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Lebensmittel aus eigenem Land helfen nicht beim Sparen


Laut Angaben des Föderalen staatlichen Statistikdienstes (Rosstat) sind die Realeinkommen der Bürger der Russischen Föderation im zweiten Quartal um acht Prozent zurückgegangen. Das Quartal ab April bis einschließlich Juni des laufenden Jahres hat damit den Staffelstab in Sachen Rückgang der Einkommen übernommen, der mit geringen Unterbrechungen bereits das siebte Jahr weitergereicht wird. Im vergangenen Jahr hatte Rosstat retrospektiv den Einbruch der Einkünfte seit 2013 von 10,2 auf 8,3 Prozent korrigiert. Traditionell reagieren die Bürger auf solch einen Rückgang mit einer Reduzierung des Konsums, wobei unter anderem auch am Essen gespart wird. Doch während man früher sparen konnte, indem man auf teurere und qualitativ hochwertiger Importprodukte verzichtete, so garantiert nunmehr ein Verzicht auf Importiertes keine Einsparung, denn die Importsubstitution führte im Endergebnis zu einer Verteuerung. 

Die real zur Verfügung stehenden Geldeinkünfte der Russen sind also im zweiten Quartal des Jahres 2020 um 8 Prozent auf das Jahr hochgerechnet gefallen. Selbst ungeachtet dessen, dass das Statistikamt seine Angaben hinsichtlich des ersten Quartals aufbesserte und jetzt die Realeinkommen im Zeitraum Januar-März nicht um 0,2 Prozent zurückgingen, wie zuvor gemeldet worden war, sondern um 1,2 Prozent angestiegen sind, kann man sagen, dass der generelle Trend der letzten Jahre ein negativer bleibt.

Die real zur Verfügung stehenden Geldeinkünfte sind das Geld, die nach den obligatorischen Zahlungen unter Berücksichtigung der Inflation übrigbleiben. Innerhalb des halben Jahres sind sie um beinahe vier Prozent gesunken. Nach der Neuberechnung gemäß der neuen Methode ist den Rosstat-Daten nach zu urteilen der Wert in den Jahren 2013-2018 um maximal 5,6 Prozent zurückgegangen. Doch insgesamt haben die Bürger Russlands laut einigen Schätzungen seit der letzten Krise bereits bis zu zwölf Prozent der Einkünfte verloren. 

Und die erste Reaktion der Bürger Russlands auf die neue Krise ist der Übergang zu einem eingeschränkten Konsum. Selbst ungeachtet dessen, dass vor dem Hintergrund der Coronavirus-Isolation im April eine sprunghafte Nachfrage zu beobachten war. In erster Linie kaufte man billige Lebensmittel ein. Der Anstieg der Preise für Lebensmittel hielt sich laut Angaben der Zentralbank nach dem April-Spitzenwert von 0,92 Prozent im Mai und Juni auf einem Stand von 0,24 Prozent. Hinsichtlich einiger Positionen sind jedoch die Preise weitaus ernsthafter in die Höhe geschnellt. 

Im Astrachaner Gebiet, in der Verwaltungsregion Krasnodar und im Gebiet Wolgograd hat beispielsweise die Melonenernte begonnen. Und die Preise für die ersten Melonen-Lieferungen sind um Durchschnitt um das 1,5-fache höher als im Jahr 2019. Bis auf den Stand von vor fünf Jahren sind die Preise für frühe Äpfel angestiegen, teilt EastFruit mit. Das hänge damit zusammen, dass durch Frühjahrsfröste, die sich gerade in der Blütezeit der Gärten ereignet hatten, die Fruchtansätze zu 40 bis 60 Prozent kaputtgingen. Und eine Ersetzung der Apfellieferungen durch Importe ist, woran erinnert sei, durch die anhaltenden Embargo-Maßnahmen eingeschränkt.     

Dabei könne der Nationale Verband der Erzeuger von Obst und Gemüse eine Antidumping-Untersuchung hinsichtlich der Lieferungen von Importäpfeln in die Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion initiieren, teilte Michail Gluschkow, Direktor des Obst- und Gemüseverbands, mit. 

