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Moderne Kunst Europas hat es endlich bis zur Neuen Tretjakowka geschafft


Die Pandemie hatte ihre Korrekturen am Zeitplan der Wanderausstellung „Diversity/United. Zeitgenössische Kunst aus Europa. Berlin. Moskau. Paris“ vorgenommen. Und dieses internationale Vorhaben, das drei Jahre lang Kuratoren aus Deutschland, Frankreich, Russland (Faina Balachowskaja) und Finnland vorbereiteten und das man in Moskau bereits vor einem Jahr hatte sehen sollen, wurde nun nach Berlin (in drei riesigen Hangars des Flughafens Tempelhof im letzten Sommer – Anmerkung der Redaktion) in der russischen Hauptstadt eröffnet. 90 Künstler*Innen aus 35 Ländern haben nicht einfach Arbeiten zur Verfügung gestellt, sondern viele haben sie speziell für die Schau geschaffen. Nach Aussagen der Organisatoren hätten sie so aber an der Gestaltung des Projekts teilgenommen. Formal ist dies ein Panorama europäischer Kunst nach dem Fall der Berliner Mauer, in erster Linie aber ein Blick von Künstlern auf heutige wunde Punkte, wo es natürlich viel Politik gibt, viel von dem, was aus dem aktuellen russischen Museums- und Ausstellungsprozess fast herausgespült worden ist.

Als die Menschenmasse die Arme zum Nazi-Gruß hochreißt, bleibt ein Mann, der sich weigerte, dies zu tun. Beim Stapellauf des Schiffs „Horst Wessel“ 1936 hatte der 26jährige Arbeiter August Landmesser inmitten der Menge gestanden, wobei er die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Ein Jahr zuvor hatte er eine Jüdin geheiratet, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Seine Frau bringt man in einem Lager um. Er kommt aus der Lagerhaft und kommt im Krieg ums Leben. Der Spanier Fernando Sánchez Castillo setzte diesem Widerstand ein Denkmal (mit dem Titel „Memorial“), indem er den Mann von einem bekannten Foto in eine ganze Armee von Figuren verwandelte. In der Schau darf jeder eine Miniaturfigur mitnehmen, der bei einer Umfrage seine Definition von Demokratie formuliert.

Während des Bosnienkrieges und der fast vierjährigen Belagerung von Sarajevo, als beinahe 14.000 Menschen umgebracht wurden, verschlug es Šejla Kamerić zu einem Fashion-Shooting eines italienischen Magazins. Vor einiger Zeit ist sie zu jenen Fotos zurückgekehrt und schuf ihre Serie „Hinter den Kulissen“ („Behind the Scenes“), wo das Wichtigste die außerhalb des Bildmotivs gebliebenen Toten und Erniedrigungen sind. In einem gewissen Sinne geht es da auch um einen privaten Protest. Die Arbeit von Kamerić wird in der Abteilung „Krise und Widerstand“ vorgestellt. Die von Castillo im Abschnitt „Träume und Demokratie“. Hier seien aber die Grenzen nach Aussagen des Kurators Sergej Fofanow, der sich von der Tretjakow-Galerie dem Projekt angeschlossen hat, angenommene. Alles sei diffuser. Das Prinzip „Diversity/United“ („Vielfalt und Einheit“) sei gegenüberzustellen und nicht zu trennen. Die Parallelen zwischen den Kapiteln sind eines der durchgängigen Motive der Ausstellung.

Hier spricht man von der Migrantenkrise, dem Brexit, der Umgestaltung der politischen Karte Europas, Nationalismus, Feminismus, die Pandemie, über das generelle Gefühl von Ungewissheit hinsichtlich des morgigen Tages und über die Vergangenheit, die polare Gegensätze hervorgebracht hat. Schuberts „Winterreise“ wurde zum Ausgangspunkt für eine gleichnamige Installation von Anselm Kiefer. Jetzt ist dies ein schwarz-weißer Bühnenraum, eine mehrschichtige Landschaft zum Nachdenken darüber, dass die Aufklärung und Romantik einerseits der Welt Madame de Staël, Byron usw. gegeben haben. Und andererseits die Journalistin Ulrike Meinhof, die zum Terrorismus gekommen war (ihr Name ist auf das unmittelbar im Zentrum stehende Bett, auf dem eine rostige Maschinenpistole liegt, geschrieben worden). Dies ist ein Projekt über die Zerbrechlichkeit der Welt und des Friedens insgesamt, der buchstäblich auch die Installation von der im Libanon geborenen Künstlerin Mona Hatoum „Remains to Be Seen“ (in Moskau erhielt diese Arbeit den Titel „Die Zeit wird es zeigen“ – Anmerkung der Redaktion) mit Steinblöcken, die an von der Decke bis zum Fußboden gespannten Seilen befestigt wurden, und das Objekt „Sternbild“ von Alicja Kwade mit einem bezogenen Bett, über dem Steine „hängengeblieben sind“, und die aus schweren Blöcken geformten großen kubistischen Körperskulpturen, die den Boden nicht berühren, von Antony Gormley („Querschnitt“) gewidmet sind. Aber Überlegungen über eben diese Zerbrechlichkeit gibt es auch in vielen anderen Arbeiten, wobei unwichtig ist, ob es dabei um die Gesellschaft insgesamt oder über Geschichten konkreter Menschen geht.

Dies ist eine gute Ausstellung. Und eine zeitgemäße, die nach Aussagen des Vorsitzenden des Projektbeirates, Jürgen Großmann, zu 90 Prozent mit privaten Mitteln gestaltet wurde und dabei, wie im Katalog der Moskauer Version ausgewiesen worden ist, unter der Schirmherrschaft von Wladimir Putin steht. Sie zeigt erneut ruhig und klar, dass Russland und im Weiteren auch in anderen Beziehungen nicht Europa ist. Unter den ausgewählten russischen Künstlern hebt sich hinsichtlich der heutigen Politik (im Grunde genommen das, was den Nerv der Schau ausmacht) die Arbeit „Streikposten“ von Ekaterina Muromtseva ab (sie war Teil des Projekts „Das, was mit anderen passiert“, welches in diesem Jahr keinen Kandinsky-Preis erhielt). Hier hätten Arbeiten von Andrej Kuskin sein können, von Pawel Otdelnow, Haim Sokol… Dies ist ganz und gar kein Vorwurf hinsichtlich der Auswahl durch die Organisatoren, denn die Ausstellung ist keine über die europäische Art-Szene, sondern eine Konstatierung der Lage von Dingen. Russland ist nicht das Land, wo politische Äußerungen begrüßt werden, darunter auch künstlerische. Es ist nicht das Land, das bereit ist, in der Gesellschaft einen einzelnen, herausgefallenen Menschen auszumachen und nicht zu unterdrücken. Es ist im Großen und Ganzen nicht das… Wenn die politische Situation zu einer gänzlich traurigen wird, bleibt die Kultur ein Faden. Die Sache liegt derzeit nicht an den Kuratoren und nicht an den Institutionen. Im Gegenteil. Zwischen ihnen ist doch gerade ein Dialog – einer der für „Diversity/United“ entscheidenden Begriffe – angebahnt worden.