Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Politische Landschaft in Russland


 Ausgangspunkt

In der Mehrzahl der Ansätze zur Bewertung des Zustands und der Entwicklungsperspektiven der gesellschafts−politischen Situation in Russland wird das Machtsystem als zwar in stetiger Entwicklung (in diesem Fall ist es nicht wichtig, in welche Richtung die Entwicklung verläuft) begriffenes, so doch stabiles und seit mindestens 10−15 Jahren in seinen Grundzügen unveränderliches definiert. Wir finden eine solche Einschätzung irreführend und entsprechend mehr oder weniger irreführend sind viele Konstrukte und Prognosen, die auf Grundlage dieser Einschätzungen vorgenommen werden.

In den letzten Jahren hat die russische Führung in einem ausgesprochen wesentlichen Aspekt eine Linie überschritten, von der es kein Zurück mehr gibt. Gegenwärtig, im Gegensatz zur Mitte des vorigen Jahrzehnts, ist die Macht weder in der Lage zur Selbstreformierung, noch zur Durchführung von Reformen in Schlüsselsphären des Lebens im Land und in der Gesellschaft (Wirtschaft, Zivilinstitute, Staatsverwaltung, außenpolitische Ansätze etc.), und diese Fähigkeit wird sich die gegenwärtige Führung nicht mehr aneignen. In Anbetracht der Tatsache, dass die politische Führung der einzige «Akteur» auf diesem Gebiet ist (mehr noch, sie blockiert bewusst und immer entschiedener das Aufkommen jeglicher anderer Akteure), muss man davon ausgehen, dass bis zur realen Ablösung der politischen Führung jegliche wesentlichen Reformen ausgeschlossen sind und sowohl der Vektor der Situation im Allgemeinen, als auch der Wirkungsvektor der Macht unverändert bleiben. Welche Faktoren lassen diesen Schluss zu?

Erstens. Es besteht kein Zweifel bezüglich der Zunahme der «Handsteuerung» durch die Macht, welche sich als äußerst ineffektive Arbeitsform erwiesen hat, da sie zur unentwegten Änderung des Gleichgewichts zwischen Proaktivität und Reaktivität zugunsten der letzteren führt.

Zweitens. Auch besteht kein Zweifel darüber, dass durch die permanente Zerstörung aller staatlichen und zivilen Institute die politische Legitimität des Systems jetzt schon der Legitimität des Präsidenten W. Putin entspricht. Auf diese Weise wurde die Fähigkeit des Systems zur Erarbeitung und Realisierung bedeutender Initiativen mit der Fähigkeit eines einzelnen

Menschen gleichgesetzt, sie wurde also qualitativ reduziert.

Drittens. W. Putin wird in seinen Ansätzen und Unternehmen nicht nur immer konservativer, er agiert praktisch ausschließlich nach seinen eigenen Regeln, die sich in den letzten 5−10 Jahren formiert haben. Das Studium dieser Regeln zeigt, dass ausnahmslos alle Initiativen und

Strategien, die einer proaktiven Herangehensweise an Probleme bedurft hätten (Erlasse vom Mai 2012, Programme der «Großen Privatisierung», Strategie−2020 etc.) und die allesamt von W. Putin initiiert oder unterstützt wurden, letztendlich nicht realisiert wurden, wobei der Präsident auch nicht wirklich versucht hat, sie zu realisieren.

Viertens. «Die Machtvertikale» hat sich die Fähigkeit angeeignet, effektiv und dabei unter

Ausschluss der Öffentlichkeit jegliche Initiativen zu Systemreformen zu torpedieren, da solche Reformen im Widerspruch zu den Interessen dieser Vertikale stehen und ihr Monopol

untergraben, wenn nicht gar ihre Existenz bedrohen. Überhaupt hat sich die Macht als System umorientiert von der Konkurrenz um das Recht, die Erlasse und Wünsche W. Putins zu erfüllen (so war das in seinen ersten beiden Regierungsperioden) zur Blockierung jeglicher Beschlüsse

(auch der präsidialen), die das Potential hätten, auch nur im geringsten die gegenwärtige Lage zu ändern.

Fünftens. Die konkurrierenden Gruppierungen innerhalb des engsten Kreises W. Putins haben endgültig aufgehört, strategische Meinungsverschiedenheiten zu haben und kämpfen ausschließlich um Finanzressourcen und um die Beeinflussung des Präsidenten. Daraus folgt,

dass kein Resultat eines solchen Kampfes (sei es auch der Ausschluss irgendwelcher Personen aus dem engsten Kreis) die Situation im Land grundlegend verändern kann.

Sechstens. In Russland sind außerhalb des Machtsystems alle Strukturen und Institute

verschwunden, die in der Lage wären, auf die Macht einzuwirken, der Macht Ihre Tagesordnung anzubieten und die Berücksichtigung dieser Tagesordnung durchzusetzen.

Fazit: Jede wesentliche Umbildung in Russland stünde im Widerspruch zu den Interessen der Macht; die für ihre Durchführung notwendigen Anstrengungen übersteigen die Möglichkeiten der gegenwärtigen Macht; außerhalb der «Machtvertikale» gibt es niemanden, der die

Initiative ergreifen oder wenigstens Druck auf die Macht ausüben könnte; Gruppierungen der Reformisten und Antireformisten innerhalb der Macht verfügen nicht über eigene Ressourcen undsindgezwungen,ausschließlichüberihrenEinflussaufW.Putinzuagieren,derseinerseits nicht mehr in der Lage ist, die vorgeschlagenen Veränderungen umzusetzen, auch wenn er sie unterstützte.

All das liefert uns den Grund, einen anderen Ansatz zur Bewertung und Modellierung der Entwicklung der gesellschaftlich−politischen Situation vorzuschlagen, der auf folgenden Faktoren basiert:

  • Die Erforschung des Feldes kann und muss wesentlich vereinfacht werden, da die

Mehrzahl der politischen und öffentlichen Institute völlig degeneriert ist und gegenwärtig keine echte Rolle mehr spielt. De facto hat der wesentliche Anteil des gesellschaftlich- politischen Systems (Parlament, politische Parteien, öffentliche Institute, praktisch alle Medien, der wesentliche Teil der Expertengemeinschaft) aufgehört, seine realen Aufgaben zu erfüllen und hat nur noch einen fiktiven Charakter;

  • Die Fähigkeit der Macht, langfristige Strategien auszurechnen und umzusetzen ist auf ein Minimum zusammengeschrumpft und schrumpft weiter, darum ist die Wahrscheinlichkeit jeglicher proaktiver Aktivitäten verschwindend gering;
  • Immer mehr Aktivitäten werden nach einer bewährten Stereotype getätigt, d.h. nach einem detaillierten Studium der grundlegenden Ansätze und Schritte des Regimes der

letzten Jahre kann man mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit prognostizieren, wie dieses Regime in jedem konkreten zukünftigen Fall handeln wird;

  • Die Logik der Geschehnisse ist gegenwärtig schon stärker als die Akteure selber (und v.a. stärker als der Präsident W. Putin), darum sollte man aus den ausgesuchten

Möglichkeiten diejenigen ausschließen, die offensichtlich dem formierten

Entwicklungsvektor der Situation und dem Handlungsmuster der Macht widersprechen.

Haupthypothese

Wir müssen also Erklärungen für die Vorgänge in Russland finden, die Motive und Gründe für die jeweiligen Handlungen der Regierung analysieren und die möglichen Reaktionen der Gesellschaft auf diese Vorgänge einkalkulieren, um die Entwicklung der Lage modellieren und anschließend die Punkte bestimmen zu können, an denen signifikante Änderungen der gegenwärtigen Lage

möglich sind ( «potentielle kritische Punkte»).

Wir gehen davon aus, dass die Macht in Russland über ausreichend Möglichkeiten verfügt, in der gegenwärtigen Verfassung noch lange Zeit weiter zu existieren, mindestens bis zur Mitte,

wenn nicht gar bis zum Ende des kommenden Jahrzehnts. Dabei schätzen wir dieFähigkeitder

Macht, Krisen zu prognostizieren und diese zu bekämpfen nicht nur als gering ein, sondern als immer kleiner werdend. Daraus folgt, dass die Macht durch eine Krise erschüttert werden kann, die anfangs nicht einmal sonderlich gefährlich scheint und welche ein wirklich stabiles und nicht degradiertes System entweder problemlos bewältigen oder prognostizieren könnte. Darum besteht die vorrangige Aufgabe darin, ein Modell zu entwerfen, mit dessen Hilfe das

Aufkommen potentieller kritischer Punkte prognostiziert, ihre Wirkung eingeschätzt und die Entwicklung um sie herum genau verfolgt werden kann.

Wir glauben, dass man diese Aufgabe lösen kann, nachdem folgende Schlussfolgerungen gezogen wurden:

  1. Die Linie, von der es kein Zurück mehr gibt, ist in Russland in dem Sinne überschritten, dass ab einem bestimmten Moment (welcher das ist, ist Gegenstand einer gesonderten Untersuchung), die Logik der Entwicklung der Geschehnisse stärker wurde als die Macht, auch stärker als W. Putin, der praktisch das einzige Handlungssubjekt der Macht darstellt; in Russland werden gegenwärtig Menschen und Gruppen von der Situation regiert und nicht andersrum.
  2. Praktisch alle Aktivitäten des fiktiven Systems (öffentliche Parlamentsbeschlüsse,

Aktivitäten der offiziellen Parteien und ihrer Vorsitzenden, Analytik der offiziellen politischen Institute) sind irrelevant, da sie überhaupt keinen Bezug zur Realität und

realen Aktivitäten der Macht und der Eliten haben und sind deswegen zu vernachlässigen.

  1. Motive, Reaktionen und Handlungen des praktisch einzigen Akteurs in Russland, des

Präsidenten W. Putin, können ganz genau ausgerechnet werden mithilfe der Projektion der Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die Gegenwart und die Zukunft; die Wahrscheinlichkeit für das Wegrücken von seinen Mustern ist verschwindend gering.

  1. Zuerst hat W. Putin und später auch die ganze Macht die Weigerung, jegliche Fehler einzugestehen als notwendiges Prinzip übernommen, welches sich bereits in eine Garantie der Indulgenz für die Angehörigen der Macht transformiert hat; die

Unveränderlichkeit dieses Prinzips wird für die ganze Existenzdauer des gegenwärtigen Regimes beibehalten bleiben.

  1. Die Gesellschaft wird im Allgemeinen passiv bleiben zumindest bis zum Beginn von

wesentlichen Veränderungen in der Macht und im Land, und wird diese Veränderungen in jedem Fall nicht initiieren.

6. Die Vertreter aller Machtebenen und im breiteren Kontext die russische Elite wird sich immer stärker auf das Bewahren des gegenwärtigen Systems und den Widerstand gegen

alle Versuche, dieses zu verändern, konzentrieren, selbst wenn die Versuche von W. Putin initiiert oder mit seiner Billigung unternommen werden.

  1. Unmittelbar W. Putin werden sich in absehbarer Zukunft keine Gruppen aus der Macht oder den Eliten widersetzen, dennoch können ihre Versuche auf mögliche

Entscheidungen des Präsidenten einzuwirken oder bereits getroffene Entscheidungen zu sabotieren zum Eintreten eines «Kritischen Punktes» führen.

  1. Aufgrund allmählicher Degradation der Macht und allmählichen Verlustes des

Realitätsbezugs werden sich die Möglichkeiten für den Erhalt des gegenwärtigen Systems

verringern, wodurch die Macht zu immer härteren Handlungen herausgefordert wird.

Mit absoluter Sicherheit vorherzusagen, dass diese oder jene Geschehnisse und Situationen sich unbedingt in «Kritische Punkte» transformieren werden, ist äußerst schwierig, wobei die Punkte, die eine Krise darstellen könnten, zu bestimmen und zu beschreiben kein unlösbares Problem darstellt.

Ziel des Vortrags

Basierend auf dem oben beschriebenen Ausgangspunkt schlagen wir unser eigenes Modell der Bewertung der gegenwärtigen Situation in Russland und ihrer Entwicklung in übersehbarer Zukunft vor.

Die Hauptfrage, auf die wir eine Antwort suchen, lautet — wann und unter dem Einfluss welcher Faktoren sind signifikante Veränderungen in der gesellschaftspolitischen Struktur Russlands und entsprechend in allen anderen Sphären des Landes und der Gesellschaft möglich (möglich und nicht unausweichlich).

Da unsere Hypothese davon ausgeht, dass Veränderungen unmöglich von der Macht ausgehen können (v.a. von W. Putin), lassen wir diese in lediglich zwei Konstellationen zu:

  1. Als direkte Konsequenz, die der Logik der Geschehnisse im Land und außerhalb entspringt und welche die Möglichkeiten der Akteure bereits übersteigt
  2. Als Folge eines Fehlers der Akteure in ihrer Reaktion auf die Geschehnisse, nach dem das Festhalten an der gegenwärtigen Situation und der gegenwärtigen Macht unmöglich wird

Im Weiteren führen wir eine Analyse der grundlegenden Bestandteile der Macht und der Gesellschaft in Russland durch, sowie der Ursachen, weshalb die Situation gerade so ist.

