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Patriotische Erziehung per Gesetz


Unter den Bürger Russlands im Alter von 18 bis 24 Jahren wissen um die Repressalien in der UdSSR in den 30er bis 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts 41 Prozent wenig oder überhaupt nichts, und über die Ereignisse an den Fronten des Zweiten Weltkriegs haben 11 Prozent der russischen Studenten keine Kenntnisse. Derart sind die Angaben einer Untersuchung des Levada-Zentrums.

Die Befragung wurde vom 20. bis 26. Februar 2020 entsprechend einer repräsentativen Auswahl von Stadt- und Dorfbewohnern in 50 Regionen des Landes durchgeführt, aber jetzt erst veröffentlicht. Insgesamt wurden 1614 Personen im Alter von über 18 Jahren befragt. Die Soziologen des Levada-Zentrums haben in diesem Jahr die gleichen Fragen, die die Informiertheit der Bürger über die Stalinschen Repressalien und Ereignisse im Krieg untersuchten, wie auch 1989 ihren Befragten gestellt. 

Die Gesamtzahl der Bürger Russlands, die über die Repressalien wenig informiert sind oder gar nichts wissen, ist innerhalb von 30 Jahren von 13 bis auf 20 Prozent angestiegen. Über die Ereignisse haben 55 Prozent der Befragten gelesen, weitere 24 Prozent haben von Augenzeugen darüber gehört. Dabei sind, wie in der Untersuchung betont wird, beinahe keine direkten Zeugen und Opfer jener Ereignisse übriggeblieben. Deren Zahl verringerte sich von 9 auf 1 Prozent. 

Am wenigsten wissen von den Schwierigkeiten im Hinterland und den Ereignissen an der Front Jugendliche im Alter von 18 bis 24 Jahren (23 bzw. 11 Prozent) und junge Menschen nicht alter als 39 Jahre (18 bzw. 7 Prozent). Die Russen in diesem Alter erfahren von der Kriegszeit häufiger durch das Lesen von Büchern und Beiträgen in Printmedien als ihre Mitbürger, die älter als 40 Jahre sind und beinahe in gleichem Maße darüber gelesen und von Augenzeugen gehört haben.

Die Soziologen haben nebenher ermittelt, wieviel junge Russen den Zerfall der UdSSR bedauern. Dies bedauert jeder dritte junge Einwohner Russlands im Alter von 18 bis 29 Jahren. Interessant ist, dass eine analoge Untersuchung im Mai dieses Jahres auch das Kiewer Internationale Institut für Soziologie durchgeführt hat. Seine Zahlen führt das Levada-Zentrum ebenfalls an. In der Ukraine bedauern lediglich 15 Prozent der Jugendlichen den Zerfall der UdSSR. 

„Vor 25 Jahren hätten wir ein sehr ähnliches Bild sehen können. Unsere Befragungen hatten damals eine starke Nähe der Ukrainer und Russen gezeigt. Es gab beinahe zu allen Fragen keine Unterschiede, denn dies war eine Zeit einer relativen Offenheit, der Diskussion und Demokratie“, zitiert das Internetportal „Offene Medien“ den Direktor des Levada-Zentrums, Lew Gudkow. 

In Russland würden Mythen über den sowjetischen Sozialismus in den Vordergrund gerückt. Und nach Meinung von L. Gudkow „bleiben die Langeweile, Armut und Perspektivlosigkeit des Lebens sowie die Einschränkungen für die Mobilität und den Zugang zu Informationen – alle Herrlichkeiten einer geschlossenen repressiven Gesellschaft – unbeachtet“. 

Dieser Tage verabschiedete die Staatsduma der Russischen Föderation in erster Lesung Änderungen zum Bildungsgesetz von 2012, die die Einführung einer allgemeinen patriotischen Erziehung der Schüler, der Auszubildenden von Colleges und Hochschulstudenten in allen Bildungseinrichtungen vorsehen. Und wie sich das Bildungsministerium der Russischen Föderation zu versichern beeilte, werde das Projekt „Patriotische Erziehung der Bürger der Russischen Föderation“ zu noch einem Teil des nationalen Projekts „Bildung“. Die durch das föderale Projekt vorgesehenen Mittel werden für die Umsetzung des neuen Gesetzes eingesetzt, das ab 1. September dieses Jahres in Kraft treten soll. Übrigens, für die Verwirklichung der Programme zur patriotischen Erziehung sind in den Jahren 2011-2015 rund 591 Millionen Rubel (ca. 7,43 Millionen Euro) aus dem föderalen Etat ausgegeben worden, und in den Jahren 2015-2020 plante man, rund 1,68 Milliarden Rubel (ca. 21,13 Millionen Euro) einzusetzen.

