Im Moskauer Gogol-Theater, dem international weit bekanntgewordenen Gogol-Zentrum, hat eine Zusammenkunft der Truppe stattgefunden, bei der der neue künstlerische Leiter Anton Jakowlew sein Manifest vorstellte und über Pläne für die Spielzeit 2022/23 berichtete. Das Ensemble, in dem jetzt 56 Personen Thalia, der Muse der Theaterkunst, dienen werden, ist durch eine beispiellose Anzahl neuer junger SchauspielerInnen (25) aufgefüllt worden, fast alle sind gestrige Absolventen hauptstädtischer Theaterhochschulen. Denn gleich nach der Auswechselung der Leitung hatten die Schüler von Kirill Serebrennikow – Mimen des „Siebenten Stuios“ – das Theater verlassen.
Als Gegengewicht zu den „jungen Hüpfern“ hatten auf der anderen Seite des Saales bei der Zusammenkunft der Truppe Veteranen des Gogol-Theaters Platz genommen, all jene SchauspielerInnen der älteren und mittleren Generation, die in den letzten zehn Jahren vom Wesen her nicht gearbeitet hatten, da sie nicht gefragt gewesen waren. Der eine oder andere von ihnen erlebt bereits die vierte Wiedergeburt des Hauses: Boris Golubowskij, Sergej Jaschin, Kirill Serebrennikow – und da hat jetzt Anton Jakowlew das Amt des Chefregisseurs übernommen.
Gerade dieser Teil des Ensembles ist heute glücklich. Sie hatten auf einen Machtwechsel im Theater gewartet und fast schon nicht mehr damit gerechnet! Zusammen mit ihnen konnte man auch jene „Glücklichen“ sehen, die im Repertoire des Gogol-Zentrums aktiv zum Einsatz gekommen waren, indem sie sich aus dem „alten“ Gogol-Theater auf die Seite des Serebrennikow-Teams geschlagen hatten – Irina Wybornowa, Olga Naumenko und Anna Guljarenko. Die Schauspielerinnen fühlten sich weniger inspiriert. Bei der Zusammenkunft waren nur nicht Maja Iwaschkewitsch und Swetlana Bragarnik zugegen. In diesen vergangenen zehn Jahren waren sie eine wahrhaftige Bande zwischen dem alten und dem neuen Theater.
Noch eine Gruppe von SchauspielerInnen war die, die den neuen Kurs des Hauses besonders feiert – jene, die zur Schauspieler-Gewerkschaft gehörten und nach Aussagen ihres Chefs, der Mime des Hauses (seit 1991) Andrej Andrejew, ständigen Druck seitens der Direktion von Serebrennikow zu spüren bekommen hätten, da diese sie nach Andrejews Behauptung für unnötigen Ballast gehalten hätte. Jetzt freuen sie sich beispielsweise, dass bald wieder Soldaten aus der benachbarten Einheit organisiert und auf Befehl in den Zuschauersaal kommen können und sie auch das „Gefühl des Ekels“ aufgrund der der Geschichte anheimgefallenen Inszenierungen endlich verlassen wird. Sie sind auch der Auffassung, dass der „Fall des „Siebenten Studios““ ein für dessen Angeklagten absolut verdienter gewesen sei.
Etwas abseits saßen die jungen SchauspielerInnen, die in der Truppe geblieben sind, aber doch nicht zum Team des „Siebenten Studios“ gehört hatten (Sergej Murawjow, Maria Lapschina, Olga Dobrina u. a.) und bisher nicht gegangen sind. Es ist aber ersichtlich, dass sie kurz vor solch einer Entscheidung stehen. Sich den Auftritt des neuen künstlerischen Leiters anzuhören, war für sie schwer. Und dies ist nicht erstaunlich. Anstelle der modernen Neon-Buchstaben „GZ“ ein bedrückendes Profil Gogols. Derart ist nun das neue Logo des Theaters. Anstelle einer Atmosphäre von Freiheit und eines ungezwungenen Dialogs – fast eine Komsomol-Versammlung mit dem offiziösen Verlesen eines hochtrabenden Manifests vom Präsidium aus, in dessen philosophischen Ergüssen es stellenweise schwer gewesen war, sich nicht zu verirren…
„Dieses Manifest kann man als einen schriftlichen Appell interpretieren. Wir haben kein Recht auf Mutlosigkeit, Wirren, Nihilismus und Hass. Man muss in sich die Unmittelbarkeit eines Kinders wiederauferstehen lassen, um aus der Sicht eines vernünftigen Idealismus auf die Welt zu blicken. Die neue ästhetische Konzeption des Theaters muss sich auf einen Kontrast mit seiner Vergangenheit gründen. Anstelle der offenkundig in eine Sackgasse geratenen postmodernistischen Philosophie könnten wir dem Zuschauer eine neue anbieten, eine metamodernistische. Man muss zu einer tiefgründigen Wahrhaftigkeit zurückkehren“, entwickelte der neue künstlerische Leiter seinen Gedanken weiter. „Nötig ist eine Suche nach der Schönheit anstelle einer Ironie über sie, eine Inspiration anstatt Zynismus. Man muss aufhören, sich erhabener menschlicher Gefühle zu genieren, indem man sie mit Sarkasmus verhüllt. Es ist nötig, auf eine Dekonstruktion, auf Chaos und Unglauben zu verzichten, von einer Misanthropie und Melancholie abzugehen. Es muss das Geheimnis des Theaterprozesses wiedergeboren werden, indem eine respektvolle Distanz zwischen dem Zuschauer und Schöpfer geschaffen wird. Es muss nach dem Lichten gestrebt werden, wobei vom eigenen viehischen Ansatz abgegangen wird“. „…Wir müssen uns bemühen, ein Theater zu schaffen, das frei von der momentanen gesellschaftlichen Konjunktur und einer vulgären Sozialität ist“, schloss Anton Jakowlew seinen weitschweifigen Monolog ab.