Wir werden sowohl ein Entwicklungsmodell der Geschehnisse vorschlagen und begründen, als auch der Punkte, von denen der Anfang radikaler Veränderungen ausgehen kann (nennen wir sie «die potentiellen kritischen Punkte»).

Wir werden eine Prognose für einen Zeitraum bis Herbst 2018 erstellen, die auf Grundlage des Modells erstellt wurde und ein System der Überwachung und Erneuerung der Prognose

beschreiben.

Ursachen und Wirkungskräfte des Geschehens

  • Evolution der Eliten
  • Evolution des W. Putin
  • Evolution der Gesellschaft

Evolution der Eliten

Der Hauptgrund, weshalb sich das System möglichst lange halten muss, ist das Geld.

Addiert man die Ausmaße der Korruption und des Diebstahls der Staatsressourcen (darunter

auch der Ressourcen aus staatlichen Geschäftsanteilen) in Russland mit äußerst geringer Fluktuation innerhalb des Machtsystems, wird offenbar, dass die absolute Mehrheit der Systemvertreter für sich weder zeitliche noch mengenmäßige Grenzen sieht bezüglich der

Aneignung der finanziellen Ressourcen. Die Möglichkeit der Bereicherung und Vermehrung des Vermögens (mit Garantie der persönlichen Sicherheit) ist praktisch das einzige Ziel der Machtvertreter (im breiteren Kontext−der Eliten) und die einzige Motivation für diejenigen, die sich bemühen, ein Teil dieser Eliten zu werden.

Ein weiterer wichtiger Umstand, der erklärt wie und warum die Macht die Situation sieht, ist, dass die absolute Mehrheit der Schlüsselpersonen, −gruppen und −strukturen keinen

Geschäftssinn hat. Es handelt sich entweder um ehemalige Geheimdienstler, aktive Vertreter der Geheimdienste oder Personen, die ihre ganze Karriere in staatlichen Strukturen aufgebaut haben oder schließlich Personen, die technisch die Geschäftsabläufe bedienen, die durch Korruption und Aneignung der Staatsfinanzen entstehen. Sie können das Geld lediglich wegnehmen und

verteilen.

Diesem Faktor kommt heute die größte Bedeutung zu, weil die Möglichkeiten, von «Fremden» wegzunehmen, nicht nur weniger werden, sondern praktisch aufgebraucht sind, da von diesen

«Fremden» auf allen Ebenen relativ wenige übrig geblieben sind − von großen Privatunternehmen bis Kleinunternehmern. Innerhalb des Kreises der «Ihren» sind die Möglichkeiten der Wegnahme der Ressourcen erheblich geringer geworden (wobei man nicht sagen kann, dass es sie nicht gibt, insbesondere auf mittleren und unteren Ebenen des Systems), und die Risiken eines solchen

Unterfangens sind erheblich größer. Folglich sehen sich die hauptsächlichen Nutznießer des Machtsystems in Russland auf allen Ebenen nicht nur mit der Reduzierung des «Geldkuchens» aufgrund fallender Ölpreise (und in viel geringerem Maßstab aufgrund von Sanktionen) konfrontiert, sondern auch mit abrupter Reduzierung der Kompensationsmöglichkeiten durch das Aussaugen neuer, unkontrollierter Geldquellen. Die Menschen und die Gruppen an der Macht und in der Elite haben nachhaltig und vermutlich für einen langen Zeitraum die

Möglichkeit verloren, ihr Vermögen zu vermehren, d.h. sie haben die Möglichkeit verloren, das Hauptziel zu erreichen, für welches sie Machtposten anstrebten und immer noch anstreben und für welches das russische Machtsystem existiert.

Gerade deswegen vollzieht sich bei den Eliten eine Prioritätenverschiebung von der Vermehrung des Reichtums und Erweiterung der Einflusssphären zur Bewahrung des

Vorhandenen und zum Einfrieren der Situation für einen möglichst langen Zeitraum. Und das ist gerade der Hauptgrund dafür, dass sich die Macht jeglichen Veränderungen widersetzt: die Folgen dieser Veränderungen auszurechnen und insbesondere die Veränderungen in die für sie günstige Richtung zu lenken ist die Macht nicht mehr in der Lage. Darum zieht sie es vor, diese zu ersticken.

Des Weiteren: da das System, sowie die russische Gesellschaft im Allgemeinen vertikal und «total» aufgebaut ist, sehen die Quelle für alles Positiven, sowie den Schuldigen für alles

potentiell Negative nur in einer einzige Person, sprich W. Putin. Obwohl vom Verlust der Loyalität

zu W. Putin im Zusammenhang mit Problemen der Vermögensvermehrung gegenwärtig noch

keine Rede sein kann, kann und muss beachtet werden, dass das System ausschließlich sich

selbst loyal ist, und wird W. Putin gegenüber nur loyal sein, solange sie ihn für einen der hundertprozentig «Ihrigen» hält.

Jetzt ist vermutlich der Augenblick gekommen, um sich folgende Frage zu stellen: Wem gehört dieses System tatsächlich− dem Präsidenten Putin oder solchen Personen, wie dem Oberst Zakharčenko und der Richterin Khakhaleva? 1 Leuten wie Zakharčenko und Khakhaleva (die die Mehrheit der Macht und der Eliten auf allen Ebenen bilden) sind geopolitische und ideologische Bestrebungen des W. Putin völlig gleichgültig, sowie seine Sicht auf die Rolle Russlands in der Welt, seine persönlichen Interessen, wirtschaftlichen Ansichten usw. Wenn morgen auf die

Initiative des Präsidenten die russischen Streitkräfte die Ukraine und Syrien verlassen, alle

Gegensanktionen abgeschafft und sogar die Kyrillischen Inseln Japan überlassen werden, werden Leute wie Zakharčenko und Khakhaleva vorbehaltlos W. Putin unterstützen unter der Bedingung, dass diese Schritte zur Vermehrung des Geldflusses ins Machtsystem führen. Es ist bekannt, dass unmittelbar vor der Eingliederung der Krim über 90% der anonym befragten Staatsbeamten

unterschiedlicher Rangordnungen sich gegen diesen Schritt ausgesprochen haben (die Motivation ist offensichtlich − alles läuft gut, plötzliche und undurchdachte Situationsänderungen sind unnötig). Als sie jedoch begriffen hatten, dass die Eingliederung keine unmittelbare und

zeitnahe Gefahr für sie barg, hat das System W. Putin entschieden unterstützt.

Die Aktualität der am Anfang des vorigen Absatzes gestellten Frage liegt darin, dass das System degradiert und diese Degradation schrittweise zum Hauptrisiko für das System selbst wird, obwohl es sich dieses Risikos noch nicht bewusst ist. Die einzige Möglichkeit, die Degradation aufzuhalten besteht in grundlegender Umgestaltung sowohl der Macht als auch der Eliten und in der Öffnung des Zugangs zur Macht für neue Personalien. Aber gerade gegen diesen Schritt, (der vermutlich zumindest auf der Präsidentenebene in Betracht gezogen wird), werden die

Eliten auf allen Ebenen erbittertsten Widerstand leisten (wenn auch hinter vorgehaltener

Hand). Und an diesem Punkt wird klar, dass das System nicht W. Putin gehört, sondern Leuten wie Zakharčenko und Khakhaleva und einzig ihre Interessen zählen.

1Zakharčenko, Oberst des russischen Innenministeriums, wurde im Jahr 2016 verhaftet. Bei einer Durchsuchung fand man 9 Mrd. Rubel (etwa 150 Mio US Dollar) in bar. Eine Version besagt, dass diese Gelder einer Gruppe von hochrangigen Vertretern der Geheimdienste gehörten. Die Richterin des Kreisgerichts von Krasnodar Khakhaleva dadurch Berühmtheit erlangt, dass sie für die Hochzeit ihrer Tochter im Jahr 2017 Schätzungen zufolge 2,5 Mio US Dollar ausgegeben hat. Dies hatte keinerlei strafrechtliche Konsequenzen; zur Herkunft dieser Mittel gab es keinerlei Untersuchungen. Wir gehen davon aus, dass das System in größerem Maße von einer großen Anzahl solcher Beamter mittleren Ranges kontrolliert wird, als von W. Putin und der höchsten Regierungsebene.

Die Evolution des W. Putin

Wie die Macht im Ganzen, so hat auch W. Putin im Verlauf der letzten paar Jahre seinen eigene «Linie der Unumkehrbarkeit» überschritten. Gemeint ist die endgültige, wenn auch nicht

öffentlich deklarierte Absage an die Möglichkeit eines freiwilligen Machtverzichts. Vermutlich hält W. Putin nach wie vor einen solchen Abgang in unbestimmbarer Zukunft für geboten und sogar erwünscht, aber er ist kein Stratege, sondern ein Taktiker und sein Entscheidungshorizont ist sehr gering. Einfacher gesagt: indem W. Putin (ganz aufrichtig) behauptet, in 5 oder 10

Jahren zurückzutreten, lehnt er eine solche Möglichkeit für die nächsten6-12Monate

kategorisch ab und gerade diese Periode von 6-12 Monaten versucht er einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Achilles gleich, der nie die Schildkröte einholt, erreicht er nie den Punkt, an dem er bereit wäre, seinen Rücktritt zu verkünden, obwohl er nach seinem Verständnis diesem Punkt zustrebt.

Ein weiteres wesentliches Merkmal des W. Putin ist die fast totale Musterhaftigkeit seiner

Ansätze und Einschätzungen. Es gibt nur einige Grundprinzipien und Ideen, derer er sich beim Treffen grundsätzlicher Entscheidungen bedient (wir werden sie nur benennen und nicht darüber reüssieren, inwieweit sie der Realität entsprechen oder mit ihr in Konflikt stehen):

  1. Alle Handlungen werden nur dann vollzogen, wenn das notwendige Resultat (unwichtig, mit welchen Mitteln) im Voraus garantiert ist
  2. Unter keinen Umständen werden eigene Fehler zugegeben − weder öffentlich noch durch Versuche, diese unbemerkt zu korrigieren
  3. Jede echte Ideen −, Personen − oder Gruppenkonkurrenz wird ausgeschlossen. Das betrifft in erster Linie die Versuche, mit W. Putin persönlich zu konkurrieren
  4. Innerhalb des Landes gibt es keine echte Gefahr für seine persönliche Macht und es wird sie in absehbarer Zukunft nicht geben − weder seitens der Gesellschaft noch seitens der Eliten, alle Gefahren kommen ausschließlich von außerhalb
  5. Um die Gesellschaft in einer friedlichen Verfassung zu halten, ist es ausreichend, eine plötzliche Verschlechterung des Lebensstandards zu verhindern. Alle sonstigen

Forderungen können ignoriert werden

  1. Die Gesellschaft (oder zumindest ihr Großteil) wird das System unterstützen, in dem Staat und Macht dem Land gleichgesetzt und der Gesellschaft übergeordnet sind. Die

Interessen des Landes sind hier also wichtiger als die Interessen der Menschen

  1. Die Machtvertikale ist ihm vollends unterstellt und er verfügt über ausreichend Möglichkeiten, ihre Bestandteile nach seinem Dafürhalten zu verschieben

Die genannten Prinzipien und Ideen wurden in letzter Zeit mehrmals benutzt. Das waren gar die einzigen, auf die W. Putin sich beschränkt hat. Sogar seine Handlungen während der

Eingliederung der Krim, die, so die gängige Meinung, ganz außergerichtlich und bei denen er sich von Instinkten eines starken Politikers hat leiten lassen, resultierten in Wirklichkeit aus der

Kombination der Punkte 1, 4 und 6 (anschließend folgte der Punkt 2). Seit diesem Schritt folgen die Motive und die Handlungen des W. Putin schon seit mehr als drei Jahren demselben Muster.

Ebenso gültig ist die These bezüglich des russischen Präsidenten, dass die Logik der Geschehnisse seine Möglichkeiten bereits übersteigt und er gezwungen ist, selbst dann im Rahmen dieser Logik zu bleiben, wenn es seinen eigenen Interessen widerspricht. Ein anschauliches Beispiel: die

Weiterführung und Intensivierung des Konfrontationskurses mit den USA und der EU. Eine solche Entwicklung nützt weder W. Putin noch Personen und Gruppen in seiner Umgebung; darüber hinaus ist klar geworden, dass die russische Führung diesen Konflikt verliert, (da bei einer

Konfrontation zwischen einem mehrstufigen stabilen System und einer einzelnen Person das

Symbol praktisch immer gewinnt). Jedoch bis zu einem kategorischen Prinzip gesteigerte

Weigerung, eigene Fehler einzugestehen, zwingt W. Putin gegen eigene Interessen zu handeln.

Schlussendlich hat sich W. Putin in den letzten Jahren immer deutlicher von Versuchen

verabschiedet, auf das Machtsystem einzuwirken und es dazu zu bringen, in die für ihn günstige Richtung zu arbeiten. War er in den ersten acht Jahren seiner Präsidentschaft der unangefochtene Anführer in der Relation «Staatsoberhaupt − Institutionen des Staates) so wird er heute im gleichen Maße vom System gelenkt wie andersrum. Da das russische Machtsystem

keinerlei Anstrengung für die Entwicklung des Landes unternimmt, zwingt es W. Putin immer stärker ebenso zu verfahren.