Bildungsminister Sergej Krawzow zählte bei der Vorstellung des aktuellen Gesetzentwurfs in der Staatsduma dessen prinzipiellen Postulate auf. Dies sind die Ausprägung eines Gefühls von Patriotismus und Staatsbewusstsein sowie die Achtung der Erinnerungen an die Verteidiger des Vaterlands und die Taten seiner Helden. Seiner Erklärung nach werden in den Kindern gleichfalls „die Achtung gegenüber dem Gesetz und der Rechtsordnung, dem Menschen der Arbeit und der älteren Generation sowie der sorgsame Umgang mit dem Kulturerbe und den Traditionen des multinationalen Volks der Russischen Föderation, der Natur und Umwelt erzogen“. 

Es sei daran erinnert, dass sich die Erziehung von Patriotismus in gewissem Maße auf die Stimmung der Gesellschaft und den Geist des Volkes stützt. Beispielsweise berücksichtigte die sowjetische Ideologie jenen patriotischen Elan im Zusammenhang mit dem Sieg im Krieg, der die Menschen damals erfasst hatte. Diese Stimmung erlaubte, in einem beispiellos kurzen Zeitraum das Land nach dem zerstörerischen Krieg wiederaufzubauen und es auf ein neues Entwicklungsniveau zu bringen. 

Bei der Vorstellung des neuen Gesetzentwurfs in der Staatsduma erklärte Wjatscheslaw Nikonow, Vorsitzender des Bildungs- und Wissenschaftsausschusses, dass dieses Dokument „der Schule erlauben wird, Sieger zu erziehen“ (Sieger wo von hat der Abgeordnete nicht präzisiert). 

Eine Quelle des russischen Patriotismus war und bleibt der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Maßnahmen und Veranstaltungen dieser Thematik – heimatkundliche Wanderungen und Touren, Suchtrupps, Begegnungen mit Veteranen, die Pflege von Gräbern gefallener Soldaten, Festkonzerte – kommen unbedingt in jedem Programm für die patriotische Erziehung in den Orten vor.     

Außerdem sind bei der Untersuchung der Programme für die patriotische Erziehung in der Russischen Föderation Soziologen der Nationalen Forschungsuniversität „Wirtschaftshochschule“ (NFU WHS) zu dem Fazit gelangt, dass 98 Prozent von ihnen Aufgaben militaristischer Art enthalten. Sie haben das Ziel, die Qualität der vormilitärischen Ausbildung der Bürger zu verbessern, bei ihnen ein Gefühl der Pflicht zur Erfüllung der von der Verfassung formulierten Pflichten (Dienst in den Streitkräften der Russischen Föderation) zu entwickeln und das Ansehen des Dienstes in den bewaffneten Organen zu erhöhen. 

Gleichzeitig ist der Grad des Nationalstolzes in Russland geringer als in anderen Ländern mit ähnlichen Parametern für die Wirtschaftsentwicklung. Zu solch einem Schluss gelangten bei der Untersuchung des Themas Margarita Fabrikant und Wladimir Magun, Mitarbeiter des Labors für vergleichende Untersuchungen des Massenbewusstseins der NFU WHS. Sie unterstreichen, dass die Hauptarbeit mit der jungen Generation in deren … Schutz bestehe. Vor allen Gefahren inkl. einer informationsseitigen Beeinflussung. Andererseits setze man große Hoffnungen in die jungen Bürger, betonen die Soziologen.   

Noch ein interessanter Aspekt – so die Soziologen der NFU WHS – bestehe darin, dass die Menschen in den wirtschaftlich entwickelten Staaten auf reale Errungenschaften ihrer Länder stolz seien. Die jungen und nicht sehr jungen Russen aber seien vor allem auf die Geschichte des Landes, die Leistungen im Sport, aber auch auf die Literatur und die Kunst stolz.