Der Chefredakteur der „Nesawisimaya Gazeta“ hat den Versuch unternommen, seine Erwägungen hinsichtlich der bevorstehenden Abstimmung zu den von Präsident Wladimir Putin initiierten Verfassungsänderungen darzulegen. Für den deutschen Leser, der unter den Bedingungen einer unersetzlichen Demokratie lebt, bei der ein Regierungswechsel praktisch in keiner Weise zu einem generellen Kurswechsel des Landes führt, ist es nicht leicht, die Befürchtungen solch einer einflussreichen Schicht der russischen Gesellschaft wie der Beamtenschaft zu verstehen. Ja, und die Verstärkung der Rolle des Staates, die sich nun bereits 20 Jahre seit dem Zeitpunkt des Machtantritts von Putin vollzieht, veranlasst auch die Wirtschaftskreise, sich Gedanken über die eigene Zukunft zu machen. Von daher auch die Bedeutung des Machttransfers für die innenpolitische Situation in Russland, worüber K. Remtschukow in seinem Beitrag schreibt.
Vor einigen Jahren, noch während der dritten Amtszeit Putins, fing Michail Chodorkowskij auf einmal, von einem Machttransfer in Russland zu sprechen, von der Notwendigkeit, eine Gesetzgebung zu entwickeln, die man in erster Linie verabschieden und anwenden müsse nach… Solch eine Tagesordnung sah wie ein typisches polittechnologisches Verfahren der Opposition aus. Man muss ein positives Narrativ gestalten, damit sich die Anhänger nicht grämen, damit sich der Gang ihrer Gedanken auf ein „wunderbares Russland der Zukunft“ konzentriert, wie dies bald der andere Oppositionelle Alexej Nawalny formulierte.
In der Politik ist der Kampf von Narrativen eine Norm: eine Geschichte auf die andere, ein Wort auf das andere, eine Message gegen die andere…
Bei uns aber hat sich alles nach russischer Art gewichtiger und als tiefgründiger erwiesen: Auf das Narrativ der Opposition über einen Machttransfer antworteten die Herrschenden mit der Verfassungsänderung „über ein Resetten“. Diese meine Hypothese habe ich mehrfach geäußert. Und da lese ich heute in der Zeitung „RBC“ den Kreml-Hauptverfassungsverfechter (Konstitutionalist) Andrej Klischas. Und meine Hypothese fand eine erschöpfende Bestätigung. Urteilen Sie selbst! Hier ist, was A. Klischas sagt:
„…Die Menschen, in erster Linie die gewisse politische Klasse, die Beamten, Parlamentarier, unsere großen Politiker, die Regierungsmitglieder, sie müssen aufhören, an einen Transfer zu denken. Sie müssen aufhören, darüber Gedanken anzustellen, wer da der Nachfolger sein wird, wann dies erfolgte und so weiter.
Diese Änderung erlaubt uns, das Thema der Nachfolger, des Transfers und so weiter auszuklammern und jene zu zwingen, die sich mit der staatlichen Verwaltung befassen, sich mit ihrer Angelegenheit zu beschäftigen. Das heißt, aufzuhören darüber nachzudenken, was dann sein wird. Sie müssen sich in einem gewissen Sinne an den Gedanken gewöhnen, dass dann alles so sein wird, dass der Präsident erneut gewählt werden kann, wenn die Menschen diese Verfassungsänderungen unterstützen. Die Herauslösung des Themas des Transfers und der Nachfolger aus der aktuellen politischen Tagesordnung, das ist eine sehr wichtige Sache, denn heute muss man sich wirklich mit aktuellen Angelegenheiten befassen, da in der Wirtschaft eine schwierige Situation herrscht, und die äußere Situation ist keine einfache. Die Politiker und Staatsfunktionäre müssen sich mit ihrer Angelegenheit befassen und nicht spekulieren und hinsichtlich dessen Überlegungen anstellen, was sich nach 2024 im Land ereignen wird.“
Wir haben natürlich vermutet, dass sich die aktuelle Tagesordnung der Elite nicht ausschließlich durch die Suche nach Wegen für ein Herausführen des Landes aus der Krise erschöpft wird. Dass sich aber ihre latente Neigung zu Treuebruch und Verrat bei der Suche nach Besserem praktisch im Klartext abzeichnet, hatte man nicht erwartet. Es hat sich gleichfalls herausgestellt, dass das Bild von der „lahmen Ente“ nicht nur für Amerika aktuell ist.
Der Wunsch, dass die Menschen nicht an die Zukunft denken, als Hauptmotiv der wichtigsten (Verfassungs-) Änderung ist ein utopisch unerwarteter. Dafür erklärt er uns aber, warum die Offiziellen so hartnäckig auf die Suche nach Klammern in der Vergangenheit fokussiert sind, weshalb kein Bild von der Zukunft festgeschrieben wurde, wieso keiner sagen kann, wie unser gesellschaftspolitisches und Wirtschaftsideal aussieht.
Es sei noch einmal daran erinnert, wer die Hauptlehre aus der Geschichte nicht begriffen hat: Stärker als eine gemeinsame Vergangenheit vereint die Menschen das Bild von einer gemeinsamen Zukunft! Nun, und natürlich darf man auch nie vergessen, dass das bekannteste Transformationsprojekt der Menschheit Erfolg hatte, weil Noah die Arche vor der Sintflut gebaut hatte. Vor der Sintflut…