Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Kiew setzt auf die Vorzüge der westlichen „Waffen“


Im Vorfeld des ersten Jahrestages der militärischen Sonderoperation der Russischen Föderation in der Ukraine hatte man in Kiew begonnen, von möglichen „nichtstandardgemäßen“ Raketenschlägen der russischen Militärs gesprochen (die letztlich ausgeblieben sind – Anmerkung der Redaktion). Und von Wahrscheinlichkeit deren Revanche-Versuche. Als Antwort versprach man dort, also in Kiew, mit westlichen Waffen den Anstrengungen Moskaus Paroli zu bieten und im Endergebnis einen Sieg zu erreichen. Allerdings sieht dessen Erreichen immer zweifelhafter bereits auch für einen Teil von Vertretern des Westens aus. Und daher könnten sie von der ukrainischen Seite fordern, zumindest in den nächsten Monaten einen gewissen großen Erfolg zu erreichen, präzisierten russische Experten.

Die zahlreichen Überlegungen über zu erwartende Schläge der Russischen Föderation, die dem Feiertag des 23. Februars, des russischen Tages des Vaterlandsverteidigers, und dem 1. Jahrestag des Beginns der militärischen Sonderoperation, dem 24. Februar, galten und sich letztlich als Beleg dafür, wie kompetent doch einige angebliche Experten sind, erwiesen, wurden noch am Dienstag in Kiew von Meldungen über die Jahresbotschaft von Russlands Präsident Wladimir Putin an die Föderale Versammlung begleitet. Im Zusammenhang damit betonte man in ukrainischen Medien beispielsweise, dass das russische Staatsoberhaupt „ein weiteres Mal beschlossen hatte, den westlichen Partnern, die Kiew helfen, zu drohen“, und unter anderem gewarnt hätte: Je weiter die von ihnen gelieferten weitreichenden Waffen treffen werden, umso mehr müsse Moskau diese Bedrohung von seinen Grenzen verdrängen. (Russlands Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew deutete bereits an, dass dies bis an die Grenze der Ukraine zu Polen möglich sei. – Anmerkung der Redaktion).

Zur gleichen Zeit hatte der Sprecher des Kommandos der ukrainischen Luftstreitkräfte, Jurij Ignat, die Vermutung bekundet, dass die erwähnten „sakralen Daten“ mit mehreren Wellen russischer Raketenattacken begangen werden könnten. Und der Berater des Leiters des Office des ukrainischen Präsidenten, Michail Podoljak, erzählte, dass sich die russischen Militärs bemüht hätten, zum 23. und 24. Februar bereits ausgehende Raketen für eine massive dreiminütige Kaskade anzuhäufen. Vor solch einem Hintergrund kam die Empfindung auf, dass man sich vor allem in der ukrainischen Hauptstadt vorbereitet hatte, die genannten Daten zu begehen. Freilich gab es auch in Russland Befürchtungen, dass Moskau auf besondere Art und Weise an diesen Tagen agieren werde. Letztlich stellte sich jedoch heraus: Business as usual.

Bemerkenswert ist, dass auch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in einem am Dienstag veröffentlichten Interview für die Zeitung „Die Welt“ betont hatte: „In dieser Woche kann es wirklich zu einer Revanche Russlands kommen“. Jedoch konstatierte Selenskij gleichfalls, dass Russland heute geschwächt sei und kein so starkes Land sei wie vor einem Jahr. Im Unterschied zur ukrainischen Seite, die stärker geworden sei. Das Thema einer möglichen Revanche der Russischen Föderation hatte er übrigens auch im Verlauf des Blitzbesuchs von US-Präsident Joseph Biden in Kiew erwähnt. In dessen Verlauf wurde durch den amerikanischen Gast ein neues Paket militärischer Hilfe für Kiew über eine Summe von rund 500 Millionen Dollar bekanntgegeben, nach Aussagen Selenskijs ein Signal dafür, dass die russischen Versuche einer Revanche keinerlei Chancen hätten.

Nach all diesen Statements kamen die Autoren aus dem US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) zu der Annahme, dass Präsident Selenskij ein wenig die Rhetorik hinsichtlich Bachmuts unter dem Einfluss der USA abgeschwächt hätte. Dennoch sei die Ukraine in der Lage, im Jahr 2023 die Initiative unter der Bedingung einer ausreichenden und rechtzeitigen militärischen Unterstützung des Westens zurückerlangen könne, konstatierte die ISW-Analytiker. Und sie erläuterten, dass sie solche Schlussfolgerungen ausgehend davon gezogen hätten, dass Präsident Selenskij und der ukrainische Verteidigungsminister Alexej Resnik die Fortsetzung der Vorbereitungen der ukrainischen Streitkräfte zu einer Gegenoffensive erklärt hatten. Sie erinnerte gleichfalls an die Worte von Fjodor Wenislawskij, des Mitglieds des Ausschusses für nationale Sicherheit in der Werchowna Rada (das Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion), wonach die Russische Föderation all ihre Kampfeinheiten an der Frontlinie in den Verwaltungsgebieten Lugansk, Donezk und teilweise Saporoschje stationiert hätten.Eine derartige Erklärung hielten die ISW-Experten für eine Bestätigung eigener Annahmen, wonach die Russische Föderation nicht die nötige Reserve ausgebildeter Militärs habe, um mit deren Verlegung an die Front den Verlauf der Operation zu verändern.