Die Hauptaufgabe des Manifests war ungeachtet des pathetischen Stils und des Appellierens an Stanislawskij und Wachtangow, mit jedem Satz starke Nägel „in den Deckel für den Sarg“ der Serebrennikow-Ära einzuschlagen. Der Name von letzterem war im Übrigen nicht ein einziges Mal laut ausgesprochen worden – betont, allerdings erwartungsgemäß.
„Anfangs war es kränkend gewesen. Später aber war ich gekommen, um ein Stück anzusehen, und begriff: Dies ist nicht meins. Ich bin aber die ganze Zeit gekommen und dachte: Aber vielleicht doch? Da war ich zu der Aufführung „Shakespeare“ gekommen. Wo war da aber Shakespeare? Worum geht es? Nun, man zieht sich aus, stehen Nackte herum. Dies war ständig gewesen. Und man schimpfte mit Argo herum. Nun, schert euch doch ins Badehaus, da sind alle nackt!“, formulierte die Schauspielerin Jelena Bortnik ihre Eindrücke vom Gogel-Zentrum gegenüber der „NG“, die 1964 ins Gogol-Theater gekommen war und jetzt endlich auf eine neue Etappe des künstlerischen Lebens wartet, nachdem sie die ganze „Herrschaft“ Serebrennikows auf der Reservebank gesessen hatte und dabei ein Gehalt entsprechend dem minimalen Tarif erhielt, das einem Arbeitslosengeld entsprach. „Solch eine Stress-Situation war das damals gewesen, dass viele einfach nicht überlebten. Da gab es die Verdiente Künstlerin Ljusja Dolgorukowa. In der Nacht nach jener Versammlung ist sie verstorben“, jammerte die Schauspielerin, als sie sich des Jahres der Ernennung von Kirill Serebrennikow erinnerte.
Ist es um solche SchauspielerInnen bedauernswert und kränkend? Sehr! Ist aber nur Serebrennikow allein an solch einer Situation schuld gewesen? Der Beruf eines Schauspielers – was ist er doch für ein ungerechter! Da sitzt du und wartest auf deinen Regisseur, doch die Zeit geht ins Land. Es ist offensichtlich, dass in diesen zerbrochenen Schicksalen die Beamten nicht die letzte Rolle spielen, die die Intellektuellen gegeneinander aufbringen. Vor zehn Jahren hatte man mit einem Schlage Jaschin entlassen, einen guten Regisseur der alten Schule. Jetzt hat man den linken avantgardistischen Serebrennikow gefeuert und Jakowlew – einen Regisseur einer völlig anderen Formation, der der Schule des Maly-Theaters nahesteht – auf das Theater „angesetzt“. Und da erweist er sich nun auf einem niedergebrannten Feld.
Das Theater wird wohl mit Mühe und Not bis Silvester die Arbeit aufnehmen. Wie Direktor Alexander Botscharnikow der „NG“ erläuterte, würden zwei Namen der Kleinen Bühne wiederhergestellt, welche – dies wird bisher nicht bekanntgegeben, da bisher ein Input erfolgt. Die gesamte übrige Zeit aber werden da bis zum Winter wohl höchstens einmalige Veranstaltungen erfolgen. Die große bzw. Hauptbühne und das Foyer werden einer kosmetischen Instandsetzung und Erneuerung des Designs unterzogen. Den gesamten Sommer über hat man die Truppe aufgefüllt (wofür 600 Schauspieler zum Casting gekommen waren). Und erst jetzt beginnt man, für Premieren zu proben.
Von einem politischen Hintergrund muss gar nicht erst gesprochen werden. Es genügt, sich die Repertoire-Pläne anzuschauen. Die Stagnation beginnt, sich still und leise dieses künstlerisch kraftlosen Theaters zu bemächtigen.
„Arbeit wird für alle reichen“, versicherte der neue künstlerische Leiter der Truppe, als er die Pläne bekanntgab. Jakowlew selbst wird in den nächsten zwei Jahren auf der Hauptbühne „Ein Held unserer Zeit“, „Münchhausen“, „Die Domherren“ und den „Jüngling“ von Dostojewskij inszenieren. Beim Engagieren von Regisseuren hat er sich offenkundig an das Prinzip der Neutralität und einer bewährten Schule gehalten – keinerlei Avantgardisten. Nachdem er sich offenbar mit älteren Meistern beraten hatte, lud Jakowlew Schüler von Oleg Kudrjaschow und Sergej Schenowatsch ein (Pawel Parchomenko, Ulanbek Bajalijew, Sergej Tonyschew u. a.).
Geplant ist gleichfalls ein Regie-Labor unter dem blassen Namen „Perspektive“, in dem ein Stück von Martin McDonagh (ein irischer Dramatiker, Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent) als kühnster Repertoire-Titel aussieht. Parallele Programme, die von der neuen Direktion konzipiert worden sind, hatte es auch auf eigene Art beim Gogol-Zentrum gegeben. Folglich gibt es da beinahe keine Novitäten. Eine musikalische Richtung (Betreuer ist der Komponist Andrej Subez), eine musikalisch-poetische Richtung (die erste Premiere wird eine Lesung von Maxim Awerin nach „Eugen Onegin“ sein, weiter folgen poetische Abende), ein Filmklub und ein Vortragsprogramm. Der Spielplan des Gogol-Theaters – welch Ironie des Schicksals – beginnt im Dezember wie auch einst der des Gogol-Zentrums mit „Ein Sommernachtstraum“ von Shakespeare.