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Per Mausklick handelte sich Nawalny eine neue Extremismus-Anklage ein


Gegen Alexej Nawalny ist eine neue Anklage erhoben worden – Bildung einer Organisation, die die Persönlichkeit und die Rechte von Bürgern antastet, teilte die offizielle Sprecherin des Untersuchungskomitees Swetlana Petrenko mit. Laut der Version des Untersuchungskomitees (in Russland zuständig für spektakuläre und schwere Straftaten – Anmerkung der Redaktion) hatte der Oppositionelle „eine nichtkommerzielle Organisation gebildet, die Funktionen eines ausländischen Agenten erfüllt – die „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“ (SKB, die in der Russischen Föderation als eine extremistische eingestuft und liquidiert worden ist). Aufgrund der Umstände hat man gerade jetzt, wie die „NG“ erfuhr, in der Generalstaatsanwaltschaft versprochen, die Meinung der Menschenrechtler bei der weiteren Korrektur der antiextremistischen Gesetzgebung zu berücksichtigen.

„Die Tätigkeit der Stiftung war mit einem Anregen von Bürgern zur Verübung gesetzeswidriger Handlungen verbunden. Nawalny, Wolkow, Schdanow und andere Personen organisierten auf ihren persönlichen Seiten im Internet und auf den Seiten der SKB im Namen der von ihnen geleiteten nichtkommerziellen Organisation die Verbreitung von Publikationen, die Aufrufe zur Teilnahme von Bürgern der Russischen Föderation an nichtgenehmigten Meetings im Januar dieses Jahres enthielten“, zitiert die russische Nachrichtenagentur INTERFAX einen Kommentar Petrenkos. Nach ihren Worten sei gegen Nawalny „Anklage aufgrund der Verübung der ausgewiesenen Straftat“ erhoben worden. Der Artikel 239 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation sieht eine Bestrafung in Form von Freiheitsentzug mit einer Dauer von bis zu drei Jahren vor.

Es sei daran erinnert, dass der Chef der „Nawalny-Stäbe“ (in Russland als ausländische Agenten eingestuft und inzwischen als extremistische verboten) Wolkow und der Direktor der SKB Schdanow Russland verlassen haben und sich gegenwärtig in Litauen befinden. Nawalny selbst verbüßt seit Mitte März eine Strafe wegen des „Yves-Rocher-Falls“ in der Strafkolonie Nr. 2 der Verwaltung des Föderalen Dienstes für das Verwaltungsgebiet Wladimir bei der Kleinstadt Pokrow (etwas mehr als 100 Kilometer von Moskau entfernt – Anmerkung der Redaktion).

Nach Meinung des Mitglieds der Moskauer Helsinki-Gruppe Ilja Schablinskij könnten die Informationen, wonach in den Rechtsschutzinstitutionen an einer Präzisierung und Entwicklung der Extremismus-Gesetzgebung gearbeitet werde, „nur Besorgnis auslösen“. Jedoch hätten alle Vorwürfe, die früher gegenüber der SKB vorgebracht wurden, aus Phrasen bestanden, wie Schablinskij sagte, „die das Gesetz nicht kennt“. Der Staatsanwalt warf beispielsweise „ein Schüren von Hass gegenüber Vertretern der Staatsgewalt vor. Aber solch ein Merkmal für eine extremistische Tätigkeit gibt es nicht“.

„Das, was derzeit durch das Gesetz vorgesehen worden ist, schien augenscheinlich wenig zu sein. Und daher hat möglicherweise irgendwer entschieden, diese Aufzählung zu erweitern. Das Wesen besteht darin, dass man sich solche Extremismus-Merkmale ausdenken kann, die juristisch völlig vage sind. Und unter sie kann man alles Mögliche bringen“, erklärte Schablinskij gegenüber der „NG“. Er unterstreicht, dass es um eine äußerst gefährliche Tendenz gehe. Eine Bestätigung dessen sind die jüngst verabschiedeten Gesetze, die Normen eine rückwirkende Geltung verliehen, die eine Haftung für eine „Beteiligung“ an der Tätigkeit einer „extremistischen Organisation“ festlegen (und den Betroffenen das passive Wahlrecht nehmen). „Jetzt wird einem Bürger auch noch das vorgeworfen, dass er einer Organisation in einer Zeit eine gewisse Unterstützung gewährte, als noch keinerlei Gericht ihr das Label „extremistische“ angehängt hatte… Ehrlich gesagt, all dies kann man nicht als „Recht“ bezeichnen“, klagte der Gesprächspartner der „NG“.

Die Menschenrechtler bestehen darauf: Die antiextremistische Gesetzgebung muss entsprechend den Forderungen der Gesellschaft und dem realen Grad der Kriminalität modernisiert werden. Sie empfehlen, den äußerst verschwommenen Begriff „extremistische Tätigkeit“ nur hinsichtlich der Handlungen anzuwenden, die „ausschließlich mit der Anwendung von Gewalt und Aufrufen zu deren Anwendung“ verbunden sind. Andernfalls geraten unter ihn sowohl wahre Verbrecher-Radikale als auch gewöhnliche Internet-Nutzer, die beispielsweise ein Bild posteten, das ihnen gefiel.

