Das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche (ROK) ist irgendwie traurig gestimmt. Er hielt eine Rede, wonach „jeglicher denkende Mensch“ auf den Weltuntergang bereit sein müsse. Möglicherweise haben diese Traurigkeit nicht nur die gottesdienstlichen Lesungen gemäß dem Kirchenkalender geweckt, sondern auch die irdischen Probleme, die die Kirche in den Beziehungen mit dem Staat verfolgen.
Patriarch Kirill warf den Beamten eine Missachtung der Meinung seitens der Kirche bei der Planung von Projekten zur Entwicklung in den Regionen vor. Er deutete mögliche Konflikte an. Den Mönchen auf den Solowezkij-Inseln riet er, sich ungenannten Feinden „zu widersetzen“, „führende“ und keine „geführten“ zu sein. Früher hatte sich der Patriarch darüber beklagt, dass die Beamten Informationskampagnen über seine Reichtümer als Antwort auf die Kritik der Offiziellen initiieren würden.
Das gesamte Geschehen löste die Vermutungen aus, dass die Beziehungen der Präsidialadministration und der Kirche zerrüttet seien. Zu einem Riss zwischen der ROK und denjenigen, die die Innenpolitik des Landes gestalten, kam es bereits im Frühjahr, als man von den Bischöfen forderte, die Kirchen in der Zeit der Quarantäne zu schließen. In den letzten Monaten sind die sichtbaren Anzeichen für eine Nähe der Kirchenführung zur Landesführung beinahe verschwunden. Wladimir Putin wohnte nicht der Weihe der wichtigsten Kirche der Militärs bei, übernahm dafür aber zu Ostern erstmals die Rolle des geistigen Führers der Nation, indem er die Glückwünsche zum diesem Christenfest mit einer politischen Ansprache an das Volk verband.
Es stellte sich heraus, dass zusammen mit dem Verzicht auf eine betonte Demonstration des „Zusammenwirkens“ von Kirche und Herrschenden das reale Ausfüllen der Privilegien der ROK eingestellt wurde. Nach den symbolischen Gesten in der Art der Osterbotschaft an die Nation begannen die Steuermänner des Staates, die Kirche bei der finanziellen Versorgung der Projekte, die eine ideologische Bedeutung besitzen, zu umgehen. So war es im Prozess der Errichtung der Kathedrale im Park „Patriot“. Und so ging es mit den Plänen für eine großangelegte Umgestaltung der Solowezkij-Inseln und des sich dort befindlichen berühmten Klosters weiter, worüber sich im Grunde genommen auch der Patriarch beklagte.
Möglicherweise haben sich die Beziehungen des Staates mit der ROK unter den Bedingungen der zunehmenden politischen Turbulenzen auf ungewöhnliche Weise verkompliziert. Es stellte sich heraus, dass die geistlichen Führer nicht gerade sehr erfolgreich die übernommene Rolle eines Garanten für die gesellschaftliche Stabilität erfüllen. Solch ein „Konkordat“ war einst zwischen der Russischen orthodoxen Kirche und den Herrschenden abgeschlossen worden. Und lange Zeit hatte man im Interesse eines freien Agierens für den sozial nützlichen Klerus über ein geringes Abgehen vom Prinzip der Säkularität des Staates, wie es in einem russischen Film hieß, „hinweggesehen“, die Augen davor ein wenig verschlossen. Sie jetzt aber wieder leicht geöffnet.
Und was hat man da zu sehen bekommen? Die Kirche kann auf katastrophale Weise keine gemeinsame Sprache mit der jungen Generation, die immer mehr soziale und politische Aktivität an den Tag legt, finden. Der Klerus stützt sich auf Schablonen, die nicht den dringenden Bedürfnissen in der neuen, offenen Gesellschaft entsprechen. Die konservative Welle mit dem einem leid gewordenen Jammern über den gegen Russland angetretene Zustand einer fehlenden eingeschlechtlichen Spiritualität hat sich an der Gleichgültigkeit der Menschen zerschlagen. Wenn im Land politische Instabilität beginnt, werden die Kirchenvertreter mit ihren moralischen Werten, die bisher keiner klar definiert hat, die Leidenschaften nicht beruhigen und die Führungselite nicht vor der Elementarkraft der Menge schützen.
Den Misserfolgen liegt die organisch der orthodoxen Kirche eigene Irrationalität des Herangehens an die Realität zugrunde. Der Klerus vermochte nicht, nichts Originelleres als den Kult der Gefühle der Gläubigen hervorzubringen. Die junge Generation braucht aber messbare Parameter für die gesellschaftlichen Werte. Die Kirche bereitet sie aber auf ein rückständiges Existieren unter den Bedingungen einer offenen Wirtschaft. Und ihre eigenen Positionen ist sie nicht zu ändern in der Lage.
Der politischen Stabilität der letzten Jahre lag das Projekt einer Ersetzung der kommunistischen Ideologie durch die Konzeption geistiger Klammern zugrunde, in der nicht die einzige, aber eine wichtige Rolle den Klerikern eingeräumt wurde. Vor unseren Augen degradiert dieses Projekt. Und die Differenzen zwischen den „Hirten“ und Beamten gelangen an die Oberfläche.