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Liebe und Blumen auf einem Friedhof


Die Verehrer des Schaffens von Gabriel García Márquez hatte bereits im vergangenen Jahr die Nachricht erfreut, dass im Frühjahr des Jahres 2024 ein nichtherausgegebenes Werk von ihm erscheinen wird. Der Schriftsteller war am 17. April 2014 verstorben, folglich ist das Erscheinen des Buches seinem 10. Todestag gewidmet worden. Das Manuskript hatte man in Archiven in der University of Texas in Austin aufbewahrt.

Und nun erfolgte die Weltpremiere, die den Anspruch erhebt, zu einem der literarischen Hauptereignisse des Jahres zu werden. In Russland erschien der Márquez-Roman „Wir sehen uns im August“ (spanischsprachiger Titel „En Agosto nos vemos“, in deutscher Sprache herausgebracht durch den Verlag „Kiepenheuer & Witsch) gleichzeitig mit den Ausgaben in spanischer und in englischer Sprache in anderen Ländern. Die Premiere des Buches an ein und demselben Tag ist ein seltenes Ereignis. So fiel beispielsweise die russischsprachige Veröffentlichung durch einen der Verlage des Landes mit dem weltweiten Erscheinen der Romane „Fire & Blood“ von George R. R. Martin (2018) und „Origin“ von Dan Brown (2017) zusammen.

Dass das neue Buch von Márquez von Liebe durchtränkt ist, begreifst du von den ersten Seiten an, wenn du anstelle eines eigentlichen Vorworts die einleitenden Worte liest, die von seinen beiden Söhnen – Rodrigo und Gonzalo García Barcha – geschrieben wurden. Márquez hatte in den letzten Lebensjahren an dem Roman gearbeitet, als er an einem Gedächtnisverlust (Demenz) litt, schreiben die Brüder im Vorwort: „Ihn versetzten der Verlust der einst unveränderlichen Arbeitsfähigkeit, die Unfähigkeit zu schreiben, in Verzweiflung. Er hatte uns aber einmal klar und umfassend – er war schließlich ein großer Schriftsteller geblieben – gesagt: „Die Erinnerung ist zugleich mein Rohstoff und mein Werkzeug. Ohne sie ist alles dahin“.

Die Geschichte des Entstehens des Romans stellen die Söhne des Schriftstellers so dar: „Wir sehen uns im August“ ist das Ergebnis seiner letzten Versuche, entgegen allem zu kreieren. Bei dem Prozess handelte es sich um ein Hin und Her eines wahrhaftigen Künstlers und Perfektionisten, dessen geistigen Fähigkeiten allmählich verlöschen… Uns war auch nur das endgültige Verdikt von Gabo selbst bekannt: „Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden“. Man kann lange über die Richtigkeit der von ihnen getroffenen Entscheidung urteilen und als Beispiel die Geschichten mit den posthumen Veröffentlichungen von Texten Franz Kafkas, Wladimir Nabokows, Michel Foucault oder Jerome David Salinger anführen. Jedoch haben die Erben wohl das Recht, so zu handeln, wie sie es für nötig erachten. Und es ist dem Leser freigestellt, sich an der Lektüre zu ergötzen oder nicht, in Abhängigkeit vom eigenen Geschmack.

Übrigens, gleichzeitig mit der Printversion des Buches erschienen ein entsprechendes Hörbuch und eine elektronische Version. Das russischsprachige Hörbuch wurde von Igor Knjasew aufgenommen, der bereits früher Bücher von Kazuo Ishiguro, Liu Cixin, Alexandra Marinina, Viktor Pelewin und anderer Autoren aufgenommen hatte. Ins Russische übersetzte das Buch Darja Sinizyna, Hochschullehrerin des Lehrstuhls für romanische Philologie an der Philologie-Fakultät der Petersburger Staatsuniversität. Früher hatte sie bereits andere Werke von Márquez übersetzt – „Hundert Jahre Einsamkeit“ (1967), „Der Herbst des Patriarchen“ (1975) und „Laubsturm“ (1948, erstmals 1955 erschienen).

