Die Situation an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze stabilisierte sich ab den Morgenstunden des 17. November. Sowohl Baku als auch Jerewan erfüllen das am Vorabend unter Moskauer Vermittlung erzielte Abkommen über eine Feuereinstellung. Dafür waren aber neue Opfer auf beiden Seiten nötig gewesen. Moskau befindet sich im ständigen Kontakt mit der Führung Aserbaidschans und Armeniens zwecks Verhinderung einer neuen Runde der Eskalation.
Baku und Jerewan haben die informationsseitige Linie des 44-Tage-Krieges des vergangenen Jahres fortgesetzt, indem sie die eigenen Verluste geringer darstellen und die Verluste des Gegners um ein Mehrfaches höher ausweisen.
Laut inoffiziellen Angaben aserbaidschanischer Telegram-Kanäle haben die Truppen Aserbaidschans zwei strategisch wichtige Anhöhen besetzt, wobei sie weitere elf armenische Soldaten in Gefangenschaft genommen haben. Genaue Angaben zu den Verlusten gibt es bisher keine, obgleich inoffiziell von zehn Gefallenen auf armenischer Seite die Rede ist. Und laut inoffiziellen Angaben armenischer Quellen seien mindestens 50 aserbaidschanische Militärs und etwa zehn Gefechtsfahrzeuge und andere Technik vernichtet worden.
Ab den ersten Schüssen waren Washington, Paris und Teheran mit der Forderung an Baku und Jerewan aufgetreten, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Als entscheidend hat sich erneut die Wortmeldung Moskaus erwiesen. Jede der Konfliktparteien hat ihre „Wahrheit“. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew sprach von einer Unterbindung „mehrtägiger Provokationen der armenischen Seite“. Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan bezeichnete in einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin das Geschehen als „andauernde Aggression Aserbaidschans, das angestammt armenische Gebiete besetzte“. Was Moskau gesagt hat, ist unbekannt. Das Wichtigste aber ist, es ist gelungen, einen neuen Krieg im Keim zu verhindern. Bisher ist dies gelungen.
Als an der Grenze Armeniens und Aserbaidschans die Gefechte tobten, verlangte die Opposition in Jerewan einen Rücktritt der Regierung und zur gleichen Zeit die Bitte um Hilfe nicht nur von Moskau, sondern von der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Vorwegnehmend sei betont, dass sich Jerewan nicht an das Militärbündnis gewandt hat. Es ist nicht sehr klar – warum. Man kann aber vermuten, dass dies möglicherweise aufgrund des Misstrauens hinsichtlich der Effektivität der von Moskau angeführten und dominierten Organisation erfolgte. Die OVKS hat mehrfach Anlass für solch eine Haltung zu sich gegeben.
Der Spannungsgrad nahm derweil in den armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen im Verlauf der ganzen letzten Tage zu. Die Seiten suchten buchstäblich nach Gründen für ein neues Blutvergießen. Das Erkunden der Kräfte führte zum Tod von Menschen. So hatten aserbaidschanische Soldaten einfach so einen armenischen Klempner erschossen, der sich unweit von Blockposten mit seinen Angelegenheiten befasst hatte. Und ein Armenier ließ an einem aserbaidschanischen Posten eine Granate hochgehen. Und von den permanenten Schießereien muss erst gar nicht gesprochen werden.
Der politische Kommentator Schahin Rzayev aus Baku sagte der „NG“, dass man die Zuspitzung hätte erwarten können, da entgegen den Ankündigungen am 9. November kein trilaterales Treffen der Spitzenvertreter Russlands, Aserbaidschans und Armeniens stattgefunden hatte. „Nach Meinung von Analytikern beider Seiten war eine Abstimmung der Bedingungen für die Unterzeichnung von zwei Dokumenten geplant worden – über eine Delimitation der Staatsgrenze und eine Deblockierung von Transportwegen, darunter durch Armeniens Verwaltungsgebiet Sangesur, zwecks Verbindung des Hauptteils von Aserbaidschan mit dessen Exklave Nachitschewan“, betonte Rzayev. Nach seiner Meinung begann sich die Situation nach dem Besuch von Stepanakert durch Armeniens Verteidigungsminister Arschak Karapetjan, der dieser Tage abgelöst wurde, zu verkomplizieren. Diese Reise hatte in Baku einen scharfen Protest ausgelöst. Und schon bald fingen regelmäßige Schießereien an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze an.