Evolution der Gesellschaft und ihrer Stimmungen

Wir betrachten die Veränderungen in der Gesellschaft, sowie Veränderungen der Stimmungen der Menschen in einer relativ kurzen Zeitperiode (in den letzten 3−5 Jahren), da die

Transformation des Geschehens in den ersten 12 Jahre des gegenwärtigen Regimes nur Zwischenstufen markiert, die zur gegenwärtigen Lage geführt haben.

In den letzten Jahren sind jedoch folgende wesentliche Veränderungen im Leben und im

Bewusstsein der Menschen aufgetreten, die die gegenwärtige Verfassung der Stimmungen der Menschen in Russland bestimmen:

  • Selbst die wenigen horizontalen gesellschaftlichen Verbindungen, die in den letzten 20−25 Jahren entstanden sind und überlebt haben, wurden bewusst zerstört; heute entspricht der Vertrautenkreis i.d.R. dem Kreis der engsten Verwandten und Freunde.
  • Als dominierende Einstellung gegenüber der Situation hat sich innerhalb des Landes endgültig ein Unglauben an ihre prinzipielle Verbesserung durchgesetzt.
  • Dieser Unglaube wird zusätzlich durch massive nach außen gerichtete Aggression verstärkt, wobei die inneren Widersacher (Liberale, die Fünfte Kolonne usw.) vom

Großteil der Bevölkerung, welcher sich vornehmlich auf die äußeren Bedrohungen durch (USA, NATO, die Ukraine, Weltverschwörung gegen Russland) konzentriert, wenig

beachtet werden.

  • Im Verlauf der letzten paar Jahre lebt die Mehrheit der Bevölkerung in Russland unter permanentem Druck ungünstiger Alltagsbedingungen (Armut, Ängste, reales Risiko des

Gehaltsverlusts, hohe Inflation, Überschuldung, Begrenzungen und Verbote

unterschiedlicher Art usw.) und hat für die absehbare Zukunft keine Möglichkeit, diesem Druck auszuweichen oder ihn erheblich zu verringern. Gerade dieser Druck ist die Quelle für die Aggression, die sich täglich auf der Alltagsebene entlädt und sich nach außen in dem Bestreben äußert, in einer für die Normalbürger verständlichen Weise, der Welt die Stärke des eigenen Landes zu demonstrieren.

  • Der Großteil der Bevölkerung hat die Spielregel akzeptiert, die besagt, dass der Einzelne nichts verändern kann und von einem Individuum nichts abhängt (diese Idee wurde sogar zu der Zeit von der Macht aktiv verbreitet, als die Staatspropaganda noch nicht den

gegenwärtigen Totalitätsanspruch hatte)

Infolgedessen lebt die russische Gesellschaft heute unter ständigem Druck und obschon dieser nicht zunimmt (oder es nur langsam tut), wächst in der Gesellschaft, wie viele Faktoren belegen, der Unmut wegen der Dauerhaftigkeit dieses Drucks relativ schnell. Nach unserer Ansicht liegt das daran, dass die Wurzel des erwähnten Drucks nicht nur in der ungünstigen

sozialwirtschaftlichen Situation und unklaren Perspektive ihrer Verbesserung liegt, sondern, was noch schwerwiegender ist, im ständigen Warten auf eine verständliche Antwort auf signifikante und massenhafte Forderungen der Gesellschaft.

Fünf dieser Forderungen kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt hervorheben

(selbstverständlich erstrecken sich nicht alle fünf auf die Gesellschaft in Gänze, bei manchen Forderungen gibt es kaum Überschneidungen zwischen den einzelnen Gruppen):

  • Materialisierung der Kriegsrhetorik, die vom Staat durch Propagandakanälen ausgestrahlt wird. Ein bedeutender Teil der russischen Bevölkerung wünscht sich nachvollziehbare

Bestätigungen für Behauptungen bezüglich der zunehmenden Stärke des Landes als Weltmacht. Als solche Bestätigungen dienen: die militärische Kontrolle über die Nachbarländer, direkte Konfrontation mit den USAƒNATO usw.

  • Korruptionsbekämpfung auf höchsten Ebenen nach chinesischem Vorbild. Die absolute Mehrheit der Russen wünscht sich regelmäßige Säuberungen gegen

Korruptionsverbrecher (mit außerordentlich strengen Gerichtsbeschlüssen), einschließlich gegen symbolische und berühmte Personen aus der Staatsführung, darunter Minister, Vorsitzende von Staatsunternehmen (Kinder von hohen Staatsbeamten) usw.

  • Erneutes Wachstum des Wohlstands. Der Geld− und Konsumkult haben sich sehr fest als eines der gesellschaftlichen Prioritäten etabliert. Dabei kommt es nicht auf das

Einkommen des einzelnen Menschen an. In jeder gesellschaftlichen Schicht gibt es eigene Vorstellungen davon, was unter «Wohlstand», den man erreichen möchte, zu verstehen ist. In den letzten Jahren jedoch hat das bis dahin ständige Wohlstandswachstum

aufgehört oder ist sogar gesunken.

  • Zurschaustellung des Vorhandenseins von Perspektiven, die sich vom gegenwärtigen Stand der Dinge unterscheiden. Dazu gehört die jüngste Forderung, die zwar langsam, aber ständig nachdrücklicher wird und sich in dem Wunsch äußert, in der Macht und in den Eliten neue Figuren zu sehen (es geht nicht nur um die höchsten Posten, sondern auch öffentliche Politiker, Parteien, einfach berühmte Persönlichkeiten, die zu den

«Einflussreichen» gezählt werden). Dazu kann auch der Wunsch der Menschen gezählt werden, vernünftige Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs zu haben, die im modernen Russland praktisch fehlen.

Von allem oben Genannten konzentriert sich die russische Macht, wenn überhaupt, lediglich auf die Befriedigung der Forderung nach Stabilität. Nicht nur dass die anderen vier Forderungen

keine Reaktionen seitens der Macht hervorrufen − es kann diese Reaktionen unter der

gegenwärtigen Verfassung dieser Macht und dieser Eliten prinzipiell nicht geben. Die Gesellschaft ist sich sowohl der eigenen Unfähigkeit, ihre Forderungen einzulösen als auch der Unfähigkeit

(die hier eher als Weigerung aufgefasst wird), auf diesen Forderungen zu bestehen, sehr wohl

bewusst. Daraus resultiert die ständig zunehmende Anspannung in der Gesellschaft, die, da sie

kein Ventil hat, eine wachsende Gefahr einer Krise birgt, die nicht unmittelbar aus der Logik der Geschehnisse hervorgeht und daher schwer zu prognostizieren ist. Der Anlass für den Ausbruch kann unwesentlich sein und muss nicht einmal einen Bezug zu den wichtigsten

Forderungen der Gesellschaft haben.

Allgemeine Beschreibung des Systems der gesellschaftspolitischen Ordnung

  • Fiktives System der Macht− und Gesellschaftsorganisation in Russland
  • Reales System der Macht− und Gesellschaftsorganisation in Russland
  • Wechselwirkung zwischen imitiertem und realem System
  • Nicht wählende Mehrheit
  • Wahrscheinlichkeit einer AuswechslungƒÄnderung des Regimes infolge von Massenprotesten

Fiktives System der Macht- und Gesellschaftsorganisation in Russland

Ist vom modernen Russland die Rede, so ist es üblich, ein bestimmtes Modell der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zu betrachten, in dem Entscheidungen herausgearbeitet und

umgesetzt, Strategien entwickelt, die Spielregeln bestimmt und verändert werden usw. In der Tat aber ist dieses System zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einem hundertprozentigen Imitat seiner selbst verkommen, i.d.S., dass überhaupt keine Beziehung zwischen ihren Aktivitäten und den im Land ablaufenden Prozessen besteht.

In einem seiner Bücher beschreibt Stanislaw Lem eine aktiv funktionierende Fabrik, deren innere Prozesse alle abgestimmt und systematisiert sind, die aber nichts produziert und in keine

Wechselwirkung zur Außenwelt tritt. Natürlich beschrieb Lem etwas anderes, aber das schmälert nicht die unbeabsichtigte Genauigkeit der Metapher.

Dass das gegenwärtige System ein fiktives ist, wird durch mindestens fünf offensichtliche Faktoren bestätigt:

  • Die für die Situation im Land und der Welt wirklich relevanten Entscheidungen werden in Russland nicht infolge formalisierter Abläufe innerhalb der Macht und des Establishments getroffen, sondern von einem kleinen Personenkreis beschlossen, der sich seinerseits an einer einzigen Person orientiert − W. Putin
  • Das Prinzip der Machtteilung hat endgültig aufgehört berücksichtigt zu werden. Nicht nur dass das Parlament und das Gerichtssystem nicht unabhängig sind, sie verfügen als

Bestandteile der Machtvertikale im Grunde auch über keine eigenen Kompetenzen

  • Innerhalb des Systems gibt es praktisch keine durch gemeinsame Interessen geeinte

Institutionen und Gruppen, die diese Interessen unabhängig von der jeweiligen

Konjunktur vertreten würden. Alle Bestandteile des Systems sind jederzeit bereit (und tun das auch), sich augenblicklich auf neue ideologische Einstellungen und Aufgaben umzuorientieren

  • Innerhalb des Systems ist die prinzipielle Konkurrenz zwischen den verschiedenen Institutionen und Gruppen, die im Rahmen eines jeden real vorhandenen Systems

unabdingbar existiert, praktisch abgeschafft (ein Beispiel− der Prozess der Verabschiedung und Realisierung des Staatshaushalts hat aufgehört auf dem Konkurrenzfeld zwischen

dem Parlament und der Regierung stattzufinden)

  • Das System berücksichtigt bei seinen Entscheidungen nicht die in der Gesellschaft existierenden Stimmungen, sondern zwingt der Gesellschaft im Gegenteil durch

Propaganda Stimmungen auf, die der höchsten Machtebene bei den jeweiligen taktischen Aktivitäten nutzen

Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, die sowohl die oben genannten Fakten als auch den Fiktionscharakter des Systems als Ganzes bestätigen. Dazu zählt die Rechenschaftspflicht der systemtreuen Parteien gegenüber dem Kreml, die sowohl eine reale Strategie als auch ein reales Streben nach Einfluss vermissen lassen; und die de facto außer Kraft gesetzte Norm der

Direktwahl der Regionalgouverneure (seit 2012 gelten Regionalwahlen, bei denen es wirklich eine Konkurrenz gibt, als Ausnahmen); und die totale Kontrolle über die Medien usw. Die

«unabhängigen» Bestandteile des Systems, nämlich die öffentlichen Institute, Expertengremien,

Geschäftsvereinigungen sind ebenfalls mit der Umsetzung der imitierten Tagesordnung

beschäftigt: als Beispiel kann man hier die Arbeit der gesellschaftlichen Kammer oder die Vielzahl an politischen Berichten anführen, die die Pläne und Aufgaben der Präsidentschaftskandidaten aus «Systemparteien» bewerten, wobei in Wirklichkeit keiner von diesen Kandidaten vorhat, um einen Sieg bei diesen Wahlen zu kämpfen und das weiß im modernen Russland jeder.

Dass ein imitiertes System imitierte Aufgaben und Strategien hervorbringt, ist eine

Unausweichlichkeit, die keinerlei funktionelle Bedeutung mit sich bringt. Das ist unschwer zu erkennen am Beispiel der Tech−Projekte und −Programme der letzten Jahre, die wir ganz am Anfang bei der Bestimmung des Ausgangspunktes erwähnt haben. In all diesen − und vielen anderen − Fällen versucht das Machtsystem die eigenen Projekte entweder überhaupt nicht

umzusetzen oder tut dies rein formell mit Hilfe der Manipulation der Berichterstattung und der Statistikdaten.

Der Gesellschaft wird im imitierten System eine durchaus wesentliche Rolle beigemessen, da die Macht mit allen Mitteln versucht nach innen und nach außen zu demonstrieren, dass sie nicht total und nicht einmal autoritär ist. Das erklärt auch zum Teil die unentwegte Hervorbringung durch das Regime immer neuer regierungsnaher Bürgervereinigungen, wobei keine von ihnen auch nur die geringste Rolle spielt. Als anschauliches Beispiel kann hier die Gesamtrussische Volksfront (ONF) herangezogen werden, deren Existenzzweck kaum jemandem bekannt ist (schon früher sind die Organisationen «Die Unsrigen» (Naschi) und «Die Junge Garde» (Molodaja Gwardija) den Weg des ONF gegangen, auch der Versuch des Staates, die Volonteur−Bewegung zu kontrollieren ist gescheitert usw.).

