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Putin hat faktisch nicht nur die Tatsache der Beschattung Nawalnys eingestanden, sondern auch ihre Rechtmäßigkeit begründet


Der Fernsehmarathon von Wladimir Putin ist seine Erfindung, sein Genre, seine PR-Aktion, seine Reputationsmanagement, seine Möglichkeit, frische Luft zu schnappen, und sein Kontakt direkter Kontakt mit dem Volk, unter Umgehung von Beamten, der Elite und vielfältigen Interpretatoren. 

Er beharrt auf diesem, seinem Format, wobei er ein wenig die technologischen Formen für die Verbindung visuell veränderte. Ihm gefällt es, Niveau und Tiefgründigkeit des Begreifens der aufzuwerfenden Probleme zu demonstrieren. Es ist durchaus möglich, dass dies dem Publikum oder einem Teil des Publikums gefällt. Freilich ergibt sich immer häufiger die Frage: Konkret welchem Teil des Publikums gefällt dies? 

Am Donnerstag war zu spüren, dass Putin weitaus mehr sagen und ein breiteres Themenspektrum, vor allem hinsichtlich der internationalen Beziehungen erfassen wollte. Wobei zu spüren war, dass er nicht ausschweifend sprechen wollte, sondern punktuell, methodologisch ausgewogen – wie eine Anleitung zum Begreifen des Status des einen oder anderen Problems. 

Er empfahl den Demokraten der USA, keine Vergeltung gegenüber Russland aufgrund der Niederlage von Hillary Clinton vor vier Jahren zu üben, sondern Beziehungen von Positionen eines gegenseitigen Vorteils und der Interessen zu gestalten. Er hat unserer Opposition angeraten, von einer einheitlichen patriotischen Position aus aufzutreten, wobei sie sich lediglich hinsichtlich der Instrumente unterscheiden. Und der nichtparlamentarischen Opposition – in dieser Frage sich ein Beispiel an der parlamentarischen Opposition zu nehmen. 

Er gab eine Auslegung der neuen „Untersuchung zu Nawalny“, den er als „Patienten einer Berliner Klinik“ bezeichnete, indem er sie als eine Form einer Legalisierung von Materialien amerikanischer Geheimdienste charakterisierte. Weiter war die Logik des Präsidenten maximal simpel: Der Patient nutze Unterstützung amerikanischer Geheimdienste — umso gerechtfertigter sehe das Interesse der russischen Geheimdienste für ihn aus. Und die Telefone würden unsere Geheimdienste immer dann einschalten, wenn sie dies möchten. So verteidigte er den Tollpatsch, der ein privates Mobiltelefon während einer Spezialoperation eingeschaltet hatte, vor einem Karriereknick. Der Aspekt der spezifischen Spezialisierung der Mitarbeiter der Geheimdienste, die Nawalny als „Chemiker“ und „Mediziner“ bezeichnet, wurde in den Kommentaren nicht tangiert. 

Faktisch die Tatsache einer Beschattung Nawalnys eingestehend und deren Notwendigkeit begründend, hat Putin auch den gesamten Fakten-Teil der Nachforschungen anerkannt. Es scheint, dass dies die größte Sensation der Pressekonferenz ist. Putin kommentierte die Nachforschungen hinsichtlich seiner Verwandten, seiner wahren und scheinbaren. Er bezeichnete dies freilich als einen Trick des politischen Kampfs (in dem „man jeglichen Unfug schreibt“), der in der Welt gut bekannt sei. 

Den innerrussischen Politikern-Opponenten empfahl Putin, sich in ihrer Tätigkeit nicht von persönlichen Ambitionen, sondern von den Interessen der Werktätigen leiten zu lassen. Natürlich, solch ein Wunsch als eine Entgegenstellung von Motiven der politischen Tätigkeit erscheint als ein wenig realistischer. Ein Politiker, dies ist stets vor allem eine Ambition. Daher lassen sich „von den Interessen der Werktätigen“ in erster Linie Menschen solcher Berufe wie Ärzte, Feuerwehrleute und Lehrer leiten. Die meisten von ihnen haben aber keine politischen Ambitionen. Zu einer anderen wichtigen Nachricht der Pressekonferenz wurde hohe Bewertung für die Arbeit der Mischustin-Regierung, ein Signal für alle: Es wird keine baldigen Veränderungen in der Zusammensetzung des Kabinetts geben. 

Putin gab eine Auslegung der Veränderungen in der Verfassung, nachdem er unsere Armee als eine der stärksten in der Welt bezeichnete, die in der Lage sei, die territoriale Integrität zu verteidigen. 

Die von Putin im Verlauf von zwanzig Jahren geschaffene Machtvertikale könnte sich ein Beispiel am Präsidenten nehmen. Man stelle sich nur einmal vor, wenn jeder Gouverneur eine analoge „Call-in“-Veranstaltung bzw. öffentliche Fragestunde per TV mit den Einwohnern seines Verwaltungsgebietes im September durchführen würde… Wie viele Probleme wären bereits gelöst. Wie wäre die Tagesordnung solch eines Treffens des Präsidenten entlastet worden, wobei die Möglichkeit gegeben würden wäre, sich auf die strategischen Entwicklungsfragen der russischen Gesellschaft zu konzentrieren. Wenn dieser offenkundige Schritt nach wie vor nicht getan worden ist, so ist irgendwer wahrscheinlich der Auffassung, dass die Figur des Präsidenten, des Führers der Nation nur durch markante Beispiele einer manuellen Steuerung verstärkt werde. 

Anders gesagt: Das Modell der manuellen Steuerung besiegt bisher das Modell eines institutionellen Herangehens an die Lösung der Probleme Russlands. Und da dem so ist, werden wir weiter auf Ansprachen und Auftritte von Wladimir Putin warten. Und es ist durchaus möglich, wie selbst der Präsident einräumte, auch bis zum Jahr 2036.