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Musste Alexander Pomigalow unbedingt für die militärische Sonderoperation sein Leben lassen?


Es war für Russlands Präsident Wladimir Putin offenkundig eine unbequeme Frage, die da am Freitag (am 14.10.2022) der junge Moskauer Journalist Gleb Iwanow nach Abschluss der Gipfeltreffen und anderen Begegnungen in Kasachstans Hauptstadt Astana stellte: „Wie kann es sein, dass sich Menschen an der Front wiederfinden – und es sind noch nicht einmal drei Wochen seit Bekanntgabe der Mobilmachung vergangen – und dort ums Leben kommen?“. Die Antwort fiel dementsprechend aus: „Wenn … solche Fragen auftauchen, die jetzt von Ihnen formuliert worden sind, so werde ich zusätzlich dem Sicherheitsrat einen Auftrag erteilen. Dort sind Militärs, im Sicherheitsrat, die früher im Verteidigungsministerium gedient haben, mit guten Erfahrungen, um ihre Sache wissende Spezialisten hohen Ranges und hoher Klasse. Ich werde ihnen den Auftrag erteilen, damit sie eine Inspektion dessen vornehmen, wie die Ausbildung der einberufenen Bürger erfolgt“. Nichts Konkretes war da vom Kremlchef in Bezug auf die ersten gefallenen Reservisten zu vernehmen. Zuvor meinte gar der Kreml-Pressesekretär Dmitrij Peskow: „Ich weiß es nicht (ob man dem Präsidenten die Todesfälle gemeldet hätte – Anmerkung der Redaktion). Wenn man es berichtete, so über das Verteidigungsministerium“.

Bisher sind fünf Todesfälle von Reservisten an der Front offiziell von Vertretern im Verwaltungsgebiet Tscheljabinsk gemeldet worden. Die russischen Medien berichten auch über Todesfälle von Reservisten schon in den Sammelstellen oder auf dem Weg dahin. Das spricht für die schlechte Organisation der Mobilmachung, und sicher tragen für diese Fälle konkrete Personen im Verteidigungsministerium und vor Ort die Verantwortung. Putin musste bei seinem Online-Treffen vom 10. Oktober 2022 mit den neu gewählten Gouverneuren zugeben, dass es genug „Dummheit“ gebe. Und: „Die Probleme häufen sich schon”.

Für die Angehörigen also wenig Trost aus dem Munde des russischen Staatsoberhauptes, der sich dafür aber in der letzten Zeit gern mit Hinterbliebenen ablichten ließ, die ihre Angehörigen im Donbass bzw. in den Gebieten Cherson und Saporoschje, die sich in den Dienst Moskaus gestellt hatten, verloren haben. Das letzte Mal am 12. Oktober, als er der Tochter von Oberst Olga Katschura aus der Donbass-Republik DVR im Kreml den Orden „Held Russlands“ übergab, den er ihr posthum verliehen hatte.

Seit Anfang Oktober tröpfelten die Informationen über Todesfälle einberufener Reservisten in erster Linie in den sozialen Netzwerken sowie in lokalen Zeitungen. Für die Redaktion „NG Deutschland“ ist es schwierig, alle Berichte zu verifizieren. Immerhin entsteht aber der Eindruck, dass viele Reservisten den Tod fanden, noch bevor sie die Front erreichen. Offizielle des Verwaltungsgebietes Tscheljabinsk berichteten über den Tod von fünf Männern aus dem Südural. Bei Lisitschansk fiel am 7. Oktober Andrej Nikiforow, ein Anwalt des Newa-Anwaltskollegiums von Sankt Petersburg. Am Freitag wurde in Moskau ein 28jährige Beamter der Stadtregierung beigesetzt, der an der Front ohne militärische Erfahrungen ums Leben gekommen war. Und aus dem Krasnojarsker Gebiet wurden innerhalb von zwei Tagen Informationen gleich über sieben gefallene Männer bekannt. Laut Berichten der lokalen Zeitung „Vzgliad.Info“ unter Berufung auf Angehörige der Gefallenen (bestätigt wurden die Informationen inzwischen auch durch den Pressedienst des Gouverneurs und der Regierung der Region) war der jüngste von ihnen Alexander Pomigalow mit gerade einmal 23 Jahren. Er arbeitete in einer Transportfirma von Minusinsk und erwies sich damit also als für einen Einsatz bei der militärischen Sonderoperation geeignet. Seine Eltern sind fassungslos, genauso wie auch die Angehörigen zum Beispiel von Jewgenij Dorofejew aus Kodinsk, einer Kleinstadt, die ca. 730 Kilometer nordöstlich von Krasnojarsk liegt. Der 40jährige, der Frau und Sohn hinterlässt, war einer von fast 50 Männer, die in der Stadt einberufen worden waren. Am 28. September wurden sie in ein Ausbildungszentrum gebracht. Und am 8. Oktober fiel Dorofejew, was erst am 14. Oktober bekannt wurde.