Eine weitere fiktive Funktion der Gesellschaft besteht in der Unterstützung der Macht bei den

föderalen Wahlen, was das unentwegte Bestreben, eine hohe Wahlbeteiligung zu demonstrieren (und ständige Probleme in diesem Zusammenhang), erklärt. Bezeichnend dabei ist, dass soziale

Institute schon mehrmals bei der Formulierung der Prognose der Wahlbeteiligung einen

geringeren Prozentsatz angaben, als ihre Umfragen. Laut Umfrage gaben 60−70 oder gar 75% der Befragten an, wählen zu gehen, und die Soziologen prognostizierten eine Wahlbeteiligung von 50 oder 60%. In Wirklichkeit war sie noch niedriger, was den Fiktionscharakter dieser Funktion noch verstärkte.

Reales System der Macht- und Gesellschaftsorganisation in Russland

Beim gegenwärtigen Machtsystem Russlands handelt es sich um eine Vertikale. Aber es ist nicht die Vertikale, von der man in den ersten Jahren ihrer Entstehung, also im vorigen Jahrzehnt, sprach. Diese Vertikale funktionierte im Wesentlichen von oben nach unten: es existierte ein durchaus kompaktes und dabei in vielerlei Hinsicht formalisiertes Zentrum (bestehend aus dem Präsidenten, der Präsidialverwaltung, der höchsten Regierungsverwaltung und den Vertretern der Geheimdienste und der Armee, (den so genannten Silowiki), der die Signale nach unten

weiterleitete und ihre Ausführung kontrollierte.

Die gegenwärtige Vertikale funktioniert unter Beibehaltung der genannten Ausrichtung (wenn auch in transformierter Form, wovon unten die Rede sein wird) in viel stärkerem Maße von unten nach oben, d.h. ihre Hauptfunktion besteht in der Schaffung der Überzeugung in der höchsten Machtebene, dass alles im Land im Eivernehmen mit ihren Erlassen und Wünschen geschieht.

Bildlich gesprochen hat die Vertikale heute nicht mehr die Form einer Pyramide, sondern die eines Telefonmastes, d.h. ihre niederen Ebenen sind in der Lage, mit ihrer Arbeit in etwa

denselben Umfang an Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen wie die höchsten. Jede einzelne Ebene verfügt über gerade ausreichend Möglichkeiten und Kompetenzen, um mit Hilfe von realer Aktivität (in geringerem Maße) oder ihrer Imitation (in höherem Maße) die höheren

Ebenen davon zu überzeugen, dass die von oben ankommenden Befehle ausgeführt werden und die Signale ankommen.

Dabei gibt es an der Spitze des Mastes keine, nicht einmal informelle Institute und Strukturen. Dort sitzt ein einziger Mensch, der zudem in großem Maße das Interesse am Geschehen im Land verloren hat. Darüber hinaus gibt es jeden Grund zu der Annahme, dass das System diesen

Menschen (d.h. W. Putin), in nicht geringerem Maße unter Kontrolle hat als er das System. Das ist so gekommen, weil auf der einen Seite das System es gelernt hat, in der Wahrnehmung des W.

Putin das Bild des Geschehens zu produzieren, welches den Interessen des Systems entspricht und auf der anderen gibt es prinzipiell keine anderen Informationsquellen, die der Präsident als Grundlage nutzen könnte.

Das betrifft auch die Zielsetzung der Macht in Russland. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfolgen die Machteliten nur ein einziges Ziel: die Bewahrung des Status quo für einen möglichst langen Zeitraum. Alle Aktivitäten der Macht sowohl im Inneren, als auch auf der internationalen Arena

sind auf das Erreichen dieses einen Ziels ausgerichtet. Nur unter Berücksichtigung dieses einen

Ziels bewertet die russische Macht Situationen, Herausforderungen, Probleme und

Möglichkeiten sowohl innerhalb Russlands als auch von außen. Von diesem Ziel motiviert versucht das System und das durchaus mit Erfolg den Präsidenten zu kontrollieren.

Dennoch besteht zwischen W. Putin als der Quelle der Initiative und der Legitimität des Systems und dem System als solchem ein bestimmtes Gleichgewicht. Man kann nicht sagen, dass der

Präsident eine willenlose Geisel sei. Erstens entsprechen die Interessen des W. Putin in ganz allgemeiner Sicht denen der Vertreter aller Machtebenen: den Status quo und ihre Positionen darin möglichst zu behalten. Zweitens sind die Eliten, das betrifft insbesondere mittlere und untere Ebene gespalten im gleichen Maße wie die Gesellschaft als Ganze. Jeder kämpft für sich, innerhalb des Systems entstehen keine organisierten Gruppen (gerade deshalb, weil die absolute Mehrheit der Vertreter der russischen Machteliten keinerlei langfristige Interessen verfolgt, es

gibt also keine Grundlage für Konsolidation und Strukturierung. Das reale Machtsystem funktioniert nur in zwei Fällen

  • Bei Anweisungen des W. Putin (oder bei Weiterleitung dieser Anweisungen durch eine Vertrauensperson, was im Grunde das Gleiche bedeutet)
    • Bei Versuchen den WünschenƒAnsichten des W. Putin zuvorzukommen und Lösungen vorzubereiten

Handelt es sich um niedere Ebenen und weniger wichtige Fragen, die keine landesweite Bedeutung haben, wird das Muster detailgetreu übernommen, nur bildet nicht mehr der Präsident das Zentrum, sondern Führungspersonen niederer Ränge, wie z.B. Gouverneure.

Das System hat gelernt gut zu differenzieren, in welchen Fällen der Präsident tatsächlich eine Anweisung gibt und wann er etwas sagt, was einfach erwähnt werden muss (das kann man gut an Themen beobachten wie z.B. der Verbesserung des Investitionsklimas, Verringerung des

Drucks auf die Geschäftswelt; W. Putin äußert sich regelmäßig zu beiden Sachverhalten mit relativ liberalen Aussagen, die sich jedoch in keinen realen Handlungen niederschlagen).

Wünsche und Sichtweisen des W. Putin vorherzusagen fällt dem System schwer, weshalb eine Vielzahl von Initiativen auf der Ebene der Regierung, des Parlaments, der Präsidialverwaltung

nicht umgesetzt werden − einfach, weil man falsch vorhergesehen hat oder der Präsident an dem jeweiligen Thema überhaupt kein Interesse hatte.

Nur eine Sphäre bleibt im gegenwärtigen Staatssystem relativ geschützt von der beschriebenen Degradation − das ist die Sphäre der makroökonomischen Regulierung und der Staatsfinanzen. Die Gruppe der höchsten Staatsbeamten, die für diese Sphäre verantwortlich ist, genießt relative Freiheit und die Möglichkeit, ihre unmittelbaren Verpflichtungen zu erfüllen, da W. Putin konsequent die Versuche von Menschen und Strukturen unterbindet, die keinen Bezug zu diesem Gebiet haben, in diesen einzugreifen. Im Gegenzug jedoch wird von den profilierten

Staatsbeamten nicht nur der gleiche Grad an Nichteinmischung in andere Sphären gefordert,

sondern auch der Verzicht auf Initiative: ihr Mandat umfasst lediglich das Recht, negative Folgen

der Aktivitäten der Staatsführung zu minimieren (v.a. außenpolitische). Mit anderen Worte, der finanzwirtschaftliche Machtblock und seine Umgebung sind in vielerlei Hinsicht befugt, nach

eigenem Ermessen zu handeln, allerdings dürfen sie nur reaktiv und im Rahmen ihrer unmittelbaren Vollmachten handeln.

Was die reale Gesellschaftsordnung betrifft, so kann sie auf sehr einfache Weise beschrieben werden. Es reicht schon, bei der Strukturbeschreibung dieser Gesellschaft alle formal

existierenden gesellschaftlichen Institute und Vereinigungen auszuschließen und als eine

Gegebenheit zu akzeptieren, dass es in Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt praktisch keine vertikalen Verbindungen zwischen Bürgern gibt außer den verwandtschaftlichen und freundschaftlichen. Ausnahmen sind so rar, dass man mit Gewissheit sagen kann, dass 85−90% der Russen im Modus «jeder für sich und jeder allein in Angesicht des Staates».

Das erklärt wiederum, warum so viele Russen es vorziehen, den Rahmen ihres Privatlebens nicht zu überschreiten und versuchen, dem Staat nicht aufzufallen (das gilt nicht nur für politische

Aktivität, sondern alle Sphären). Sogar unter denen, die W. Putin undƒoder den außenpolitischen Kurs Russlands unterstützen, gibt es viele, die den Kontakt mit dem Staat als eine unangenehme und potentiell gefährliche Angelegenheit betrachten, die nach Möglichkeit zu vermeiden ist.

Wechselwirkung zwischen fiktivem und realem System

In letzter Zeit sind wir Zeugen einer allmählichen Ausbreitung und Stärkung des fiktiven Systems zuungunsten des realen. Es gibt immer weniger Sphären im Staats− und Gesellschaftsleben, in denen reale Akteure reale Handlungen vollziehen. Anschaulich Beispiele dafür sind − Verzicht auf die Umsetzung jeglicher langfristigen Strategien (Rentenreform, Verbesserung des

Investitionsklimas, Privatisierung, Umformatierung des Staatshaushalts usw.) und der Übergang zu momentanen reaktiven Lösungen sogar in Sphären, die für das Regime die höchste Priorität haben (Außenpolitik, Propaganda).

Einer der Gründe, weshalb das geschieht, ist, dass die Mehrheit der höchsten Staatsbeamten (d.h. der hauptsächlichen Umsetzer von W. Putins Politik) in beide Systeme eingebettet ist und in jedem mehr oder weniger eine Rolle spielt. Da Berechnung und Durchführung realer Aktivitäten immer wesentlich umständlicher ist, als ihre Imitation, bevorzugen die Beamten bei der Wahl

zwischen Realität und Fiktion oft das zweite, während für das erste einfach die finanziellen,

zeitlichen und personellen Ressourcen oft nicht reichen. Ja, diese Erklärung ist außerordentlich prosaisch, was sie aber nicht falsch macht. und bei weitem nicht so fesselnd wie die Theorie vom Machtkampf innerhalb des Systems oder von der Konfrontation zwischen den Vertretern der

Geheimdienste (Silowiki) und den Liberalen.

In letzter Zeit (der Prozess hat nicht vor 2016 begonnen) kann man beobachten wie reale Handlungen sogar in der Sphäre der Staatspropaganda allmählich durch das fiktive System ersetzt werden. Reale Propaganda in einem autoritären Staat dient immer der Idee der

Mobilisierung der Gesellschaft, aber nicht nur der Mobilisierung als solcher, sondern der

Mobilisierung für irgendwelche, einem bedeutenden Teil dieser Gesellschaft verständlichen Ziele

(Kampf gegen inneren oder äußeren Feind, Krieg, Weltherrschaft oder wenigstens der

wirtschaftliche Durchbruch). Beispiele des Nazi−Deutschland, der UdSSR unter Stalin, Chinas unter Mao sind anschaulich und gut studiert. Die gesellschaftliche Mobilisation in Russland, die unmittelbar nach der Eingliederung der Krim eingesetzt hat, schwebt heute in der Luft. Nachdem der Staat sich mit Hilfe von Propaganda an die Spitze des Mobilisierungsprozesses gesetzt und ihm die Richtung gewiesen hatte, verlor das Regime an Geschwindigkeit, weil es nicht gewagt hat, den Einwirkungsgrad auf die Gesellschaft bis zum Stadium eines realen Krieges mit einem äußeren oder inneren Feind zu steigern. Von einem wirtschaftlichen Aufschwung kann gar nicht erst die Rede sein.

Infolgedessen wird die heutige Staatspropaganda immer mehr als «Hintergrundlärm»

wahrgenommen, wie das in der UdSSR der 70er Jahre des 20 Jahrhunderts der Fall war. Breite Gesellschaftsschichten betrachten den Propagandainhalt unkritisch und teilen sogar in vielerlei Hinsicht die ausgestrahlten Thesen, jedoch kann ihr Zustand nicht einmal mehr als «vor−

mobilisiert» bezeichnet werden. Im Laufe der Zeit und unter der Voraussetzung der Beibehaltung des «Propaganda−Grades» wird dieser Prozess voranschreiten und die loyalen und neutralen Teile der Gesellschaft werden in nicht ferner Zukunft aufhören auf das, was die Macht durch die von ihr kontrollierten Kanäle verbreitet, zu reagieren.

Im Allgemeinen führt die Tendenz der Bedeutungszunahme des fiktiven Systems gegenüber dem realen dazu, dass es schon jetzt in der Machtvertikale zur Gleichgewichtsverschiebung zwischen den Strömungen «von oben nach unten» und «von unten nach oben» kommt. Hatte vor 15 oder gar 7−8 Jahren die Strömung «von oben nach unten» bedingungslosen Vorrang d.h. die

Verfassung und die Aktivitäten aller Systemebenen wurden von Gruppen der höchsten Ebene bestimmt und auf dieser Ebene wurden Vorstellungen darüber formuliert, was im Land und in seiner Umgebung geschieht), so ist die Strömung «von unten nach oben» heute mindestens

genauso bedeutend (d.h., dass der politische Wille, die Beschlüsse und die Mannschaften zwar nach wie vor fast ausschließlich von der höchsten Ebene kommen, aber die Vorstellung von der Realität, die in dieser höchsten Ebene herrscht, wird bereits in vielerlei Hinsicht von den niederen Ebenen formuliert).

