ersten Zuschauer würdigten in ihm das allgemein menschliche Thema der Suche nach einer Selbstidentifikation. In den Monologen der Helden sind gesetzmäßig Geschichten über ihre Herkunft entstanden. Und dies sind frappierende Sujets aus dem Leben eines Landes mit dem Namen Sowjetunion. Solche phantastischen Blutsvermischungen wie in den Helden dieses Stücks kann man nicht aus dem Nichts erfinden! Taschkent (aus dem auch die Regisseurin Anastasia Patlaj stammt), Baku (die Heimat von Nana Grinschtein) und Kasan waren Städte, in denen die Kulturen verschiedener Völker in einem erstaunlichen Kessel verschmolzen wurden. Aus ihm sind ganze Theater, „Wellen“ in der Filmkunst und literarische Schulen hervorgekommen. All dies bildete das Kapital und den Ruhm der sowjetischen Kultur. Diejenigen, die aus diesen Kesseln von Städten gekommen sind, nähren nach wie vor den kulturellen Boden Russland. Traurig ist, dass diejenigen von ihnen, die den Beruf eines Schauspielers gewählt haben, hier hören müssen: „Entschuldigen Sie, aber Sie sind ein Nichtformat“.