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„Paralleler Import“ in der russischen Theaterwelt


Am kommenden Wochenende wird man im Bolschoi-Theater das Ballett „Flammen von Paris“ von Boris Assafjew zeigen. Auf der offiziellen Internetseite des Theaters kommt in den Angaben zum Inszenierungsteams die Position des Choreografen nicht vor (https://bolshoi.ru/en/performances/ballet/the-flames-of-paris?ysclid=lac99szbbw894577799). Der Name von Alexej Ratmanskij ist im Bolschoi- und Petersburger Marinskij-Theater — wie auch die Namen von Kirill Serebrennikow und Dmitrij Krymow im Moskauer Tschechow-Künstlertheater und seit kurzem auch der von Boris Akunin im Russischen Akademischen Jugendtheater und im Alexander-Theater – von den Spielplänen, Internetseiten und aus den Programmheften entfernt worden – von überall.

Das von Olga Ljubimowa geleitetet Kulturministerium (und die oben ausgewiesenen Theater unterstehen gerade ihm) agiert humaner als die regionalen. Die Inszenierungen – und alle sind kommerziell erfolgreiche und aus künstlerischer Sicht sehr gelungene – werden jedoch nicht von den Spielplänen genommen. Man entfernt lediglich Namen. Als Grund wird der Unmut von Bürgern darüber genannt, dass die Namen der Schöpfer mit einer Antikriegsposition auf Theaterplakaten und an Litfaß-Säulen ausgewiesen werden. „Jene Kulturschaffende, die in dieser schweren Zeit das Land verlassen und sich von Russland distanziert haben, die öffentlich gegen dessen reiche Kultur aufgetreten sind, verlassen absolut logisch, einer nach dem anderen sowohl unsere Einrichtungen als auch deren Spielpläne“, heißt es in einer Mitteilung.

Sowohl die Theater als auch die Autoren befinden sich in einer schwierigen Lage. In der Regel sind sie durch einen Vertrag miteinander verbunden, in dem formale Momente festgeschrieben werden – von der Angabe des Namens im Programmheft bis zu den Modalitäten für die Zahlungen der Autoren-Honorare. Veränderungen erfordern eine Abstimmung, zumindest einer verbalen. Boris Akunin hat offen in den sozialen Netzwerken geschrieben, dass man sich mit ihm aus dem Moskauer Jugendtheater und dem Alexander-Theater in Verbindung gesetzt hätte. Der Schriftsteller betonte: „Für mich sind die russischen Zuschauer auch teuer. Gerade daher fordere ich nicht, dass meine namenlosen Inszenierungen aus dem Repertoire genommen werden. Solange man sie nicht endgültig verbietet, mögen sie weiter aufgeführt werden. Sogar kostenlos. (Als das Alexander-Theater mit Entschuldigungen mitteilte, dass es aufgrund der Sanktionen keine Tantiemen zahlen kann, erwiderte ich: „Macht nichts. Das ist kein Problem“.)“

In eine andere Situation sind die Theater geraten, in deren Repertoire sich Stücke von Iwan Wyrypajew befinden. Der Bühnenautor erklärte, dass die Autorenhonorare als Hilfe für die Ukraine überwiesen werden würden. Und danach präzisierte er, dass die gerade für deren Streitkräfte bestimmt sei. Die Theater haben, um einen Skandal zu vermeiden, die Inszenierungen einfach vom Spielplan genommen. Denn, selbst wenn man den Namen von Wyrypajew wegstreicht, sind sie verpflichtet, Tantiemen zu zahlen, da es einen Vertrag gibt. (Der russische Filmregisseur Nikita Michalkow wetterte am Freitag im russischen Staatsfernsehen auch massiv gegen die politische Haltung des 48jährigen Autoren. – Anmerkung der Redaktion)

Freilich ist es nicht so einfach, jetzt die Honorare zu bekommen. Entsprechend dem am 27. Mai in Kraft getretenen Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation Nr. 322 „Über die zeitweiligen Modalitäten für die Umsetzung der Verbindlichkeiten gegenüber einigen Rechte-Inhabern“ werden Honorare an Ausländer und Bürger mit einer antistaatlichen Haltung auf ein spezielles Konto „O“ in Rubel überwiesen. Und für ein Abheben von Mitteln von diesem Konto ist eine Genehmigung der Regierungskommission für die Kontrolle der Vornahme ausländischer Investitionen in der Russischen Föderation erforderlich. Unter die Geltung dieses Dokuments fallen nicht nur ausländische Rechte-Inhaber, sondern auch jene, die „in Informations- und Telekommunikationsnetzen Informationen verbreiteten, die in einer unanständigen Form erfolgten, die die Menschenwürde und die gesellschaftliche Moral beleidigen sowie eine offenkundige Missachtung gegenüber der Gesellschaft, dem Staat, die offiziellen staatlichen Symbole der Russischen Föderation, der Verfassung der Russischen Föderation oder den Organen, die die Staatsmacht in der Russischen Föderation realisieren, demonstrieren“ (eine, wie Juristen betonen, verschwommene Formulierung).

Die Situation erinnert andeutungsweise an die Geschichte mit dem parallelen Import in der Wirtschaft. Waren von Marken, die die Politik der Russischen Föderation nicht unterstützen, gibt es im Land, man kann sie nutzen. Die Markennamen an sich darf man aber nicht erwähnen. Hier aber geht es jedoch um das Ergebnis der geistigen Arbeit eines konkreten Menschen. Wenn die Autoren jetzt bereit sind, abzuwarten und mit den vorübergehenden Veränderungen einverstanden sind, so werden sie wohl kaum aber zustimmen, zu einem „G. Dawe“ zu werden (George Dawe war ein englischer Maler, der von 1781 bis 1829 lebte und am russischen Zarenhof unzählige Porträts schuf, wobei er geschickt die politische Konjunktur für sich auszunutzen wusste – Anmerkung der Redaktion).

Wie lange die Leiter, auf denen die Verantwortung sowohl für die Umsetzung der Verträge mit den Autoren als auch für die Beziehungen mit den Gründern liegt, diese Unbestimmtheit dulden werden, ist unbekannt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass nach den Namen auch Inszenierungen an sich von den Theaterplakaten und Spielplänen verschwinden werden. Strenge Restriktionen erstrecken sich auf Personen, auf Themen und dann auch auf Inszenierungen an sich. Auf geht’s in die jüngste Vergangenheit!