Die Russische Assoziation der Politik-Konsultanten (RAPK), das Allrussische Meinungsforschungszentrum (VTsIOM) und die Expertenvereinigung „Klub der Regionen“ sind in einem Report über den Zustand des Parteiensystems des Landes zu dem Fazit gelangt, dass die oppositionellen Kräfte nicht mit der „Corona-Krise“ fertig geworden sind. Sie haben es nicht vermocht, ihr Narrativ hinsichtlich der Quarantänemaßnahmen zu entwickeln, und die Epidemie nicht für die Festigung der Anhänger-Basis im Verlauf der Freiwilligen-Aktionen ausgenutzt. Wie dies beispielsweise die Partei „Einiges Russland“ (ER) zumindest zu tun versuchte. Die Experten konstatierten auch ein Fiasko der Informationsarbeit durch die politischen Strukturen. Die Oppositionellen sind der Auffassung, dass ihr Vergleich mit der regierenden Partei nicht korrekt sei.
In dem Report „Die Corona-Krise: Nichts wird die Parteien erschüttern – sie arbeiten einfach nicht“ sind die Aktivitäten von „Einiges Russland“, der KPRF, der LDPR, von „Gerechtes Russland“ (GR) und „Jabloko“ analysiert worden. Sie sind als die bedeutendsten politischen Strukturen des Landes ausgewählt worden.
„Der Reset, die Rückkehr zum Nullpunkt erfolgte auf rasante Weise. Die Pandemie wurde für ausnahmslos alle politischen Parteien zu einer ernsthaften Herausforderung“, wird in dem Report festgestellt. „Das gesamte System ist verschlissen. Es muss vollkommen umgestaltet werden.“ Die Experten sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sich praktisch nicht eine Partei außer ER im Verlauf der zwei Monate an die neue Realität anpassen konnte. Die übrigen Parteien demonstrieren eine „erstaunliche Passivität“, befinden sich in einer „Lethargie“, sind nicht in der Lage, „schnell auf die Herausforderungen der Zeit zu reagieren“, und „können keine aktive treibende Kraft im politischen System sein“.
Eine der Beanstandungen seitens der Experten ist das Fehlen einer Arbeit der Parteien an einem Zukunftsbild. Eine weitere besteht darin, dass die Parteien aus der Coronavirus-Tagesordnung herausgefallen seien, da sie „den Wählern nichts zu sagen haben“. Angemerkt wurde gleichfalls, dass die Spitzenkräfte dieser Parteien – sowohl auf regionaler als auch föderaler Ebene – im Grunde genommen „ganz und gar verloren gegangen sind“. Ein ernster Vorwurf ist auch der, dass die Parteien die gegenwärtige soziale Krise nicht für eine Verstärkung der Unterstützung zu nutzen vermochten, da „den Menschen irgendwelche Worte von den Parteien nicht besonders interessant sind, wenn sie sich nicht mit den Stimmungen der Masse, mit der emotionalen Matrix der Wähler decken“. Nach Auffassung der Experten waren die Parteien ebenfalls nicht zu einem Übergang von den traditionellen Formaten der politischen Arbeit zum Online-Regime bereit.
Dabei ist ER als die einzige Partei genannt worden, deren Aktivität in allen Regionen bemerkt wurde. Obwohl, an ihre Adresse wurde auch Kritik laut: Die Arbeit wurde entsprechend einer „gesamtföderalen methodischen Anleitung“ organisiert und umfasste ein Standardspektrum an Aktionen – Freiwilligen-Bewegung, Verteilung von Lebensmittelpaketen, Medikamenten und Schutzmasken an Rentner und Minderbemittelte sowie die Sammlung von Geld, um den Medizinern zu helfen. Ein Teil der Experten hat übrigens objektiv darauf hingewiesen, dass in einer Reihe von Regionen die Behörden allen, außer den Vertretern von „Einiges Russland“ diese Tätigkeit verboten hatten. Noch eine der interessanten Feststellungen ist die: Die KPRF, LDPR und GR haben in den Regionen vollkommen die Initiative verloren, die Mitglieder dieser Parteien führen (Chakassien, die Region Chabarowsk und das Verwaltungsgebiet Omsk). Die geringe Aktivität erklärten die Experten mit der durch die Krise ausgelösten Verwirrung und Ratlosigkeit angesichts der für sie neuen Rolle von lokalen Regierungsparteien.
Das entscheidende Risiko der aktuellen Situation ist der Übergang der Parteienkrise zu einer Krise des gesamten politischen Systems. Zumindest, weil „das Prinzip des Funktionierens der Parteien an sich, die nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben arbeiten müssen, gebrochen ist“. Diese Situation ist als ein ernsthaftes Problem für das derzeitige Regime markiert worden. Zumal es „keinen Konsens um den Mechanismus gibt, der solch eine Krisensituation stabilisieren kann“.