Nach Auffassung der Übersetzerin sei „Wir sehen uns im August“ eher ein Kurzroman oder eine lange Erzählung. Das Buch hat 160 Seiten, die mit einer großen Schrift gedruckt worden sind. Ursprünglich hatte Márquez einen Roman aus fünf Teilen geplant, die durch eine Hauptfigur vereint sind. 1999 las er den ersten Teil von „Wir sehen uns im August“ bei einem Forum von Literaten in Madrid. „Anstatt eine Rede zu halten, überraschte er das Publikum. Er stellte die erste Variante des ersten Kapitels jenes Textes vor, den Sie jetzt in den Händen halten. Die Journalistin Rosa Mora wies in einem Beitrag für die Zeitung „El País“ aus: „Wir sehen uns im August“ wird zu einem Teil eines Buches, das noch drei weitere Novellen mit einem Gesamtumfang von einhundertfünfzig Seiten umfassen wird, und möglicherweise eine vierte Novelle, da der Autor eingestand, dass ihm vor kurzem eine interessante Idee diesbezüglich gekommen sei. Das verbindende Thema des Buches sind Liebesgeschichten nicht mehr junger Menschen“, berichtet in Kommentaren zu dem Buch der Herausgeber und Redakteur Cristóbal Pera, der die fünf Textfassungen des Romans vereinte.

Aufgrund unterschiedlicher Ursachen ist die Arbeit am Manuskript auf die lange Bank geschoben worden – Márquez veröffentlichte Memoiren, bereitete eine Jubiläumsausgabe von „Hundert Jahre Einsamkeit“ vor, vollendete eine andere Erzählung und kämpfte mit einer Krebserkrankung und Demenz-Problemen. Die Márquez-Söhne hatten es nicht vernichtet und legten es bis zu besseren Zeiten zur Seite. Und nach einigen Jahren lasen sie es erneut und begriffen: „In der Tat fehlt ihm (dem Roman – Anmerkung der Redaktion) der Feinschliff von Gabos großen Büchern, er weist ein paar Stolperstellen und gewisse Unstimmigkeiten auf, nichts jedoch, was daran hindern würde, auch hier zu genießen, was Gabos Werk auszeichnet: seine Erfindungskraft, die Poesie der Sprache, das fesselnde Erzählen, sein Menschenbild und die Zuneigung, mit der er sich den Erlebnissen seiner Figuren und deren Missgeschicken, insbesondere in der Liebe, widmet. Die Liebe – vielleicht das zentrale Thema seines gesamten Werks“ (Übersetzung entsprechend der deutschsprachigen Ausgabe des Romans „Wir sehen uns im August“ – Anmerkung der Redaktion). Wie die Übersetzerin betonte, sei der Stil lakonischer geworden, stellenweise – beinahe ein telegrammartiger. „So sind seine frühen Erzählungen inkl. des Romans „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ gestaltet“. Sicherlich hatte die Zeit, die sich bei Márquez in einem Kreis bewegt, auch in seiner Schriftstellerkarriere einen Zyklus beendet. Er kehrte zu dem zurück, womit er in den 50er Jahren begonnen hatte“, erzählt D. Sinizyna in einem ihrer Interviews. Am Ende des Buches sind neben Worten des Verlegers mehrere Scans des Originalmanuskripts veröffentlicht worden.

Die Hauptheldin – Ana Magdalena Bach (in der russischsprachigen Version des Romans. Anna) – ist eine schöne Frau von 46 Jahren mit indianerartigen schulterlangen Haaren – kehrt auf die Insel zurück, auf der ihre Mutter begraben wurde. Dieses Ritual vollzieht sie jedes Jahr: „Am 16. August nachmittags kam sie mit der Drei-Uhr-Fähre wieder einmal auf die Insel, fuhr mit ein und demselben Auto, kaufte Blumen bei ein und derselben Händlerin und brachte den Strauß frischer Gladiolen zum Grab der Mutter. Danach hatte sie nichts mehr zu tun bis neun Uhr am nächsten Morgen, wenn die erste Fähre zurückfuhr“ (kombiniertes Zitat aus der russisch- und der deutschsprachigen Version des Romans – Anmerkung der Redaktion). Der Weg zur Insel verwandelt sich für die Heldin buchstäblich in eine festgefahrene Räderspur, aus der sie nur auf der Insel ausbrechen kann, wo zu Beginn des Romans die Zeit buchstäblich innehält, sich dann aber mit jedem neuen Besuch beschleunigt und mehr an einen Marathon um Vergnügen, an ein Nachjagen nach Vergessenem und den Versuch, die beste Trophäe zu erringen, erinnert. „Vor allem aber verstand sie den Wunsch der Mutter, als sie das Leuchten der Welt von der Höhe des Friedhofs aus sah. Es war der einzige einsame Platz, an dem sie sich nicht einsam fühlen konnte. Da fasste Ana Magdalena Bach den Vorsatz, die Mutter dort zu lassen und jedes Jahr einen Gladiolenstrauß auf ihr Grab zu legen.“

