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Protestanten spürten den Hauch der Sowjetunion


Religionsfreiheit in Russland – das Zentrum „Sova“ zog Bilanz für das Jahr 2019

Olga Sibirjewa – Expertin des Informations- und analytischen Zentrums „Sova“

Das Informations- und analytische Zentrum „Sova“ befasst sich seit vielen Jahren mit dem Monitoring der Situation auf dem Gebiet der Religionsfreiheit in Russland. Am 4. März wurde ein neuer Jahresbericht zu diesem Thema vorgelegt. Die Experten sind darin zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen:

Im Jahr 2019 dauerte der Trend zu einer Verschärfung der Politik gegenüber den Protestanten und neuen religiösen Bewegungen (NRB), der bereits früher in den Berichten von „Sova“ konstatiert wurde, nicht nur an, sondern hat sich auch verstärkt. Das Vorgehen der Rechtsschützer in Bezug auf die „Zeugen Jehovas“ (die Organisation ist in der Russischen Föderation als eine extremistische anerkannt und deswegen am 20.4.2017 verboten worden -Anmerkung der Redaktion) ist noch umfangreicher und härter geworden. Die strafrechtliche Verfolgung aufgrund der Fortsetzung der Arbeit der extremistischen Organisation, de facto aber aufgrund der Fortsetzung des kollektiven Bekenntnisses zu ihrer Religion hat bereits über 300 Menschen betroffen. 18 Gläubige sind verurteilt worden, wobei gegen die Hälfte von ihnen als Strafe ein realer Freiheitsentzug verhängt wurde und drei sogar jeweils sechs Jahre Lagerhaft bekamen. Erstmals seit dem Moment der Entscheidung über das Verbot der Organisationen der „Zeugen Jehovas“ wurden Gläubige im Verlauf der strafrechtlichen Untersuchungen Folterungen ausgesetzt. Fortgesetzt wurden gleichfalls die zahlreichen groben Durchsuchungen und Festnahmen, und Eigentum von Gemeinden wurde weiterhin beschlagnahmt. 

Die Ereignisse zu Beginn des Jahres 2020 lassen vermuten, dass es in der nächsten Zeit zu keinen Lockerungen der Staatspolitik hinsichtlich der „Zeugen Jehovas“ kommen wird. Es sind bereits neue Urteile gegen Gläubige gefällt worden, darunter mit realen Haftstrafen. Und die Anklage in zwei laufenden Verfahren hat für die Angeklagten einen Freiheitsentzug von mehr als sechs Jahren gefordert.

Fortgesetzt wird die Anwendung der Antiextremismus-Gesetzgebung auch gegenüber anderen religiösen Gruppen und Strömungen, in erster Linie – gegen moslemische. 

Die Dimensionen der Verfolgung von Gläubigen unter Anwendung der „Antimissionars-“ Gesetzesänderungen aus dem Jarowaja-Oserow-Paket (Irina Jarowaja, Dumaabgeordnete der Partei „Einiges Russland“, Viktor Oserow, Mitglied des Föderationsrates – d. Red.) sind etwas geringer geworden. Die Hauptzielscheibe der „Antimissionars-“Gesetzgebung bleiben die protestantischen Kirchen und NRB. Jedoch hat man begonnen, diese Gesetzesänderungen häufiger als vor einem Jahr gegen Gläubige „traditioneller“ religiöser Organisationen anzuwenden. 

Die Protestanten und NRB wurden nicht seltener, sondern vielleicht gar häufiger als vor einem Jahr mit Problemen bei der Nutzung ihrer Gebäude konfrontiert. Und dies bis hin zum Verbot deren Nutzung und zu der Forderung nach deren Abriss. 

In den Massenmedien veröffentlichte man weiter diffamierende Beiträge über religiöse Minderheiten, die in der Gesellschaft eine negative Haltung zu den Gläubigen der protestantischen Kirchen und NRB ausprägen. Die Zahl der Beiträge solcher Art hat wohl im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren nicht zugenommen, doch dass diese Veröffentlichungen fast nie eine kritische Reaktion seitens der Behörden und gesellschaftlichen Organisationen auslösen, bestätigt lediglich die Überzeugung eines erheblichen Anteils der Bevölkerung, dass die Wahrnehmung ihrer Mitbürger als gefährliche „Sektierer“ normal ist.

All diese Probleme haben die Spitzenvertreter der Protestanten genötigt, die Tatsache des systematischen Drucks seitens des Staates öffentlich anzuerkennen. Der Vorsitzende der Russischen Vereinigung der Christen evangelischen Glaubens (ROSChVE), Bischof Sergej Rjachowskij, sagte unter anderem bei einer Sitzung im Präsidialrat für Menschenrechtsfragen im Oktober 2019: „Ich spüre derzeit den Hauch der Sowjetunion… Das ist so ein Gefühl, als ob der Staat andeutet: Sie gehören nicht hierher“. 

Die Errichtung neuer Gotteshäuser, vor allem orthodoxer Kirchen, bleibt immer noch eine Quelle von Spannungen in der Gesellschaft. Diese Spannungen haben aber insgesamt im Vergleich zu 2018 nicht zugenommen. Die meisten Konflikte ereigneten sich wie auch vor einem Jahr in den Regionen. Und zu deren Ursache wurden wie auch früher die schlechte Auswahl des Grundstücks für die Bauarbeiten, die Verstöße bei der Durchführung öffentlicher Anhörungen oder der Verzicht auf deren Durchführung. Der von uns vor einem Jahr konstatierte Trend nach der Suche friedlicher Formen zur Klärung solcher Konflikte und zur Berücksichtigung der Position der Einheimischen und Anwohner hielt an. Zu einem Ergebnis der Proteste wird immer häufiger die Verlegung der Bauarbeiten vom jeweiligen umstrittenen Grundstück. Und die Situation in Jekaterinburg, wo sich der Konflikt um die Errichtung der Sankt-Katharinen-Kirche im Mai bis zu einer gewaltsamen Konfrontation zugespitzt hatte, die selbst Präsident Wladimir Putin zu reagieren nötigte, gibt die Hoffnung, dass dieser Trend in der nächsten Zukunft bewahrt wird: Eine Wiederholung der Situation von Jekaterinburg in anderen Regionen wünschen offenkundig weder die Behörden noch die anderen Beteiligten der Konflikte.  

Die Verfolgung aufgrund einer „Beleidigung religiöser Gefühle“ – sowohl die strafrechtliche als auch die administrative – ist eine nicht sehr aktive geblieben. Gering blieben die Aktivitäten auch der gesellschaftlichen Verteidiger dieser Gefühle. Deren Proteste hielten sich in einem friedlichen Rahmen, obgleich vereinzelte Fakten von Drohungen gegenüber „Beleidigern“ registriert wurden. In den Fällen, in denen man den Verteidigern der Gefühle von Gläubigen Zugeständnisse machte, waren diese Zugeständnisse in der Regel keine bedingungslosen. Die Konflikte wurden oft durch einen Kompromiss beigelegt. 

Somit löst die Situation insgesamt, obgleich einige Tendenzen des Jahres 2019 Hoffnungen wecken, Besorgnis aus, besonders hinsichtlich dessen, was die Lage der religiösen Minderheiten angeht.  

http://www.ng.ru/ng_religii/2020-03-03/11_482_owl.html