Nach Aussagen von Andrej Babuschkin, Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen, werde die weite Extremismus-Formulierung immer häufiger auch zu einem Instrument staatlicher Kontrolle und Zensur. Daher müsse sie durch exaktere Definitionen ersetzt werden. Er teilte der „NG“ mit, dass die Menschenrechtler ihre Vorschläge formuliert und an die Generalstaatsanwaltschaft und an den russischen Generalstaatsanwalt Igor Krasnow gesandt hätten, nachdem der Präsident ihn Ende vergangenen Jahres beauftragt hatte, die Möglichkeit einer Lockerung der Extremismus-Gesetzgebung zu prüfen. Dieser Tage kam aus der Generalstaatsanwaltschaft eine Antwort: „Ihre Initiativen werden im Prozess unserer Teilnahme an der gesetzesschöpfenden Tätigkeit bei der Behandlung der entsprechenden Gesetzesvorlagen beachtet“.

Vorerst aber warnen Juristen vor einer neuen Gefahr: In der letzten Zeit haben die Gerichte angefangen, wegen alter Posts im Internet mit Materialien und der Symbolik von Organisationen oder Massenmedien, die vor kurzem als extremistische eingestuft worden sind, zu bestrafen und Haftstrafen zu verhängen. Wobei man auch für die Reposts selbst jener Projekte bestraft, die man bisher nicht geschafft hat, in die offiziellen Register der „unerwünschten“ aufzunehmen.

Wie das Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen, der Direktor des Moskauer Büros für Menschenrechte, Alexander Brod, sagt, habe die Gesetzgebung über die Bekämpfung der extremistischen Tätigkeit ihre entscheidende und positive Rolle noch zu Beginn der 2000er Jahre gespielt, in der Periode der Zügellosigkeit der Skinheads und radikalen Gruppierungen. Später habe man die antiextremistische Gesetzgebung zu erweitern begonnen, hinzugekommen sei eine politische Komponente. Und man fing an, sie gegen die Opposition und Journalisten einzusetzen oder überzogen anzuwenden, indem man für Reposts reale Haftstrafen fällte.

Russlands Präsident unterzeichnete einen Erlass über eine teilweise Dekriminalisierung des Artikels 282 des Strafgesetzbuches. Gegenwärtig gebe es unter den Mitgliedern des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen noch einige Vorschläge – über eine Dekriminalisierung anderer Artikel und eine Präzisierung von Formulierungen. Das Wichtigste sei, unterstreicht Brod, „dieses Gesetz nicht als einen Maulkorb für die Nichteinverstandenen zu nutzen, sondern den Professionalismus der Untersuchungsorgane und die Tätigkeit der Experteninstitute zu vervollkommnen sowie eine Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu erreichen“.

Wie in einem Gespräch mit der „NG“ Professor Dr. sc. oec. Boris Kagarlizkij von der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften betonte, erinnere das Gesetz über Extremismus in der gegenwärtigen Form in der Tat immer mehr an den repressiven Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches unter Stalin, „als die erweiterte Auslegung des Begriffs „antisowjetische Tätigkeit“ erlaubte, jeden beliebigen für jedes beliebige ins Gefängnis zu stecken“. Nunmehr nutze man diese Norm als ein Mittel zur Einschüchterung und zur Erleichterung der Kontrolle der Wahlen durch die Herrschenden. Nach Aussagen Kagarlizkijs sei die Tatsache, dass man einem Gesetz eine rückwirkende Geltung verlieh, vom Prinzip her ein Skandal. Aber selbst hier vermochten die Abgeordneten und sogenannten Volksvertreter etwas Unikales aus dem Boden zu stampfen: „Ja, in der internationalen und sowjetischen Praxis hat es auch recht ungehörige Fälle gegeben, als man rückwirkend Bestrafungen für die eine oder andere Tat erhöhte und Rechtsverstöße zu Verbrechen qualifizierte. Aber nur die heutigen russischen Duma-Abgeordneten sind auf den Trichter gekommen, rückwirkend Menschen für Taten zu bestrafen, die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme als ein eine normale legale Praxis galten“.

Mit einer Aufhebung dieser Beschlüsse braucht man in der nächsten Zeit gar nicht zu rechnen. Eventuell wird man nach den Wahlen zur Staatsduma „etwas richten können, wie dies mit dem NGO-Gesetz der Fall war“. Radikale Änderungen seien aber wenig wahrscheinlich, meint Kagarlizkij. „Derartige Beschlüsse werden endgültig aufgehoben, nachdem man politisch jene absetzt, die sie gefasst haben“.

Das Extremismus-Gesetz sei ein Hebel zur Unterdrückung von Proteststimmungen. Mit seiner Hilfe könne man praktisch jegliche Vereinigungen von Bürgern blockieren, selbst wenn sie keine aggressive Ausrichtung haben, erklärte der „NG“ der Leiter der Bewegung „Bürgersolidarität“ Georgij Fjodorow. Die Selektivität der Anwendung dieser Norm trage nach seinen Worten einen demonstrativ widerrechtlichen Charakter. „Man kann praktisch jeglichen Internet-Nutzer zur Verantwortung ziehen und in den Rechten mit den entsprechenden Konsequenzen einschränken. Nicht passend? … Man kann stets etwas beanstanden, wenn es auch nur eine geringste Aktivität in den sozialen Netzwerken gibt. Die Hauptaufgabe der gegenwärtigen Gesetzgebung ist, jeglichen einzuschüchtern und zu zwingen, die Klappe zu halten, der die Herrschenden kritisiert und die Aufmerksamkeit auf unbestreitbare Fakten von Flops der Kasten-Verwaltung und von einer ernsthaften Verschlechterung des Lebens der Menschen lenkt“.