„Die Hauptursache für die neue Zuspitzung besteht darin, dass alle drei Seiten, die die Erklärung vom 10. November 2020 unterzeichnet hatten, einzelne Punkte aus ihr auf eigene Art und Weise, wie es für sie vorteilhaft ist, auslegen. Natürlich war die Erklärung sozusagen mit der heißen Nadel gestrickt, unter Extrembedingungen abgefasst worden. Und sie ist eine recht „rohe“. Das heißt: Dort gibt es viele juristische Schlupflöcher. Doch die Seiten hätten im Verlauf eines Jahres an einer Präzisierung des Dokuments arbeiten können. Daran gehindert haben viele Faktoren, insbesondere die innenpolitische Krise in Armenien und die Spannungen in den Beziehungen zwischen Aserbaidschan und dem Iran“, nimmt Schahin Rzayev an.
Nach seinen Worten seien die Gesellschaften beider Länder noch nicht zu einem Kompromiss bereit. In Aserbaidschan habe die Bevölkerungsmehrheit der Staatspropaganda von einer „bedingungslosen Kapitulation des Gegners“ Glauben geschenkt und werde jetzt, durchaus natürlich Unverständnis darüber bekunden, über welche Zugeständnisse es gehen könne. Die Herrschenden Armeniens hätten sich zwar über Wasser halten können, wollen aber offensichtlich keine unpopulären Entscheidungen fällen. Und gerade die Öffnung des Sangesur-„Korridors“, der Abzug der armenischen Rekruten aus Bergkarabach – dies sind die zwei Hauptforderungen Aserbaidschans. „Im Zusammenhang damit scheint es, dass Armeniens Führung die Verantwortung für den sattsam bekannten Sangesur-„Korridor“ auf Russland abwälzen möchte. Erweitert wird die Geografie und aufgestockt wird die Anzahl der Friedenstruppen der Russischen Föderation. Sie werden die Verbindungswege in Armeniens Verwaltungsgebiet Sjunik unter ihre Obhut stellen. Und möglicherweise auch den Teil des Territoriums von Aserbaidschan, über den ein Abschnitt der Trasse Goris-Kapan verläuft, wo es zu Konflikten mit iranischen Speditionsfirmen gekommen war. Dem Umfang der Bauarbeiten für die Errichtung von Kasernen und Übungsgeländen in dem Teil von Bergkarabach, der durch die russischen Friedenstruppen kontrolliert wird, zu urteilen, schicken sie sich nicht an, nach vier Jahren gemäß dem trilateralen Vertrag von dort abzuziehen. Es versteht sich, dass sich deshalb Aserbaidschan auf eine Zuspitzung mit der Russischen Föderation einlassen kann. Die Frage ist aber, ob es sich lohnt. Besser ist es, sich erneut auf gute Art und Weise, ohne jegliche „Nötigung zu einem Frieden“ zu einigen“, sagte Rzayev der „NG“.
Der Jerewaner Politologe Jonny Melikjan bewertet die Ereignisse der letzten Tage als eine Fortsetzung der schleichenden Okkupation von über 40 Quadratkilometer souveränen Territoriums der Republik Armenien durch Aserbaidschan, die bereits im Mai dieses Jahres begonnen hat. „All dies vor dem Hintergrund der Verluste in den Reihen der Streitkräfte und des Verlusts von Positionen auf dem Territorium der Republik belegt ein weiteres Mal, dass Baku keinen Frieden und Stabilität in der Region will, sondern danach strebt, die Frage in Bezug auf Arzach (Eigenbezeichnung von Bergkarabach) abzuschließen, aber auch den seit langer Zeit gehegten Traum gewaltsam zu realisieren – den Sangesur-„Korridor“ zur Autonomie Nachitschewan zu bekommen und damit noch mehr die Sicherheit Armeniens zu schwächen“, sagte Jonny Melikjan der „NG“. Nach seinen Worten führe Armenien Verhandlungen mit seinem militärpolitischen Verbündeten Russland. Und über das Geschehene wurde der UN-Sicherheitsrat informiert. „Vor dem Land steht die Aufgabe, die existierenden Probleme auf diplomatischem Wege zu lösen, wobei ein militärisches Szenario für die Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Armenien nicht ausgeschlossen wird“, erklärte der Politologe.