Die Analyse löste Einwände seitens der Oppositionsparteien aus. Das „Jabloko“-Büromitglied, Boris Wischnewskij, erklärte: „Die Parteien leisten das, was sie in der jetzigen Situation können und agieren im Rahmen des Möglichen ohne administrative Ressourcen und dem Staatshaushalt“. Die Vertreter von „Jabloko“ geben wirklich viele öffentliche Erklärungen zu den einen oder anderen Ergebnissen ab. Sie befassen sich aber auch, merkte B. Wischnewskij an, „mit Freiwilligen-Arbeit in den Regionen, überall, wo sie können“. Er erinnerte ebenfalls daran, dass die Partei bereits ein Aktionsprogramm zur Überwindung der Krise im Zusammenhang mit der Epidemie unterbreitet habe und sich aktiv auf die Wahlen dieses Jahres vorbereite.
Der Leiter der Rechtsabteilung der KPRF, Wadim Solowjow, stimmte dem zu, dass es „einen Teil Wahrheit in den Schlussfolgerungen gibt. Das Coronavirus hat Unbehagen in die Arbeit der Parteien gebracht“. Doch er erinnerte daran, dass aufgrund des Verbots von Massenaktionen alle traditionellen Veranstaltungen der Kommunisten geplatzt seien. „Wir arbeiten jedoch mit den Anliegen der Wähler – hinsichtlich ihrer Probleme. Wir arbeiten mit den eigenen regionalen Abteilungen, bereiten uns auf die Wahlen vor und beteiligen uns aktiv an der Freiwilligen-Bewegung zur Hilfe der Bürger in der Epidemie“, erklärte W. Solowjow. Er betonte dabei, dass sich gerade der KPRF-Chef Gennadij Sjuganow an die Online-Arbeit angepasst habe, der bereits vier Treffen mit Parteimitgliedern und Anhängern online durchgeführt hat. Der Sekretär des ZK der KPRF, Sergej Obuchow, merkte an, dass „aus irgendeinem Grunde dieses Gerede begann, als eine reale Zunahme des Ratings der KPRF einsetzte“. Er erinnerte daran, dass laut Angaben der Stiftung „Öffentliche Meinung“ das Rating der KPRF von 9 % (am 8. März) bis auf 13 % (am 17. Mai) gestiegen sei, während es bei ER ab März bis Mai ein Rückgang von 37 % auf 31 % gebe.
S. Obuchow ist der Auffassung, dass „nicht nur die Systemparteien in einer Krise sind, sondern auch das Wahlsystem. Dessen Instabilität und die regelmäßige Änderung der „Spielregeln“ zuliebe von ER ist auch ein Anzeichen für die Krise. Und man könnte auch noch die Krise der parlamentarischen Institutionen – der Staatsduma und des Föderationsrates –, über deren dekorativen Charakter schon lange und viel geschrieben wurde, schildern“. Er erinnerte daran, dass es auch noch das „fallende Rating des einzigen funktionierenden Instituts – des Präsidentenamtes“ gebe. Der Präsident der Russischen Assoziation der Politik-Konsultanten, Alexej Kurtow, erläuterte gegenüber der „NG“, dass „die klassischste Definition für die Arbeit von Parteien die Akkumulierung elektoraler Unterstützung im politischen System“ sei. In unserem System aber, in dem es wirklich keine reale Konkurrenz gebe, verwandele sich der Kampf in ein Überleben, obwohl „selbst hier die Parteien ihre Tagesordnung promoten könnten, wie die Kommunisten unter dem Zaren die Zeitung „Iskra“ („Der Funke“ – Anmerk. der Red.) herausbrachten und mit ihrer Hilfe den Kreis der Anhänger erweiterten“.
Aus der Sicht des bekannten russischen Spezialisten auf dem PR-Gebiet, Alexej Kurtow, sieht die Situation derzeit so aus: „Unser politisches System befindet sich gerade aufgrund des Fehlens von politischer Konkurrenz in einer Krise. Ohne die wird es schwer werden, dieses wiederzubeleben. Doch selbst unter diesen Bedingungen kann man Möglichkeiten finden, um sich an konkrete Zielgruppen zu wenden, zum Beispiel an die Frauenbewegung für Gleichberechtigung, an die Jugend mit ihren Problemen usw. Die Parteien aber, auch selbst wenn sie sich damit befassen, tun dies unzureichend spürbar und aktiv“.