Hinsichtlich jener Positionen, wo die Restriktionen kein solch strengen wie in Bezug auf Äpfel sind, zum Beispiel bezüglich des Tomatenimports aus der Türkei, fordern faktisch die einheimischen Erzeuger, die Preise anzuheben. Mitglieder des Nationalen Verbands der Erzeuger von Obst und Gemüse haben sich mit einem Schreiben an das Landwirtschaftsministerium gewandt, in dem sie auf die Anwendung eines 80-Prozent-Zolls für Importtomaten bestehen, meldete die Nachrichtenagentur Interfax. Sie sind sich sicher, dass man eine Quotierung für die Einfuhr von Tomaten aus der Türkei beibehalten müsse.

Zuvor hatte man im Ministerium von Dmitrij Patruschew eine Aufstockung der Quote für türkische Tomaten im Zusammenhang damit nicht ausgeschlossen, dass das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung dem Landwirtschaftsministerium vorgeschlagen hatte, die Variante einer Aufhebung der Importquote für Tomaten aus der Türkei zu prüfen. Nach dem Zwischenfall mit dem abgeschossenen russischen Militärflugzeug in Syrien (am 24. November 2015 durch einen türkischen F-16-Kampfjet – Anmerkung der Redaktion) hatte die Russische Föderation den Import einiger Kategorien von Gemüse aus der Türkei verboten. Derzeit erfolgt die Einfuhr von Tomaten aus diesem Land entsprechend von Quoten. Anfangs lag sie bei 50.000 Tonnen und später bei 200.000 Tonnen. Die russischen Erzeuger motivieren derweil ihre Position damit, dass sie in diesen Jahren für die Importsubstitution 250 Milliarden Rubel zwecks Errichtung von Gewächshäusern mit einer Gesamtfläche von 800 Hektar investiert hätten. Insgesamt sind laut Angaben des Landwirtschaftsministeriums in Russland im vergangenen Jahr 3 Millionen Tonnen Tomaten erzeugt worden, während die Einwohner des Landes 3,5 Millionen Tonnen konsumieren.   

Der russische Agrarsektor berichtet traditionell nicht über geringe Preise in den Läden, sondern über die Produktionsmengen und den Export. Es sei daran erinnert, dass die Anfang dieses Jahres verabschiedete Strategie zur Entwicklung des Agrarsektors gerade die Aufgabe einer Forcierung des Exports in den Mittelpunkt stellt, die vorangegangene – die der Lebensmittelsicherheit und der Selbstversorgung. Meistens erklärte Minister Patruschew, dass den Bürgern Russlands kein Mangel an Lebensmittel drohe. Der Agrarsektor stand in der Tat während der Corona-Quarantäne nicht still. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres ist die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte um drei Prozent angestiegen, die der Lebensmittel – um 6,9 Prozent. 

Russlands Bürger können sich aber aus dieser Fülle immer weniger leisten. Die Qualität ihrer Ration verschlechtert sich. In den vergangenen fünf Jahren haben die Einwohner der Russischen Föderation den Verbrauch von Fisch, Gemüse, Brot, Kartoffeln und Zucker drastisch reduziert. Solche Ergebnisse erhielt Rosstat im Verlauf von Befragung von 100.000 Befragten. Obgleich 95 Prozent der Befragten antworteten, dass sie keine erheblichen Schwierigkeiten mir der täglichen Verpflegungsration hätten, haben dabei nur 50 Prozent der Bürger Russlands geantwortet, dass sie sich „das Essen, was sie verzehren wollen“, erlauben könnten (siehe Printversion der „NG“ vom 12.12.2019 – https://www.ng.ru/economics/2019-12-12/4_7751_crisis.html).

Die „Nesawisimaya Gazeta“ hat auch schon dazu Daten veröffentlicht, inwieweit sich die Kaufkraft der Bürger in den letzten Jahren verringerte und wie sich dies auf die  Struktur der konsumierten Nahrungsmittel auswirkte (siehe Printversion der „NG“ vom 22.08.2019 – https://www.ng.ru/economics/2019-08-22/1_7657_food.html). Spürbar verringert haben sich die Möglichkeiten der Bürger Russlands hinsichtlich einiger Hauptpositionen auch im ersten Quaratl des laufenden Jahres im Vergleich zu den Jahresmittelwerten für 2019. An Rindfleisch konnte der Bürger Russlands im Jahr 2019 mit seinem Einkommen 104 Kilogramm kaufen. Entsprechend den ersten drei Monaten dieses Jahres – nur 90,2 Kilogramm (auf das gesamte Jahr hochgerechnet). Ja, und was das Schweinefleisch angeht, so liegen die Zahlen bei 130 bzw. 121 Kilogramm. Für Hühnerfleisch sehen die Zahlen so aus: 241,2 bzw. 223,5 Kilogramm. Und in Bezug auf Eier – 5798 bzw. 5056 Stück. 