Die Tendenz des «Hinüberfließens» der grundlegenden Ressourcen und Möglichkeiten aus dem realen ins fiktive System trägt einen beständigen Charakter und die Frage ist nur, ob die

Geschwindigkeit (und nicht der Vektor) dieses Prozesses sich ändern wird. Eine Änderung des

Vektors ist ohne eine wesentliche Änderung des Organisationsprinzips der Macht und der Eliten praktisch unmöglich, darum wird in kurz− und mittelfristiger Perspektive die Degradation dieser Eliten und der staatlichen und gesellschaftlichen Systeme in Russland voranschreiten.

Nichtwählende Mehrheit

Im Verlauf der gesamten Präsidentschaft des W. Putin war die Wahlbeteiligung bei föderalen und regionalen Wählen in Russland beständig im Niedergang begriffen. Das letzte Mal vor fünf Jahren lag die reale Wahlbeteiligung bei einer wichtigen Wahl bei über 50 %, im Jahr 2012 (bei den

damaligen Präsidentschaftswahlen lag sie bei ca. 55−56 %, nach offiziellen Angaben − 65%). Bei

den Moskauer Bürgermeisterwahlen im Jahre 2013 lag die Wahlbeteiligung bei lediglich knapp über 30%, bei den Parlamentswahlen 2016 lag die reale Wahlbeteiligung bei knapp über 36% (nach offiziellen Angaben− ca. 48 %), die Mehrheit der Gouverneurswahlen, darunter in

symbolischen dichtbesiedelten Regionen, verläuft bei einer Wahlbeteiligung i.H.v. 30−40%.

Das gibt Grund zu der Annahme, dass sich in Russland eine stabile Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung− ca. 60−65 Millionen von 110 Millionen Wahlberechtigten− gebildet hat, die schon seit langer Zeit an keiner Wahl teilgenommen hat. Gerade dabei handelt es sich um die größte Wählergruppe, die sowohl die Gruppe der Anhänger W. Putins, die ihm ihre Stimme gaben (ca. 40−45 Millionen) und erst recht die Gruppe der Anhänger des «Geeintes Russland» (ca. 28 Millionen Stimmen bei den Wahlen im Jahre 2016, offizielle Angaben) erheblich übersteigt.

Man kann auch annehmen, dass die Geschehnisse im Zusammenhang mit der Krim und die plötzliche Verstärkung der Staatspropaganda seit 2014 sich praktisch nicht auf die Größe dieser Mehrheit ausgewirkt haben: wie bereits erwähnt sind im Jahre 2016 70 Millionen potentielle Wähler nicht zu den Parlamentswahlen gegangen; als Beispiel kann man auch die

Gouverneurswahlen im September 2014 anführen, die bei einer Wahlbeteiligung, die laut offiziellen Angaben bei 39% lag, stattgefunden haben.

Selbstverständlich ist eine solch große Gruppe von Bürgern nicht identisch in ihren politischen Vorzügen− darunter gibt es latente Anhänger des W. Putin und der Macht im Allgemeinen, oppositionell eingestellte Menschen, die keinen Sinn an der Teilnahme an Wahlen sehen, sowie einfach absolut apolitische Menschen. Der Zustand der gegenwärtigen russischen Soziologie gibt keine Möglichkeit, auch nur etwas Bestimmtes über die Stimmungen dieser Gruppe zu sagen.

Offizielle soziologische Institute, (die de facto einen Teil des fiktiven Systems bilden), geben sich nicht einmal Mühe, diese Mehrheit auch nur in einem Aspekt zu erforschen. Die wesentlichsten Fragen− wie genau ist die nicht wählende Mehrheit strukturiert und was kann den Austritt der

einen oder anderen ihrer Untergruppen aus dem Zustand absoluter Apathie bewirken− lassen nicht nur klare Antworten vermissen, sondern auch mehr oder weniger klare Hypothesen.

Bezüglich der nicht wählenden Mehrheit sind von Seiten der Macht nur zwei Strategien möglich:

  • der Versuch, diese Gruppe (oder einen Teil von ihr) aus der Apathie zu führen

• der Versuch, diese Mehrheit auch künftig (für einen unbestimmten Zeitraum) isoliert von den Wahlen und überhaupt jeder politischen Aktivität zu lassen

Es ist offensichtlich, dass kraft der immensen Größe der nicht wählenden Mehrheit die

Aktivierung eines kleinen, etwa 10−15% der Gesamtzahl betragenden Teils, das Bild einer jeden föderalen Wahl radikal verändern kann. Das wäre für die Macht und für W. Putin persönlich das unannehmbarste Szenario, nicht einmal, weil die besagten 10−15% oppositionell eingestellt sein könnten (das muss überhaupt nicht sein), sondern weil die Folgen einer solchen Einwirkung auf die nicht wählende Mehrheit schwer vorherzusehen sind und Unvorhersehbarkeit ist eine der

größten Ängste (und folglich auch Hürden) von W. Putin.

Das zeigt eindeutig den Weg, den die Macht bei den kommenden (v.a. präsidialen) Wählen einschlagen wird. Beim formalen, d.h. fiktivem Bestreben, einen hohen Prozentsatz der

Wahlbeteiligten zu erreichen, was für den Präsidenten sehr nützlich wäre, wird das System in Wirklichkeit nichts dafür unternehmen, außer den bereits gewohnten Schritten. Infolgedessen

werden im März 2018 praktisch nur die Menschen an den Urnen erscheinen, die entweder nicht anders können (weil sie unmittelbar vom Staat abhängig sind) oder es nach langjähriger

Gewohnheit tun (v.a. Menschen höheren Alters).

Wahrscheinlichkeit eines Wandels / Veränderung des Regimes durch Massenproteste

Seit Beginn des 20−ten Jahrhunderts gab es in Russland nur fünf Fälle von mehr oder weniger massenhaften systematischen Protesten der Bevölkerung gegen die Politik der gültigen Macht undƒoder gegen die Macht selbst. Das waren:

  • Die Unruhen der Jahre 1905−7
  • Die Unruhen der Jahre 1917−18
  • Die Unruhen der Jahre 1989−91
  • Die Proteste im Jahre 1993 (März−Oktober)
  • Die Proteste in den Jahren 2011−12 (Dezember−Juni)

Im zweiten und dritten Fall haben die Proteste (ihre Rolle ist nicht ausschließlich, aber

wesentlich) zur Änderung des Regimes, der gesellschaftlich−ökonomischen Ordnung und des staatlichen Systems geführt. In den andren drei Fällen verliefen die Proteste praktisch folgenlos.

Die erste Frage lautet: Warum geschah die Zunahme an Massenprotesten ausgerechnet in diesen Zeitperioden und nicht in anderen für das Land bedeutenden Jahren im Verlauf von etwa 120

Jahren? Die Antwort ist relativ einfach: gerade in diesen Perioden befand sich die in einem schwachen und unstrukturierten Zustand, wobei zu bemerken ist, dass die Schwächung der Macht nicht infolge der Proteste, sondern schon davor begann.

Im Jahre 1905 befanden wir uns in folgender Situation: nicht sonderlich erfolgreicher Beginn der Regentschaft Nikolaus II, Niederlage im Russisch−Japanischen Krieg, zunehmende

Unzufriedenheit der Eliten wegen des Festhaltens an der absoluten Monarchie.

Im Jahre 1917 brach der Zarismus so schnell zusammen, dass das Staatssystem nicht in der Lage war, die Macht aufzufangen und in vielerlei Hinsicht einfach polarisiert war.

Im Jahre 1989 sendete die Spitze der autoritären Sowjetmacht schon seit einigen Jahren (seit 1985) widersprüchliche Signale an die Staatsmaschinerie. Mal wurde zu Demokratie, Glasnost

usw. aufgerufen, mal die Einhaltung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei bekräftigt

und Gewalt angewendet; infolgedessen war das Machtsystem völlig desorientiert und handelte nicht einmütig.

Im Jahre 1993 fand ein überaus heißer Konflikt innerhalb der Macht statt mit unklaren

Aussichten für beide Seiten. Mindestens ein halbes Jahr lang war die Macht in Russland faktisch zweigeteilt.

Zum Ende des Jahres 2011 sandte die Macht seit einem bereits längerem Zeitraum zwar unklare, aber wiederholte Signale über eine Wahrscheinlichkeit einer gewissen allgemeinen

Liberalisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Man konnte über die Fragen nach dem künftigen Kurs des Landes und der Stilistik der Macht diskutieren.

Die zweite Frage lautet: Warum wurden die Proteste der Jahre 17−18 und 89−91 nicht gezähmt und mündeten in umfangreichen Umwälzenden aller Lebenssphären im Land, während die

Proteste in den drei anderen Fällen praktisch folgenlos verliefen? Die Antwort ist wiederum recht einfach: Obwohl zwischen den drei Fällen, die folgenlos blieben, viele Unterschiede gab, einte sie eine wesentliche Gemeinsamkeit, nämlich dass die Macht sich entschlossen hatte, sehr hart auf die Proteste zu reagieren und gerade diese Machtdemonstration hatte die Protestierenden

zurück in die «Küchen» getrieben.

Die russische Gesellschaft ist nach wie vor so organisiert, dass ihr schon die Andeutung von Härte von Seiten der Macht und die Demonstration der inneren Geschlossenheit dieser Macht als

Systems genügt, um auf jede Form von wirklichen Massen− und darauf folgenden

Protestaktionen zu verzichten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Lage sich absehbarer Zukunft ändern könnte.

Beachtet man, dass W. Putin nicht dazu neigt, die Art der Machtausübung und die Art des Dialogs zwischen der Macht und der Gesellschaft (genauer, die Art der Einwirkung der Macht auf die

Gesellschaft) zu ändern, kann man mit Sicherheit behaupten, dass mindestens in den

kommenden 5−10 Jahren keine massenhafte Protestbewegung sich formieren wird. Nicht einmal ein abrupter und tiefer wirtschaftlicher Abschwung (geschweige die kriechende Depression der letzten Jahre), sollte er während der angegebenen Periode stattfinden, wäre ein Auslöser. Man erinnere sich an das Jahr 1998, als der Default zu keinerlei in irgendeiner Weise bedeutenden

Protestbewegungen geführt hat, und nicht einmal die allgemeine Unbeliebtheit des Regimes von

B. Jelzin hat hier eine Rolle gespielt.

Das oben Erwähnte bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit spontaner Massenproteste gegen

Null tendiert. Entsprechend unwahrscheinlich ist, dass gerade solche Bewegungen der Auslöser für die Änderung des Regimes in Russland mindestens in den kommenden 5-10 Jahren sein werden.

Währenddessen lässt die Zunahme der inneren Spannung in der Gesellschaft und die

vollkommene Degradation des Systems der Überwachung vonMassenstimmungen das

Szenario einer umfassenden sozialen Explosion «aus dem Nichts“, also aus einem an sich unbedeutenden Anlass, der nicht zu den Hauptproblemen und -ängsten der Russen zählt, nicht völlig ausgeschlossen erscheinen. Eine solche Explosion, sollte sie tatsächlich stattfinden,

würde die Lage im Land und das Verhalten der wesentlichen Personen und sozialen Gruppen sofort grundlegend verändern.

Modell der Situationsentwicklung

  • Modellgrundlage
  • Allgemeineƒr Ausgangspunktƒ Grundlage des Geschehens bis 2018
  • Beschreibung potenzieller kritischer Punkte
  • Aktualisierungen und Ergänzungen des Modells

Modellgrundlage

Objektiv gesehen gibt es in Russland zwei wesentliche Entwicklungsvektoren:

Der erste ist das Bestreben der Macht in immer stärkerem Ausmaße und immer mehr durch direkte Anweisungen alle bedeutenden Prozesse in Russland zu kontrollieren. Diese totale manuelle Kontrolle erscheint der Macht als die einzige wirklich wirksame Möglichkeit, ihr Hauptziel zu erreichen (den Status quo für einen möglichst langen Zeitraum zu erhalten).

Der zweite ist die zunehmende Unfähigkeit der Macht irgendetwas wirklich wirkungsvoll zu

lenken aufgrund der zunehmenden Reduzierung (sogar abrupter als die Degradation) der Macht selber, die langsam, aber ständig von realen Aktivitäten zu ihrer Imitation wechselt, um der Spitze des Regimes Ruhe zu gewährleisten.

Die Überschneidung dieser Vektoren in einem Punkt (oder mehreren) in absehbarer Zukunft wird bedeuten, dass die Macht sich bemüht, durch Handlenkung ein weiteres Ereignis zu kontrollieren oder ihr in einem Prozess bedeutende Fehler unterlaufen sind, aufgrund zu geringer Adäquatheit und der Unfähigkeit, die ganze Situation und alle Besonderheiten ihrer Entwicklung zu

überblicken. Diese Fehler werden so wesentlich sein, dass die Erhaltung des Machtsystems in

Russland nicht mehr möglich sein wird, worauf eine mehr oder weniger schnelle Transformation folgen wird.