Anfangs offenbart sich die Verbindung von Ana Magdalena mit der Mutter nicht so offenkundig, selbst ungeachtet ihrer achtenswerten Pilgerfahrt und der Erinnerungen daran, dass „sie zur Beerdigung fahren wollte, doch das hielt niemand für vernünftig, da nicht einmal sie selbst glaubte, den Schmerz überleben zu können“. Doch zum Ende des Romans veranlasst ihr tiefgreifendes gegenseitiges Verstehen den Leser, Mitgefühl für die Geschichte der Mutter-Tochter-Beziehungen zu empfinden und sich über den zyklischen Charakter des Lebens, aber auch die Richtigkeit der Aussage „die Tochter wiederholt das Schicksal der Mutter“ Gedanken zu machen.

Bei der Beschreibung der Insel, der Morgentoilette der Heldin, ihrer Beziehungen mit dem Gatten und der Liebesabenteuer ist ersichtlich, wie der Autor jede Zeile genießt, jedes Detail, das er beschreibt – die Reiher, die über der Luftspiegelung der Lagune schweben, die Taxi unter den Bananenpalmen, der Ceiba-Baum mit seiner breiten Krone über dem Grab der Mutter und vieles andere.

Das Filmartige der Prosa von Márquez besticht durch seinen realistischen Charakter, veranlasst, sich an dem Spiel zusammen mit seiner wunderschönen Ana Magdalena Bach zu beteiligen, die nach sich selbst sucht. Ihr erfolgreiches Leben ist zu ideal, du glaubst ihm nicht. Die ist buchstäblich ein Vorspiel, eine Möglichkeit, Vollgas zu geben, mehr Einzelheiten zu vermitteln, um sie ohne ein Bedauern wie einen illusorischen Traum zu verwerfen. Und während sich Ana Magdalena mehr Freiheit erlaubt, eröffnet sich für sie buchstäblich das Wissen darum, wie man eine rote Linie überschreiten kann, wie man nicht den Tod und eben jenes Alter, als ihre Mutter verstarb, fürchten muss.

Besonderen Raum nehmen im Roman die Verweise auf Bücher und Musik ein. Sie helfen zweifellos, die Atmosphäre, eine Romantik und ein Gefühl von Nostalgie zu schaffen: von Claude Debussy „Clair de Lune“ (der 3. Satz der Suite bergamasque), eine Melodie von Aaron Copland, „Dracula“ von Bram Stoker, der anonym im 16. Jahrhundert veröffentlichte spanische Roman „Das Leben des kleinen Lazarus vom Tormes und von seinen Geschicken und Widrigkeiten“, „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway und „Der Fremde“ von Albert Camus, „Die Pest zu London“ von Daniel Defoe sowie „Die Triffids“ von John Wyndham.

Vor dem Hintergrund der Midlife-Krise beunruhigen die Hauptheldin die Attacken und Inkonsequenz der Handlungen der bezaubernden rebellischen Tochter Micaela, die ihren Namen zu Ehren der auf der Insel beigesetzten Oma erhielt. Das Mädchen hatte sich angeschickt, in ein Kloster zu gehen, während sie aber vorerst nächtelang mit ihrem Trompeter, einem Mulatten, von der Bildfläche verschwand. Die Leidenschaften erhitzen sich bis dahin, dass die Mutter die Tochter eines Tages als eine Hure bezeichnet, wonach im Haus ein undurchdringliches Schweigen einsetzt. Und die Heldin verspürt Gewissensbisse.

Die Unausgeglichenheit und die psychologischen Berg-und-Tal-Fahrten von Ana Magdalena sind die Folgen einer heißen Nacht auf der Insel, die mit einem unbekannten Mann in einem weißen Leinen-Anzug verbracht wurde, der ihr am nächsten Morgen eine 20-Dollar-Banknote als Entgelt für die gewährten Dienste in einem Buch hinterließ. Ab diesem Zeitpunkt änderte sich ihr Lebensgefühl. Sie fing an, den Gatten der Untreue zu verdächtigen und in der Erwartung der Ein-Tages-Fahrt im August, um sich auf die Jagd nach heißen Empfindungen für eine Nacht zu begeben, zu existieren. Ihren Fahrten auf die Insel verwandelten sich zu Abenteuer, die einem Spielen in einem Casino ähnelten – entweder hat man Glück oder nicht. Aber an irgendeinem Punkt kommt Ana Magdalena eine Offenbarung. Und sie muss eine Entscheidung zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und möglicherweise auch der Zukunft treffen…