Derweil war scheinbar auch eine derartige Prognose an und für sich vom ausgewiesenen Institut, das man in Russland gern Strukturen der amerikanischen Aufklärung zurechnet, dazu bestimmt gewesen, eine propagandistische Rolle im Vorfeld des ersten Jahrestages der international umstrittenen russischen militärischen Sonderoperation zu spielen.

Nach Meinung des Chefredakteurs des russischen Internetportals „Arsenal des Vaterlandes“, Dmitrij Drosdenko, würden die ausgewiesenen Statements einen offenkundig rituellen Charakter tragen. Wie auch die Wertungen von Wladimir Selenskij hinsichtlich einer möglichen Aufgabe von Bachmut (im russischen Sprachgebrauch: Artjomowsk), die während des Besuchs des US-Präsidenten Joseph Biden zu vernehmen waren. Obgleich von der Zweckmäßigkeit eines Verlassens der Stadt zuvor auch der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Valerij Sluschnij, und Mark Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, gesprochen hätten, erinnerte Drosdenko. Dabei kommentierte er gleichfalls die Aussage des ukrainischen Experten Oleg Schdanow über die Vorzüge der westlichen „Waffen“ im Vergleich zum russischen „Fleisch“ (den Menschenressourcen). Der Chefredakteur des Internetportals „Arsenal des Vaterlandes“ bekundete Empörung darüber, dass sich der ukrainische Militäranalytiker erlaubt hätte, so die an der Front kämpfenden Männer zu bezeichnen. (Drosdenko vergaß dabei offenkundig, dass der Sprachgebrauch im russischen Staatsfernsehen in Bezug auf die ukrainische Seite auch oft unter die Gürtellinie geht. – Anmerkung der Redaktion).

Es sei daran erinnert, wie sich am Dienstag der Kiewer Militärexperte Oleg Schdanow ausdrückt: Russlands Überlegenheit hinsichtlich der Menschenressourcen sei für die Ukraine kein kritisches Problem. „Natürlich ist die Bevölkerungszahl bei uns geringer als in der Russischen Föderation, mindestens um das 3fache. Vergessen Sie aber nicht, dass wir heutzutage eine Überlegenheit bei der Ausrüstung der Armee haben werden. Das heißt: Eisen gegen Fleisch“, argumentierte Schdanow auf entsprechende Fragen von Followern im Internet.

Der leitende Experte des Russischen Instituts für strategische Studien Oleg Nemenskij kommentierte für die „NG“ die aktuelle Situation und merkte an, dass sowohl der Westen als auch die Ukraine heute in einer schwierigen Lage seien. Da ab dem Frühjahr vergangenen Jahres, genauer gesagt;: ab April-Mai, nach dem Scheitern der Verhandlungen von Istanbul, die westlichen Vertreter Kurs auf das Erreichen eines militärischen Sieges über Russland genommen hätten. Augenscheinlich hätten sie an dessen Möglichkeit bei recht begrenzten Waffenlieferungen für die Ukraine geglaubt. Und obgleich die ukrainische Seite bestimmte militärische Erfolge an der Frontlinie erreicht hätte, sei heutzutage klar, dass ihr künftiger Sieg nicht nur weit, sondern auch recht zweifelhaft sei. Jetzt aber, da neue Wahlkampagnen heranrücken würden, vor allem in den USA, könne man dort schon nicht die Fehlerhaftigkeit der eigenen Strategie anerkennen. Unter diesen Bedingungen hätte man in Washington wahrscheinlich entschieden, den Versuch zu unternehmen, die bisherige Linie zu ändern, nachdem man prinzipiell die militärische Unterstützung für die Ukraine forciert hätte, obgleich sich deren Umfang als ein eingeschränkter erweisen könne. Bekanntlich seien die sowjetischen Waffen in den westlichen Depots ausgegangen, und Lieferungen westlicher Waffen seien zwar für die dortige Lobby von Vorteil, würden aber Risiken für die generelle Sicherheit in sich bergen. Und daher sei nicht ausgeschlossen, dass man jetzt Kiew die Aufgabe stellen werde, wenn nicht einen Sieg, so zumindest einen großen militärischen Erfolg zu erreichen, beispielsweise im Gebiet von Melitopol. Um weiter Verhandlungen mit Moskau von besseren Positionen aus zu beginnen. Dabei würden aber die ukrainischen Offiziellen auf jeden Fall gezwungen sein, dieses Spiel zu spielen, meinte der Experte des Russischen Instituts für strategische Studien Oleg Nemenskij.