Um die Situationsentwicklung zu simulieren, muss man die Wahrscheinlichkeit einer solchen Überschneidung jedes wesentliche Ereignis und in jeden bedeutenden Prozess im

gesellschaftspolitischen Kalender Russlands berechnen (das sind dann die «potentiellen

kritischen Punkte»). Obwohl dieses Modell in der Tat einfach ist, handelt es sich nicht um eine Vereinfachung der Realität. Die Einfachheit des Modells entspricht der äußersten Einfachheit der Machtorganisation, sowie der Ansätze und der Aktivitäten dieser Macht.

Um den gesellschaftspolitischen Kalender zu erstellen, ist es wiederum ausreichend, die Ansätze und Handlungen des einen Zentrums, an dem die Tagesordnung festgelegt wird, korrekt

auszurechnen. Wie schon gezeigt, können spontane Proteste «von unten» noch keinen

signifikanten Einfluss auf die Formierung der Tagesordnung haben, während es innerhalb der Macht nur ein Zentrum gibt. Dieses Zentrum und Möglichkeiten, darauf einzuwirken sind in der Tat von verschiedenen Gruppen umkämpft. Dabei gibt es keinen Zusammenhang zwischen

diesem Kampf und dem gesellschaftspolitischen Feld.

Alle Aktivitäten im Rahmen des fiktiven Systems− die legislative Parlamentsarbeit, die

Regionalwahlen, das Tätigkeitsfeld der «systemtreuen» Parteien usw.− haben schon jetzt keine eigenständige Bedeutung und werden sie auch künftig nicht haben.

Was wird im Wesentlichen in nächster Zeit die Verfassung und die Stimmungen der Macht bestimmen− die Rede ist von einigen Monaten bis einigen Jahren?

Ersten: Wie schon erwähnt, wird die Macht versuchen, den Status quo für einen möglichst langen Zeitraum zu erhalten. Das bedeutet, dass keine in irgendeiner Weise wesentlichen Reformen in Politik, Wirtschaft, in Staats− und Gesellschaftsstruktur zu erwarten sind. Folglich wird das fiktive System langsam aber ständig in seiner Bedeutung zunehmen gegenüber dem

realen; die Macht und die Eliten werden sich immer weniger mit realen Problemen beschäftigen und sich immer weniger der Realität bewusst werden, in der sich das Land befindet.

Zweitens: das benannte Hauptziel der Macht wird sich immer stärker innerhalb der Macht selbst verbreiten und dabei immer neue ihrer Schichten einnehmen. Jedoch wird auf überdurchschnittlichen und mittleren Ebenen die Bewahrung des Status quo anders aufgefasst werden (und wird es schon jetzt) als auf der höchsten Ebene. Für Angehörige der unteren

Ebenen der Staatsmaschinerie bedeutet diese Unveränderlichkeit nur das Behalten ihrer

persönlichen Positionen, unabhängig davon, was im Land und seiner Umgebung geschieht. Mit anderen Worten wird das mittlere Staatsbeamtenwesen (einschließlich der Sicherheitsbehörden, der Armee und des Staatsgeschäftswesens) um die Erhaltung seiner selbst und nicht um die Erhaltung des Machtsystems kämpfen, erst recht nicht um die ideologischen Richtlinien des Systems. (Ähnliches war in den Jahren 1990−91 in der UdSSR zu beobachten, und lokal im Jahre

2014 auf der Krim).

Drittens: Es wird für die Macht immer weniger Möglichkeiten zu manövrieren geben. Lange Zeit hatte die Macht in Russland keinerlei ideologische Einschränkungen, was ihr viele Vorteile bot, die beispielsweise die Macht der späten UdSSR nicht hatte. Auch heute gibt es keine echte

Ideologie, es hat sich aber ein System unabänderlicher Prinzipien gebildet (von denen oben die Rede war), die dieselben Einschränkungsfunktionen erfüllen wie das in der Sowjetunion der Fall war mit der Ergebenheit an das sozialistische System und an die Planwirtschaft, der Ablösung des Staates durch die Partei, Unterstützung diktatorischer Regime usw.

Viertens: Auf allen Ebenen des Staatssystems wird W. Putin immer weniger als ein Garant für den

Erhalt der Positionen bestimmter Personen, Gruppen und Klans angesehen werden. Besteht im Jahres 2018 ein breiter Konsens hinsichtlich des Erhalts W. Putins auf seinem Posten, so wird dieser Konsens bis zum Jahre 2024 erheblich verschwommen sein. Der Grund dafür hat einen natürlichen (und daher unabwendbaren) Charakter: ein bedeutender Teil der Vertreter der Staatsbeamtenschaft und des Staatsgeschäftswesens werden bis zum Jahre 2024

durchschnittlich 20−25 Jahre jünger sein als der dann 72−jährige W. Putin; er wird für sie also, aus rein biologischen Gründen, nicht einmal für die nächsten 10 Jahre ein Garant sein können.

Fünftens: Innerhalb der Macht gibt es praktisch niemanden außer W. Putin selbst, der über ausreichend Bekanntheit, Respekt und Wert für die Außenwelt verfügt, um als neuer Garant in Betracht gezogen zu werden (D. Medwedew verfügt zwar durchaus über diese Aktiva, aber aus vielen Gründen werden sie bei ihm für die höchste Position vermutlich nicht reichen). Die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten Jahren eine solche Person plötzlich aus dem Machtsystem hervorgeht, tendiert gegen Null. Personen aus dem engsten Kreis W. Putins führen ihre Kinder in das System ein, aber auch sie verfügen über kein eigenes politisches Kapital und werden es auch in Zukunft nicht tun, sie werden also nur die Rollen übernehmen können, die ihre Eltern heute spielen.

Sechstens: Tatsächlich existiert innerhalb des Systems und der Eliten eine ziemlich starke Forderung nach Veränderungen. Diejenigen, die bereit sind, diese Veränderungen zu

unterstützen (nicht aber zu initiieren), können sie aus vielen Gründen brauchen: Unzufriedenheit mit der eigenen Position, Unzufriedenheit mit der Reduzierung des «Geldkuchens», Sorge vor

einem unkontrollierten Sturz des allzu degradierten Systems usw. Für die russischen Eliten könnte allmählich das ukrainische Szenario in den Fokus geraten, wo das staatsbeamten− oligarchische System sich ganz gut erhalten konnte, zuerst nach der Revolution des Jahres 2004 und dann seit 2014, und sich seitdem ganz gut mit realen Institutionen der Zivilgesellschaft

verträgt und nicht in harte Konfrontation zu den Weltführern tritt. Das ukrainische System ist objektiv gesehen langlebiger als das russische, obwohl die Stellungen derer die vom System profitieren dort weniger unerschütterlich sind. Für die russischen Eliten wäre diese Möglichkeit schlimmer als das, was sie jetzt haben, aber ganz klar besser als das, was sie in nicht allzu ferner Zukunft unter Beibehaltung der gegenwärtigen Tendenzen erwarten kann.

Siebtens: Die Macht wird im Allgemeinen auch in Zukunft weiter bestrebt sein, die Gesellschaft in der höchstmöglichen Passivität zu halten (und noch sind die Möglichkeiten dafür ganz erheblich). Gleichzeitig ist der Spannungsgrad in der russischen Gesellschaft schon relativ hoch und nimmt

weiter zu. Lässt man die Möglichkeit zu, dass einzelne Gruppen innerhalb der Macht auf den

Gedanken kommen könnten, auf die ein oder andere Weise die Stimmungen in der Gesellschaft als Argument für die Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen, hat man Grund zu behaupten, dass solche Versuche das Potential haben, zu einer unkontrollierbaren und nicht

prognostizierbaren sozialen Explosion zu führen, sogar in einer Situation, in der es sie, objektiv betrachtet, nicht geben sollte. Grund: Die Überwachungsinstitute für gesellschaftlicher

Stimmungen sind in Russland bis zu einem solchen Grad degradiert, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen, nämlich ein objektives Bild der öffentlichen Wahrnehmung der Ereignisse im Land und der möglichen Reaktionen der Gesellschaft darauf zu liefern.

Allgemeiner Ausgangspunkt des Geschehens bis Herbst 2018

Wir erläutern unsere Sicht einer möglichen Entwicklung der Geschehnisse im Verlauf eines

Jahres− bis Herbst 2018. Wir werden nun eine allgemeine Beschreibung dessen vornehmen, was in dieser Zeitperiode geschehen könnteƒsollte, und dabei die potentiellen kritischen Punkte

hervorheben und jeden von ihnen beschreiben.

Ab September 2017 werden wir regelmäßig Aktualisierungen der Prognose mit Fokus auf Ereignissen, die in den nächsten Monaten zu erwarten sind, vorstellen.

In der Zeitperiode bis Mai 2018 werden sich praktisch alle wesentlichen Ereignisse im Land und die Aktivitäten der russischen Macht auf ein Thema konzentrieren − die Präsidentschaftswahlen und die Formierung wichtigster Machtorgane basierend auf den Wahlergebnissen. Deshalb

werden wir bei der Betrachtung der Periode zwischen September 2017 und Mai 2018 keine

einzelnen Themen und Richtungen (z.B. makroökonomischen Schritte, legislative Neuerungen, Protestaktivität usw.) hervorheben − sie werden alle recht eng mit den Wahlen verbunden sein.

Die mit den Präsidentschaftswahlen verbundene Thematik wird ihre Bedeutung bis hin zu den für September 2018 angesetzten Bürgermeisterwahlen in Moskau behalten (wobei ab März 2018 auch andere Themenschwerpunkte entstehen werden).

Wir gehen davon aus, dass W. Putin mit 98−prozentiger Wahrscheinlichkeit um die folgende Legislaturperiode kandidieren wird (wir werden auch Szenarien durchspielen, bei denen das nicht passiert, jedoch scheinen diese fast ausgeschlossen). Die öffentliche Nominierung wird Ende Oktober oder im November 2017 stattfinden, bis dahin sind einige bedeutende Ereignisse (sogar potenzielle kritische Punkte) möglich, die gerade mit der geringen Wahrscheinlichkeit

verbunden sind, dass W. Putin auf die neue Amtszeit verzichtet.

Nach der öffentlichen Nominierung wird sich die Anzahl möglicher Entwicklungen der Ereignisse kraft der beschriebenen musterhaften Ansätze sowohl W. Putins selbst als auch des

Machtsystems als Ganzes erheblich verringern. Mit einer beinah 100−prozentigen

Wahrscheinlichkeit wird ein konkurrenzloses Wahlszenario gewählt, bei dem reale Opponenten des Präsidenten (d.h. A. Nawalny) nicht zur Wahl zugelassen werden. Das System wird sich

bereithalten, die benötigte Wahlbeteiligung mit den Methoden sicherzustellen, die in Russland in

den letzten Jahren Tradition geworden sind, d. h administrativer Druck auf die vom Staate abhängigen Wähler und Einmischung in den Prozess der Stimmenzählung.

Überhaupt wird das Machtsystem die Wahlen im Moment der öffentlichen Nominierung W. Putins für beendet erachten und seine eigentliche Aktivität auf den inneren Kampf und die Verteilung der Posten und der Einflusssphären nach den Wahlen konzentrieren. Praktisch die ganze Arbeit, die unmittelbar mit der Wahlkampagne verbunden ist, wird einen fiktiven Charakter tragen mit allen Konsequenzen, die daraus folgen.

Man kann erwarten, dass W. Putin und ein Teil seiner Mannschaft in ihrem Bestreben, die

Aktivität der Wähler mit politischen und nicht administrativen Methoden zu erhöhen, Versuche unternehmen werden, vom allzu traditionellen Szenario abzuweichen. Es ist wahrscheinlich, dass der Präsident in der Öffentlichkeit auf das junge Auditorium (Nominierung im Rahmen einer

Jugendveranstaltung, die Bildung der Volkswahlbüros durch die «unabhängige» Jugend, Distanzierung von «Einiges Russland» und vom Staatsapparat, aktive Nutzung des Internets im Rahmen der Wahlkampagne usw.) und auf moderne Technologien (Digitalwirtschaft, innovative Infrastrukturprojekte, prinzipiell neues Stadtmilieu usw.) setzen wird.

Wir glauben, dass der Versuch unternommen wird, das Bild eines «direkten Drahtes» zwischen W. Putin und dem Volk zu erzeugen (wobei unterschiedliche Volksgruppen angesprochen werden und nicht nur die älteren Generationen und weniger wohlhabende Schichten), der auf den Kampf mit dem auf allen Ebenen nervigen, wenig effektiven Staatsapparat ausgerichtet ist. Das würde

W. Putin die Möglichkeit eröffnen, sich von dem Staatsbeamtenwesen, welches in der Gesellschaft immer kritischer angesehen wird, zu distanzieren. Darüber hinaus werden

Prognosen rekrutiert werden, die besagen, dass W. Putin, nach den Wahlen mit neuem Mandat ausgestattet, endlich beginnen wird, eine massenhafte «Säuberung» im Staatsapparat

durchzuführen.

Außerdem wird in der Wahlkampagne W. Putins selbstverständlich das Thema des Erstarkens und des zunehmenden Einflusses Russlands in der Welt eine bedeutende Rolle spielen, sowie traditionsgemäß das Thema der Unterstützung wenig wohlhabender Bevölkerungsschichten.