Experten weisen in diesem Zusammenhang auf einen Umstand hin, der leider für die Reservisten und Freiwilligen zu einem tragischen wird. Viele haben offenkundig nicht einmal das Mindestpensum an militärischer Ausbildung erhalten, von dem Präsident Putin gleichfalls in Astana sprach – mindestens ein Monat -, während das Staatsfernsehen täglich berichtet, mit was für einem Eifer und Engagement die für die Sonderoperation einberufenen Männer doch trainieren und das Letzte geben. Da gibt es keine Andeutungen dahingehend, dass viele Frauen mit großer Besorgnis Abschied von ihren Männern, Söhnen oder Lebenspartnern genommen haben. Ljubow Gladyschewa aus Kodinsk gehört zu ihnen. Ihr Alexej hat sich das letzte Mal per SMS am 4. Oktober von der Krim aus gemeldet. Seitdem hat sie kein Lebenszeichen mehr von ihrem Gatten erhalten.

Die Zahl der beunruhigten und sicherlich auch unglücklichen russischen Frauen wird in die Zehntausende gehen, denn immerhin sollen im Rahmen der seit dem 21. September laufenden Teil-Mobilmachung 300.000 Männer einberufen werden. Präsident Putin erklärte am Freitag, dass 222.000 Reservisten bereits erfasst worden seien, so dass in ein, zwei Wochen diese Arbeit komplett bewältigt sein werde. Überdies sehe er keine Notwendigkeit, dass in der überschaubaren Zukunft eine zusätzliche Mobilmachung erforderlich werde. Weiter erklärte er, dass sich 33.000 der eingezogenen Reservisten bereits in den entsprechenden Einheiten befinden würden, wobei 16.000 von ihnen gerade in solchen, die unmittelbare Kampfaufgaben erfüllen. (Übrigens wurde von einigen Experten auch ein Grund genannt, warum der russische Präsident den baldigen Abschluss der Mobilmachung angekündigt hat. Am 1. November soll die um einen Monat aufgeschobene Herbsteinberufung im Land beginnen, bei der etwa 120.000 junge Russen in die Armee eingezogen werden.)

Die Teil-Mobilmachung wurde für viele Menschen Russlands zu einer schmerzhaften Zäsur, denn mit einem Schlage sind Zukunftspläne zerstört worden, haben sich finanzielle und andere Probleme ergeben, die von offizieller Seite zwar gesehen werden, jedoch mitunter nicht so schnell gelöst werden können. Der Ukraine-Konflikt, der inzwischen den 235. Tag andauert, ist zu einem Teil ihres Lebens geworden. Nur solch ein Leben wollen viele Russen gar nicht, so dass sie beschlossen haben, das Land zu verlassen. Für wie lange? Keiner hat darauf eine Antwort. Vor allem vor dem Hintergrund dessen, dass Hurra-Patrioten sie gar als Verräter abstempeln. Und nachdem Wladimir Putin in Kasachstans Hauptstadt am Freitag erklärte, dass man ihrem Verhalten keine emotionale, sondern eine rechtliche Bewertung geben müsse, hat sich noch mehr Unklarheit ergeben.

Post Scriptum:

Bereits nach Redaktionsschluss für diesen Beitrag meldete die Moskauer Nachrichtenagentur „Interfax“ in der Nacht zum Sonntag, dass erneut Freiwillige für die militärische Sonderoperation noch vor dem unmittelbaren Einsatz an der Front den Tod gefunden oder Verletzungen erlitten hatten. Auf einem Übungsgelände des Westlichen Militärbezirks im Verwaltungsgebiet Belgorod hatten am Samstag, dem 15. Oktober 2022 zwei Terroristen das Feuer auf Männer eröffnet, die gerade Schießübungen absolviert hatten. Russlands Verteidigungsministerium informierte: „Im Ergebnis einer Schießerei erlitten elf Menschen tödliche Verletzungen. Weitere 15 Personen sind mit Verwundungen unterschiedlichen Schweregrades in eine medizinische Einrichtung gebracht worden, wo ihnen alle erforderliche Hilfe geleistet wird“. Man behauptet,dass die inzwischen getöteten Terroristen Bürger eines GUS-Staates sind.