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Putin proklamierte eine „souveräne Demokratie 2.0“


Russlands Präsident Wladimir Putin trat bei der jüngsten Sitzung des Diskussionsklubs „Waldai“ auf und hielt vom Wesen her eine programmatische Rede über die Zukunft der Zivilgesellschaft im Land. Seiner Meinung nach bestehe die Stärke eines Staates nicht in einer totalen Kontrolle und Härte der Rechtsschutzorgane, nicht im Verdrängen der privaten Initiative, sondern im Vertrauen der Menschen. Daher wird auch die Zivilgesellschaft, meint Putin, „die Schlüsselrolle bei der Entwicklung Russlands in der Zukunft spielen“. Der Staat müsse sich jedoch zurechtfinden, wessen Stimme er Gehör schenken sollte, wo wirklich ein „wahres gesellschaftliches Bedürfnis“ bestehe und wo ein „heimliches Einflüstern“ der Fall sei. 

Nach Aussagen Putins sei es „unmöglich, eine wahre Demokratie und Zivilgesellschaft zu importieren“. „Eingeführte“ Modelle würden dem Land nicht einmal einen Anschein von Souveränität belassen. Das russische Staatsoberhaupt ist davon überzeugt, dass selbst durchaus wohlwollend eingestellte ausländische Stiftungen die Interessen nicht des Volkes von Russland, sondern ihrer ausländischen Kuratoren artikulieren würden. Eine starke, freie und selbständige Zivilgesellschaft sei nach Putins Meinung eine „national orientierte und souveräne“. Sie könne kein „Produkt einer transnationalen Vernunft“ sein.  

Die Worte des Präsidenten sind vom Wesen her die Proklamierung einer „souveränen Demokratie 2.0“. Von der „souveränen Demokratie“ der Nulljahre unterscheidet sich dieses aktualisierte Projekt wohl durch eine noch größere Härte der Formulierungen. Allerdings sieht der Übergang von den Etiketten der „ausländischen Agenten“ zur Fixierung der Überlegenheit der nationalen Gesetzgebung über der internationalen in der Verfassung und nun bereits zur Deklarierung eines Misstrauens gegenüber jeglichen ausländischen Organisationen für den langjährigen Diskurs der gegenwärtigen Herrschenden durchaus logisch und natürlich aus. 

Die Besonderheit der „souveränen Demokratie 2.0“ besteht allerdings auch noch darin, dass sich der internationale Kontext verändert hat. Bereits an der Wende von den Nulljahren zum zweiten Jahrzehnt des gegenwärtigen Jahrhunderts dominierten in Europa und den USA die Ideen des Globalismus und Liberalismus. Eine national-isolationistische Politik erschien als eine marginale. Jegliches Projekt einer „souveränen Demokratie“ sah in diesem Kontext wie der Versuch einer Revanche der alten Ordnung aus, der in der Perspektive zum Scheitern verurteilt ist.  

Der Kontext hat sich jedoch verändert. In der EU haben die rechten Parteien an Stärke gewonnen, die die Einwanderung und das europäische Projekt an sich kritisieren. Dies betrifft insbesondere Deutschland und Frankreich. Die Idee des Multikulturalismus macht eine Krise durch. Für ihre Gegner ist es leichter, Argumente zu finden, als für deren Befürworter. Großbritannien hat für den Brexit gestimmt. In den europäischen Ländern haben sich mit neuer Brisanz zentrifugale Tendenzen abgezeichnet. Der katalonische Nationalismus beispielsweise hat den Status eines kontinentalen Cases erlangt, wenn nicht gar internationale Relevanz. In den USA, einer Hochburg der liberalen Werte, befindet sich die letzten vier Jahre ein Präsident an der Macht, für den der Wirtschaftsnationalismus und eine Konzentration auf sich eine durchaus akzeptable Idee sind.

Die Gedanken der Isolation, Souveränität und von einem starken Staat hat auch die Pandemie untermauert. Es ist überhaupt kein Zufall, dass Putin, als er sich an die Teilnehmer der „Waldai“-Diskussionen wandte, als erstes darüber zu sprechen begann, dass in einer kritischen Situation nur ein handlungsfähiger Staat effektiv handeln könne, dass seine Rolle in der heutigen Welt wichtig sei und die Zeit, in der er durch „andere Formen einer sozialen Organisation“ ersetzt werden könne, noch nicht angebrochen sei.

In den Nulljahren oder zu Beginn des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts schien die Deklaration einer demokratischen Souveränität eine Herausforderung für die ganze Welt und vor allem für den Westen zu sein. Heute aber schert Wladimir Putin mit der „souveränen Demokratie 2.0“ ganz und gar nicht aus den westlichen Trends aus. Die russische Elite und die Herrschenden der USA oder Großbritanniens können verschiedene, widersprüchliche Wirtschaftsinteressen haben. Doch die Rhetorik der russischen Offiziellen und selbst die proklamierten Werte unterscheiden sich immer weniger von der Rhetorik und den Werten der führenden Politiker Europas und der Vereinigten Staaten. Die Welt überraschst du schon nicht mit einer „souveränen Demokratie“ und machst ihr damit keine Angst. Die Bürger Russlands werden eher sich selbst darüber Gedanken machen müssen, was für eine Zivilgesellschaft man ihnen vorbereitet und wie sie gerade in einem System ohne entwickelte demokratische Institute gedeihen kann.