Eine detaillierte Prognose der Strukturierung und der Entwicklung der Wahlkampagne W. Putins werden wir näher zum Zeitpunkt seiner öffentlichen Nominierung bereitstellen.

Es steht zu erwarten, dass die Kampagne wenig effektiv sein wird (kraft der Tatsache, dass sie vom Machtsystem als fiktiv angesehen wird und es in der Tat auch ist), wobei während der Vorwahlperiode einige potentielle kritische Punkte auftreten können. Die Gründe für ihr

mögliches Auftreten − konkurrenzloses Szenario der Kampagne und die reale Konzentration auf den Kampf innerhalb des System um anschließenden Einfluss im Land.

Dennoch glauben wir, dass das Ziel (d. h die Wiederwahl W. Putins für die neue

Legislaturperiode) erreicht werden wird, wenn auch mit erheblichem Aufwand. Der Sinn dieses

Aufwandes liegt nicht einmal darin, mit Hilfe der für die Wahlen der letzten Jahre charakteristischen Methoden, die gewünschte Wahlbeteiligung und die nötige

Stimmenverteilung zu erreichen. Den Hauptgrund für diese Anstrengungen sehen wir in der schweren Frustration eines bedeutenden Bevölkerungsanteils angesichts der Ergebnisse traditioneller Kampagnen mit den üblichen Kandidaten und herkömmlichen Methoden der Stimmenzählung− all das wird in seiner Gesamtheit ein klares und unmissverständliches

Signal der absoluten Hoffnungslosigkeit bezüglich irgendwelcher, sei es auch nicht sehr bedeutender Veränderungen in Russland in den nächsten sechs Jahren.

Diese Frustration, die sogar Bevölkerungsschichten betreffen wird, die ansonsten der Macht

gegenüber loyal sind, wird die bedeutendste Neuerung im Gesamtbild der Ereignisse und

Stimmungen nach den Präsidentschaftswahlen sein. Es ist wahrscheinlich, dass sie einen großen Einfluss auf den Verlauf und das Ergebnis der Bürgermeisterwahlen in Moskau haben wird, bis hin zur Entstehung eines weiteren potentiell kritischen Punktes (der Anteil äußerst enttäuschter Bürger wird in Hauptstadt viel größer sein als im Rest des Landes).

Ferner beschreiben wir detaillierter die potentiellen kritischen Punkte, die bis September 2018 auftreten können.

Der erste PKP. Freiwilliger Verzicht W. Putins auf die Nominierung Wahrscheinlichkeit: äußerst gering

Möglicher Zeitpunkt: September oder erste Hälfte Oktobers 2017

W. Putin kann theoretisch ohne Darlegung realer Gründe (lediglich mit Verlautbarung eines formalen Vorwands) auf die Nominierung verzichten und versuchen, erneut das Schema zu realisieren, nach dem in den Jahren 2008−12 D. Medvedev den Präsidentenposten innehatte.

Eine solche Entscheidung, sollte sie tatsächlich fallen, wäre absolut unerwartet für einen großen Teil der Macht und der Eliten. Es besteht kein Zweifel, dass in solchem Fall viele Gruppen

innerhalb der Macht und im inneren Kreis W. Putins den Nachfolger rein formal unterstützen (unabhängig davon, wer es sein wird, der Name spielt an dieser Stelle keine Rolle), in Wirklichkeit aber gegen ihn agieren würden. Dabei werden sowohl Apparat− Intrigen als auch Technologien

der Öffentlichkeitsmanipulation eingesetzt (z.B. der Faktor Nawalnyj). Gleichzeitig werden andere Gruppen mit Sicherheit mit Hinweisen auf negative Konsequenzen (sie bewusst übertreibend)

versuchen, W. Putin zu überzeugen, seine Entscheidung zu überdenken

Nicht ausgeschlossen, dass Versuche unternommen werden, die Lage im Land bewusst zu

destabilisieren oder, was wahrscheinlicher ist, eine oder mehrere Konfliktlinien Russlands in der Welt zu verschärfen. Unter anderem kann die kontrollierte Verschärfung im Osten der Ukraine in einen totalen Konflikt umschlagen oder die westlichen Länder werden als Antwort auf aggressive Handlungen direkte Anschuldigungen gegen die höchsten Amtsträger Russlands, einschließlich

W. Putin, erheben.

Ziel− W. Putin überzeugen, seine Entscheidung zu überdenken und einer Nominierung zuzustimmen.

Bedenkt man, dass weder W. Putin noch die politischen Gruppen an der Macht und in der Umgebung des Präsidenten (seine Administration, die Denkfabriken, wie das «Zentrum für

strategische Entwicklungen» (ЦСР) des A. Kudrin usw.) in der Lage sind, eine solch komplizierte Lage zu lenken, ist der Übergang der Situation in einen unsteuerbaren und unvorhersehbaren Modus bis hin zu Massenprotesten und Abschaffung der Wahlen fast unvermeidlich.

Wir glauben, dass W. Putin ahnt, dass die Entwicklung der Ereignisse genauso aussehen würde,

weswegen wir die Wahrscheinlichkeit seines freiwilligen Verzichts auf die Nominierung als äußerst gering einstufen.

Der zweite PKP. Verzicht W. Putins auf die Nominierung aufgrund einer separaten Abmachung mit den Weltführern

Wahrscheinlichkeit: gering

Möglicher Zeitpunkt: die erste Hälfte Oktober 2017

Unmittelbar nach dem G20−Gipfel in Hamburg im Juni 2017 haben sich parallel zwei Aktionslinien entwickelt: in den USA hat sich der Prozess der Verabschiedung neuer Sanktionen gegen

Russland heftig intensiviert (innerhalb von nur drei Wochen hat die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten beider Kammern des Kongresses dem entsprechenden Gesetz zugestimmt,

welches anschließend vom Präsidenten unterzeichnet wurde), während in Russland plötzlich die öffentliche Aktivität W. Putins mit offensichtlicher Akzentuierung auf Wahlkampfmodus stark zugenommen hat (der «kindliche» direkte Draht (bei dem Kinder und Jugendliche Fragen an den Präsidenten richten konnten), die Marine−Parade, die Versprechungen an die Geschäftswelt, die Reisen durch Föderationssubjekte, die Besuche orthodoxer Heiligtümer etc.).

Es ist offensichtlich, dass überhaupt keine innere Notwendigkeit bestand, 7−8 Monate vor den Wahlen, mitten im Sommer, auf Wahlkampf umzuschalten. Konkrete Aktivitäten W. Putins können zwar positiven Widerhall in der Gesellschaft finden, aber dieser Widerhall wird noch vor Beginn der eigentlichen Wahlkampagne durch nachfolgende Ereignisse (u.a. durch Handlungen des Präsidenten selbst) überdeckt.

Was ist also der Grund für den Übergang der Aktivitäten des Präsidenten Russlands auf Wahlkampfmodus bereits im Juli? Die einzige logische Erklärung ist, dass das ein Signal sein soll, welches aber nicht nach innen, sondern nach außen gerichtet ist. Lässt man die Möglichkeit zu, dass im Vorfeld und während des G20−Gipfels zwischen W. Putin und einer Reihe westlicher Staatsoberhäupter geschlossene Verhandlungen über Bedingungen und Formen eines möglichen Verzichts des Präsidenten Russlands für eine weitere Legislaturperiode geführt wurden, dann

bekommen die Ereignisse nach dem Gipfel eine eindeutige Erklärung.

Die Verhandlungen haben − zumindest bis jetzt − zu nichts geführt oder sind sogar in eine Sackgasse geraten. Als Folge beschleunigt sich in den USA der Prozess der Verabschiedung neuer Sanktionen (in dieser Zeit kommt auch der Skandal mit den Turbinen von Siemens ans Licht), und Putin seinerseits gibt seinen Gegenüber das Signal, dass er fest entschlossen ist, für die Legislaturperiode zu kandidieren und sogar anfängt, sich öffentlich darauf vorzubereiten.

Wenn das wirklich so der Fall ist (und jede andere Erklärung (mögliche Wahlverschiebung, der Wunsch die Stilistik W.Putins ruckartig zu verändern) wäre umständlich und konspirologisch), dann kann man mit ziemlicher Sicherheit prognostizieren, dass die geschlossenen Verhandlungen

nicht völlig erlahmt sind. Sie können sich bis November hinziehen, denn an ihrem positiven

Ausgang sind beide Seiten interessiert. Worin das Interesse der westlichen Länder besteht,

versteht sich von selbst, das Interesse W. Putins basiert darauf, dass er − und das wird kaum noch verheimlicht − außerordentlich müde ist und realisiert, dass es keine Perspektiven auf eine

Änderung der Situation gibt, sollte er noch sechs weitere Jahre den Präsidentenposten bekleiden.

Das Risiko, dass die Situation in Folge einer solchen Vereinbarung außer Kontrolle gerät, ist gering, da W. Putin allen Gruppen innerhalb der Macht Vorteile von der Realisierung der

Vereinbarung des Verzichts auf die Nominierung versprechen wird (Abbau eines bedeutenden Teils der Sanktionen, Beseitigung der Gefahr einer Beschlagnahme des ausländischen Eigentums von Personen und Gruppen usw.). Aber eine solche Vereinbarung, sollte sie getroffen werden, würde im Laufe einiger Monate zu äußerst bedeutenden Veränderungen in Russland führen.

Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Gruppen aus dem engsten

Umfeld W. Putins versuchen würden, den Verhandlungsprozess scheitern zu lassen (auch wenn sie nicht ganz sicher sind, ob dieser stattfindet), und dadurch eine erneute Verschlechterung der Beziehung zwischen Russland und dem Westen provozieren.

Allerdings scheint uns die Wahrscheinlichkeit für einen erfolgreichen Ausgang der Verhandlungen (sollten sie überhaupt stattfinden, was auch nur eine Annahme ist) gering. Im Westen gibt es

keine politische Figur, der W. Putin wirklich vertraut und an institutionelle Garantien glaubt er prinzipiell nicht. Der Westen seinerseits ist jedoch mit einer Wiederholung des Szenarios, wie es sich während der Präsidentschaft Medvedevs abgespielt hat, als in Wirklichkeit W. Putin der absolute Anführer des Landes geblieben war, nicht einverstanden.

Der dritte PKP. Krise als Folge eines allzu harten Kampfes innerhalb der Macht Wahrscheinlichkeit: mittel

Möglicher Zeitpunkt: entweder November-Dezember 2017 oder März-April 2018

Wie schon erwähnt, wird ein überwiegender Teil des Machtsystems unmittelbar nach der

Verkündung, dass W. Putin für die Präsidentschaftswahl kandidieren wird, von der Vorwahl − zu Nachwahlthematik umschalten. Die zentrale Frage wird von da an sein, welche Positionen − sowohl konkrete Posten, als auch Einflusssphären − die bedeutenden Gruppen und Personen haben werden, wobei der Kern dieser Frage der Posten des Regierungsvertreters sein wird. Der Kampf um diesen Posten wird bereits jetzt geführt und man kann erwarten, dass er sich ab Mitte des Herbstes stark verschärfen wird. Dabei wird W. Putin bis April 2018 diesbezüglich keine

endgültige Entscheidung treffen, was einen breiten Zeitkorridor für nicht öffentlich ausgetragene Kämpfe schafft.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt zählen D. Medwedew und die aktuelle Chefin der Füßchen Notenbank E. Nabiullina zu den aussichtsreichsten Kandidaten auf den Posten des

Premierministers. Nicht ausgeschlossen, dass zu der Gruppe der Top−Kandidaten auch der

Bürgermeister von Moskau, S. Sobjanin, zählen wird. Jede dieser Personen ruft starke Ablehnung bei diversen einflussreichen Gruppen in der russischen Regierung hervor. Jede dieser Personen wird bekämpft werden, was das Risiko einer künstlichen Krise in sich birgt.

Gegen D. Medwedew wird die Korruptionsthematik benutzt werden (was übrigens zusätzliche Möglichkeiten für A. Nawalnyj schafft und den potentiellen Umfang der von ihm organisierten Massenproteste erhöht), sowie Thesen von der allgemeinen Ineffizienz der Regierung, ihrer

Unfähigkeit, wirtschaftliche Probleme zu lösen und von dem negativen Einfluss auf das

persönliche Ansehen W. Putins. Fast mit hundertprozentiger Sicherheit wird W. Putin vor den Wahlen nichtöffentlich anbieten, die Regierung im Januar−Februar 2018 zu entlassen.

Im Spiel gegen E. Nabiullina können sogar härtere Maßnahmen ergriffen werden, wie z. B eine künstlich hervorgerufene Banken− undƒoder Währungskrise. Die Unfähigkeit, die Konsequenzen einer solchen Krise adäquat auszurechnen und insbesondere die Unfähigkeit, die Krise, sollte sie tatsächlich stattfinden, in «Handschaltung» zu begrenzen, bergen die potenzielle Gefahr einer Massenpanik in der Bevölkerung, einer abrupten Stimmungsänderung im Verlauf der Wahlkampagne usw.

