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„La Traviata“ im Geist eines „Dance Macabres“


In der Sankt-Petersburger Music-Hall hat die Premiere der Verdi-Oper „La Traviata“ in der Regie von Natalia Indeikina unter der musikalischen Leitung von Fabio Mastrangelo stattgefunden. In der Titelrolle glänzte die Sopranistin Nazia Amineva.

Diese „Traviata“ wurde wohl zu einer der traurigsten und düstersten unter den jemals gesehenen und gehörten. Wenn man berücksichtigt, dass bereits ganz am Anfang über der Bühne zwei gigantische knochendürre Hände raubtierartig hervorragen, so konnte man alles, was sich weiter ereignet, zum Genre „Dance Macabre“ oder zu den Totentänzen rechnen, wobei man sich der Verse Puschkins aus „Szene aus dem „Faust““ erinnerte, wonach „uns alle gähnend der Sarg erwartet“. Entsprechend der Regie-Konzeption spielt Violetta Valéry hier ein Spiel um ihr Leben gegen den Tod an sich, der in Gestalt eines halbnackten Jünglings in transparentem schwarzen Organza-Stoff mit einer Halskrause und in Form eines Totenschädels geschminkt personalisiert wurde. Dieser ideal gebaute muskulöse Bursche ist ihr schwarzer Engel oder Dämon, der ihr etwa wie Mephistopheles Goethe’s Faust „zum Dienen beigestellt wurde, seit sie den Weg der Traviata oder „Abgekommenen“ betrat. Er beherrscht ihre Gedanken wie ein schwarzer Gott. Und in einem der Momente inszeniert die Regisseurin solch eine riskante Szene, in der Violette betend die Hände faltet, wobei sie sich an ihn wie an den „Erlöser“ wendet. Aber dieser Schönling namens Tod verliert seine Stärke zu dem Zeitpunkt, an dem die Heldin die Liebe ihres ganzen Lebens – Alfredo – trifft und sich daher mit aller Leidenschaft auf eine Verabredung einlässt, wobei sie fleht, das Unweigerliche aufzuschieben.

Die Regisseurin hat zusammen mit der Bühnenbildnerin Julia Golzowa eine glamouröse schwarz-weiße Geschichte mit einem Anflug von Dunkelblau darüber gestaltet, wie wenig Wahrhaftiges und Lebendiges es im Leben gibt, wie viel Mechanisches, gedankenlos Verbrennendes, Vergängliches… Hier scheint man auch nicht zu leben, sondern in einer chimären, verrauchten, luftleeren und illusorischen Welt eines Zwielichts zu existieren. Der Chor vollzieht in diesem symbolischen Raum erlernte Puppenbewegungen einer Schickeria, wo alle „wie alle“ sowohl gekleidet sind als auch sich benehmen sowie ausgetretene Wege wie Zombies beschreiten. Die Choreografin Maria Koloschwari hat in das Handlungsgewebe auch ein Corps de ballet von Menschen in verwesten und asche-farbigen Chlamiden eingeflochten – das Gefolge des Todes, das aufgesetzt aufdringlich unter den Lebenden herumhuscht. Als ein Symbol des Zufalls treten gigantische schwarze Kugeln auf, in denen ein Wirrwarr von Bedeutungen steckt: von einer Billardkugel bis zu einem Erdball. Hier schenkt man sich nicht rote Rosen, sondern schwarze – Embleme der Trauer. Weiße Rosen tauchen im zweiten Akt auf, wo wir eine glückliche Violetta antreffen, für die sich die Chance ergeben hat, zusammen mit Alfredo zum Licht zurückzukehren.

Diese Inszenierung erwies sich für viele aufgrund des Festivals „Oper für alle“ als eine bekannte, bei dem sie im vorletzten Sommer auf dem Paradeplatz am Katharinen-Palast in Zarskoje Selo vor den Toren der Newa-Metropole vorgestellt wurde. In der Music-Hall ist ein sehr wichtiger inhaltlicher Teil hinzugefügt worden – Videoaufnahmen, die eine effektvolle Pariser Chronik an der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert vermittelten und im 3-D-Format gestaltet wurden. Und gerade diese ausgezeichneten schwarz-weißen Archivaufnahmen, auf denen Menschen der vergangenen Epoche in luxuriösen Exterieurs und Interieurs zu sehen waren, passten nicht ganz mit den bereits fertigen Dekorationen und Kostümen zusammen, die für die Open-Air-Aufführung ausgelegt worden waren, bei der man ohne die gewohnten „angedeuteten Symbole und Anspielungen“ auskommen konnte. In einem geschlossenen Saal hätte man gern eine andere Detaillierung, filigranere Blickwinkel und Silhouetten und sogar ein anderes Farbspektrum, das mit der üppigen Ästhetik des Fin de siècle vergleichbar ist. Dafür hatte sich aber das Orchester auf eine „intime Verbindung“ mit den Archivaufnahmen der Filmchronik eingeleitet. Dirigiert wurde es von Fabio Mastrangelo, wobei er einen subtilen ästhetischen Widerhall gestaltete. Bereits im Preludio schickte sich das Orchester feinfühlig, irgendwie gar dekadent an, die tragische Geschichte eines so ungerecht kurzen Augenblicks einer Liebe, das heißt, mit anderen Worten – des Lebens an sich, zu erzählen. Die Streicher im Orchester klangen versteckt, beängstigend gespenstisch, beinahe leblos, als ob aus dem Jenseits, wie bei einem Negativ eines Filmstreifens, wobei der Zuhörer in eine Geisterwelt hineingezogen wird.

Es macht Sinn, „La Traviata“ dann zu inszenieren, wenn dem Dirigenten eine wahre Violetta zur Verfügung steht, eine schlanke Sängerin mit schauspielerischem Talent und einer schönen, reichen Stimme, die bereit ist, die verschiedenen emotionalen Zustände der Heldin darzustellen – von einer kalten Koloratur bis zu einer dramatischen Hochspannung. Als die hat sich Nazia Amineva erwiesen – eine wunderbare Kamelie der Inszenierung. Sie fesselte die Aufmerksamkeit des Saales bereits ab der ersten Note, wobei sie das Gehör mit ihrer beinahe elektrisch aufgeladenen Stimme erreichte und berührte. Ihre Rollen-Führung frappierte durch die Nachdenklichkeit und Ernsthaftigkeit sowie Berechnung jeder Wendung in der Handlung, durch die plastische Gestaltung der Körperhaltungen und durch das Gefühl für den Nerv ihrer Partie (Rolle). Sie wurde nicht nur zum Objekt der leidenschaftlichen Liebe des inbrünstigen Alfredo, sondern auch zu einer Unterstützung für den Debütanten in dieser Partie, für Dmitrij Grigorjew, der sich an einigen Stellen, besonders im ersten Akt, an der Grenze eines Stimmenabbruchs bei den obersten Noten befunden hatte, aber wie durch ein Wunder den Atem behielt und es bis zur „Zielgeraden“ schaffte. Zusammen bildeten sie ein harmonisches Duett von Brünetten franko-italienischen Aussehens. Und das Fundament des Stils für sie, der Leitstern sowohl hinsichtlich der Rolle als auch in Bezug auf den darstellerischen Status war der Bariton Vassily Gerello (vom Petersburger Mariinsky-Theater – Anmerkung der Redaktion) in der Rolle des Giorgio Germont, wobei er regelmäßig gemäß dem Szenarium an die Regeln eines guten Tons und einer glücklichen Ehe erinnerte, die sich für Violetta und Alfredo leider nur im Himmel als möglich erwies.