Interessant ist, dass dieser Tage die Erzeuger von Milchprodukten aus Russland das Recht erhielten, sie für japanische Verbraucher zu liefern, wofür, wie in der russischen Aufsichtsbehörde für die Landwirtschaft Rosselkhoznadzor berichtet wurde, viele Jahre an Arbeit und Verhandlungen ins Land gegangen sind. Derweil versorgt sich Russland aber nach wie vor nicht vollkommen mit eigener Milch, sondern nur zu 84,4 Prozent. Und obwohl im Jahr 2019 31,3 Millionen Tonnen Milch erzeugt wurden, was um 2,4 Prozent mehr war als im Jahr zuvor, wird der Mangel durch Importe wettgemacht. In der Gesamtstruktur der Lebensmittelimporte machen Milch 9 Prozent und Käse 3,6 Prozent aus. 

Die Russische Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst (RAVWuSD) und die Russische Wirtschaftshochschule haben im Oktober 2019 in der Zeitschrift der Neuen Wirtschaftsassoziation eine Untersuchung veröffentlicht, laut der im Ergebnis der Importsubstitution nur hinsichtlich des Schweinefleischs, des Fleischs, Geflügels und der Tomaten nicht nur ein Anstieg der Inlandsproduktion, sondern auch ein Rückgang der Preise für sie bis auf einen Stand, der vor den Sanktionen im Jahr 2013 erreicht worden war, beobachtet wurden. Hinsichtlich der übrigen zwölf Lebensmittelgruppen sind entweder die Preise gestiegen und der Verbrauch zurückgegangen oder die Importsubstitution kam den Verbrauchern sehr teuer zu stehen (die Preise stiegen an, der Verbrauch erhöhte sich). Im Endergebnis haben die Verbraucher nach Berechnungen der Wissenschaftler jeweils 445 Milliarden Rubel (oder rund 14 Milliarden US-Dollar) im Jahr in den Preisen von 2013 verloren. 

Natalia Schagaida, Direktorin des Zentrums für Agrar- und Lebensmittelpolitik des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschungen der RAVWuSD, sagte gegenüber der „NG“, dass meistens eine Verringerung des Imports beobachtet werde, wenn sich eine Entwertung des Rubels vollziehe und die Einkünfte der Verbraucher nicht ansteigen würden. „Umso mehr, wenn sich die Abwertung unter den Bedingungen eines Rückgangs der Einkünfte der Bevölkerung ereignete, so gibt es keine zahlungskräftige Nachfrage. Sobald die Einkünfte etwas zunehmen, beginnt auch der Import zu wachsen. Und dies ist unter den Bedingungen der Importsubstitution völlig normal. Unsere Bürger müssen die Möglichkeit haben, unterschiedliche Lebensmittel zu kaufen. Wie die Erfahrungen der letzten Fälle eines drastischen Rückgangs der Importe zeigen, kann man deren Belebung nach zwei Jahren erwarten. So war es nach den Ereignissen von 1998 und 2014. Eine vollwertige Belebung der Importe nach dem drastischen Einbruch im Jahr 2015 ist nicht eingetreten, obgleich er laut den Ergebnissen des Jahres 2017 etwas angestiegen ist. Und nun aber die Pandemie, die Selbstisolierung und die Reduzierung der Einkünfte. Ergo wird der Import zurückgehen“, meint die Expertin.

Ihren Worten zufolge habe sich heute die Struktur des Imports normalisiert. „Es gibt eine dominierende Gruppe an Produkten – Früchte und Nüsse (rund 18 Prozent), was verständlich ist. Die von der Relevanz zweite ist die Gruppe der Molkereiprodukte (rund 10 Prozent). Die übrigen Gruppen sind geringer“, erklärte N. Schagaida.

Laut Berechnungen von Jekaterina Schischkina aus der RAVWuSD sei laut der Datenbank des Föderalen Zolldienstes hinsichtlich des Zeitraums Januar-Mai (aktuellere Daten liegen bisher nicht vor) nicht zu sehen, dass im Vergleich zum Vorjahr der Import von Lebensmitteln billiger geworden ist. Im Durchschnitt kostet eine Tonne des Imports in Dollar mehr als vor einem Jahr (plus 2 Prozent).