Sollten sich die Chancen von S. Sobjanin erhöhen, den Posten des Regierungschefs zu

übernehmen, können seine Gegner die instabile Wahlsituation in Moskau ausnutzen, um W.

Putin im Vorfeld der Wahlen zu zeigen, dass der Bürgermeister der Hauptstadt nicht in der Lage ist, Zufriedenheit und Loyalität der Wähler zu gewährleisten. In diesem Fall entstünde wiederum das Risiko einer Transformation der gesteuerten Krise in eine nicht steuerbare.

Wir sehen zwei mögliche Zeitpunkte für die Entwicklung solcher Krisen− entweder im Vorfeld der öffentlichen Nominierung W. Putins (von Ende September bis November 2017) oder unmittelbar vor dem Wahldatum (von Mitte Februar bis Mitte März 2018); nach dem 18−ten März bleibt selbst den vertrautesten Gruppen des Präsidenten keine Möglichkeit, seine Entscheidung zu beeinflussen.

Uns ist klar, dass keine der Gruppen, die einen Kampf gegen einen oder mehrere Kandidaten für den Posten des Premierministers führt undƒoder führen wird, die Absicht hat, eine nicht

steuerbare Krise zu provozieren. Man muss jedoch auch verstehen, dass Fähigkeit dieser

Gruppen, die Situation richtig einzuschätzen und sie mit Augenmaß zu steuern nicht sonderlich groß ist, umso größer ist aber der Wunsch, die gewünschten Ergebnisse zu erreichen. Insgesamt bewerten wir die Wahrscheinlichkeit, dass der beschriebene potentielle kritische Punkt (PKP)

eintritt als mittelgroß.

Der vierte PKP: A. Nawalnyj wird nicht zu den Wahlen zugelassen Wahrscheinlichkeit: mittel

Möglicher Zeitpunkt: entweder Januar oder (wahrscheinlicher) März 2018

A. Nawalnyj ist seit Anfang 2017 der aktivste Politiker in Russland, auch aktiver als W. Putin. Seine erste Aufgabe hat er de facto schon gelöst: bei einem bedeutenden Teil der Bevölkerung die Vorstellung von sich als der einzigen wirklich realen Alternative für den heutigen Präsidenten zu formieren (wichtig zu betonen, dass hier nicht die Rede von der Unterstützung A. Nawalnyjs ist, sondern nur von der beschriebenen Wahrnehmung). Nun hat offensichtlich die Arbeit an der Lösung der zweiten Aufgabe begonnen: bei dem selben Teil der Bevölkerung die Überzeugung davon zu formieren, dass die Zulassung A. Nawalnyjs zu den Wahlen das einzige reale Signal davon wäre, dass Veränderungen im Land, die Bekämpfung der Korruption und die Säuberung

der Macht in der Tat möglich sind.

Falls A. Nawalnyj und die ihn unterstützenden Gruppen (auch innerhalb der Macht) es schaffen, auch diese Aufgabe bis Herbst 2017 zu lösen, wird bei einer Nichtzulassung des Politikers zu den Wahlen die Wahrscheinlichkeit für eine Krise (sogar für eine soziale Explosion) erheblich anwachsen.

Dabei muss man verstehen, dass A. Nawalnyj selbst nicht die Möglichkeit hat, eine massenhaft Protestbewegung zu organisieren − dafür reichen seine Bekanntheit und seine Autorität in der Gesellschaft eindeutig nicht aus. Er hat jedoch die Möglichkeit (und will sie offenbar umsetzen),

zu der negativen Einstellung gegenüber der Macht und ihren Methoden beizutragen. Gleichzeitig wird er bei seinen Anhängern die Vorstellung von den Wahlen als von der letzten Möglichkeit des Landes auf irgendwelche Veränderungen erzeugen.

In diesem Sinne würde eine Nichtzulassung zu den Wahlen (die Wahrscheinlichkeit sehen wir bei fast 100 Prozent) A. Nawalnyj sogar in die Hände spielen: diese Absage würde für einen ziemlich großen Teil der Bevölkerung die Bestätigung der These bedeuten, dass Veränderungen im Land unmöglich sind, ebenso unmöglich wie die Wesensänderung des gegenwärtigen Regimes.

Unmittelbar nach der Verweigerung der Zulassung, die, ausgehend vom formalen Beginn der Wahlkampagne Mitte Dezember, während der Neujahresruhe erfolgen würde, sind umfangreiche Proteste, die in eine Krise ausarten können, wenig wahrscheinlich, wobei einzelne Proteste,

insbesondere in Moskau, möglich sind. Eine angespanntere Situation kann sich unmittelbar vor den Wahlen ergeben, wenn die übliche Kampagne zugunsten eines Kandidaten und die absolute Alternativlosigkeit bei den anstehenden Wahlen die Rolle zusätzlicher, ziemlich starker

Reizfaktoren spielen werden.

Sollten Proteste im März 2018 regelmäßig stattfinden und umfangreich ausfallen, könnten W.

Putin und eine Reihe von Gruppen in seiner Umgebung verängstigt zu harten Maßnahmen greifen, bis hin zur VerschiebungƒAufhebung der Wahlen, die ihrerseits eine qualitative

Transformation des gegenwärtigen Regimes und der allgemeinen Lage im Land unvermeidbar machen würden.

Es ist sehr schwierig sechs Monate im Voraus die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios verlässlich vorherzusagen, darum bewerten wir sie vorerst als mittelgroß und werden im

November 2017 eine Neubewertung vornehmen.

Der fünfte PKP: A. Nawalnyj wird zu den Wahlen zugelassen Wahrscheinlichkeit: gering

Möglicher Zeitpunkt: März 2018

Wir haben bereits bemerkt, dass wir ein Wahlszenario, bei dem es reale Konkurrenz gibt für äußerst unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen halten. Im Umfeld W. Putins gibt es eine Sichtweise, dass ein Verzicht auf Konkurrenz ein unlösbares Problem mit der Wahlbeteiligung schaffen würde. Die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen in Russland liegt

erfahrungsgemäß bei 5−8% über der Wahlbeteiligung der ihnen vorausgehenden

Parlamentswahlen (offiziellen Angaben zufolge lag die Wahlbeteiligung in den Jahren 2011−12 bei 65,4% und entsprechend 60,3%, in den Jahren 2007−08 − 69,8% und 63,7%, in den Jahren 2003−

04 − 64,3% und 55,7%). Bei den letzten Parlamentswahlen lag die offizielle Wahlbeteiligung bei 47,8% (inoffizielle Berechnungen ergaben eine Wahlbeteiligung nicht höher als 36−37%).

Das bedeutet, dass wenn man sogar von den offiziellen Angaben aus dem Jahre 2016 ausgeht, die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen 2018 55% übersteigt, gering ist und orientiert man sich an alternativen, von allzu merkwürdigen

Ergebnissen in einzelnen Regionen gereinigten Berechnungen, landet man gar bei einer

potentiellen Wahlbeteiligung von 45%. Dabei finden wir es notwendig, in die laufende Prognose der Wahlbeteiligung eine zusätzliche Änderung einzuführen, da bei den früheren Zyklen das

Intervall zwischen den Parlaments− und den Präsidentschaftswahlen einige Monate betrug, während das jetzt anderthalb Jahre sind und das unter der Bedingung des abnehmenden

Interesses für konkurrenzlose Wahlen. Auf diese Weise kann die reale Wahlbeteiligung beim konkurrenzlosen Szenario tatsächlich bei 45% oder sogar darunter liegen, was für W. Putin absolut inakzeptabel wäre.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die auf die Jugend gerichteten Wahlkampfaktivitäten die Wahlbeteiligung wesentlich beeinflussen werden, da dieses Auditorium (obwohl die

Umfragewerte W. Putins dort recht hoch ist) unabhängig von seinen sonstigen politischen Neigungen für gewöhnlich die Wahlen selbst ignoriert. Darum ist ein Szenario, bei dem A. Nawalnyj zu den Wahlen zugelassen wird, nicht völlig ausgeschlossen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass unmittelbar um den Zeitpunkt der Wahlen herum eine scharfe Krise eintritt, würde bei diesem Szenario anwachsen. Wir glauben, dass konkurrierende Wahlen, die in Russland erstmals seit dem Jahr 2000 stattfinden würden, mit großer Wahrscheinlichkeit unvorhersehbar bezüglich ihrer Wahlkampagne und bezüglich des Resultats wären. Es wäre zu

erwarten, dass ein bedeutender Teil der nichtwählenden Mehrheit seine Stimme abgeben würde, was nicht Millionen, sondern Dutzende Millionen Wähler bedeutet, über deren politische Neigungen und Motive nichts wirklich bekannt ist. Es entsteht eine in ihrer Wahrscheinlichkeit unberechenbare Gefahr, dass A. Nawalnyj im besten Fall mit Ausnahme W. Putins alle

Konkurrenten hinter sich lässt und im schlimmsten mit W. Putin in die zweite Runde der Präsidentenwahl einzieht.

Dabei hat die Macht nicht nur die Fähigkeit verloren, die realen Stimmungen der Wähler und ihre Dynamik zu begreifen, gegenwärtig ist sie prinzipiell nicht in der Lage, eine konkurrierende Wahlkampagne zu führen. Aus diesem Grund kann die Macht, konfrontiert mit einem durchaus wahrscheinlichen Anstieg des Ratings von A. Nawalnyj, wie das schon bei den Moskauer

Bürgermeisterwahlen im Jahre 2013 der Fall war (damals stieg sein Rating innerhalb zwei Monaten Wahlkampf von etwa 5% auf 27%) und der Gefahr der zweiten Runde außerordentliche extraordinäre Maßnahmen ergreifen bis hin zur Neutralisierung des Politikers Nawalnyj um jeden Preis− AufhebungƒVerschiebung der Wahlen, äußerst hartes Vorgehen gegen die Proteste.

Wir glauben, dass W. Putin persönlich eine solche Möglichkeit ernsthaft befürchtet (die Rede ist gerade von irrationaler Angst) und schätzen darum die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung

der Ereignisse in diesem Sinne als gering ein. Die Aktualisierung dieser Einschätzung wird von uns zweimal durchgeführt− einmal Mitte Herbst und einmal Anfang Dezember, unmittelbar vor dem offiziellen Beginn der Kampagne.

Der sechste PKP. Die Bürgermeisterwahlen in Moskau Wahrscheinlichkeit: überdurchschnittlich

Möglicher Zeitpunkt: September 2018

Den Eintritt dieses kritischen Punktes halten für eine unmittelbare Folge des wahrscheinlichsten Szenarios, nach dem die Präsidentschaftswahl ablaufen wird und der Reaktion eines

bedeutenden Teils der Gesellschaft, insbesondere in Moskau, auf dieses Szenario (Beschreibung s.o.). Wir erwarten, dass nach den konkurrenzlosen Präsidentschaftswahlen mit den üblichen Kandidaten und der üblichen Art der Kampagnenführung, als auch nach den fast unvermeidbaren Manipulationen der Grad an Gereiztheit und Anspannung in der Hauptstadt, welcher nach der

Bekanntgabe der Wahlergebnisse deutlich zunehmen wird, die Indikatoren aus den Jahren 2011− 12 deutlich übertreffen kann.

Der sozial und politisch engagierte Teil der Moskauer Bevölkerung wird eine Revanche für die erneute Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen wünschen und die Bürgermeisterwahlen werden der passende Zeitpunkt dafür sein.

Ein weiterer Faktor kann die fortgesetzte Bekämpfung S. Sobjanins durch einflussreiche Personen und Gruppen aus W. Putins Umkreis sein: falls der Bürgermeister sich entscheidet, erneut zu kandidieren, kann diese Bekämpfung wieder intensiviert werden. Sollte im Rahmen der Kampagne vor den Bürgermeisterwahlen ein erfolgreicher Versuch unternommen werden, den Fokus von den Problemen der Stadt auf die politischen Probleme zu verschieben, werden die

Proteststimmungen mit großer Wahrscheinlichkeit erheblich zunehmen.

Da die Unterstützung der Regierung in der Hauptstadt nicht sonderlich groß ist und die oppositionelle Wählerschaft in hohem Maße mobilisiert sein wird, kann der Fall eintreten, dass

die Macht den Sieg ihres Kandidaten (wer das auch sein möge) einfach nicht gewährleisten kann, ohne zu offensichtlichen Verstößen und Gewaltmitteln zu greifen. Ein solches Szenario würde die

Gefahr einer Krise in sich bergen.

Gegenwärtig ist es äußerst schwierig, alle Umstände zu prognostizieren, die die

Bürgermeisterwahlen in Moskau im Jahre 2018 bestimmen werden. Ein Teil dieser Umstände

hängt seinerseits vom Ausgang der Prozesse ab, die nach dem Stand vom September 2017 noch nicht abgeschlossen sind oder noch nicht einmal angefangen haben. Deshalb bewerten wir die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des beschriebenen kritischen Punktes noch als

«überdurchschnittlich». Die erste detaillierte Prognose diesbezüglich wird jedoch im März 2018 erstellt.

https://pr-square.de/