Präsident Wladimir Putin führte am 4. November, dem Tag der Volkseinheit, ein traditionelles Treffen mit Russlands Religionsführern, jedoch in einem nichttraditionellen Format durch. Und die Sache ist nicht nur die, dass die Begegnung online erfolgte. An das „kontaktfreie“ Format haben sich alle in dem halben Jahr der Pandemie bereits gewöhnt. Doch auch der Inhalt der Rede, die er an die geistlichen Spitzenvertreter richtete, überraschte ebenfalls durch eine gewisse Neuheit.
Im Jahr, in dem Russland Änderungen zur Verfassung annahm, versucht Putin, auf neue Weise jenes Gleichgewicht zu sondieren, das erlaubt, gleichzeitig sowohl einen konservativen Kurs zu verfolgen als auch sich an eine Glaubenstoleranz in den besten, bisher nicht gesehenen Formen eines aufgeklärten Absolutismus zu halten.
Putin, der das Festhalten an eine Gleichberechtigung der Völker und Religionen unterstrich, formulierte dabei den Satz: „Die Traditionen einer guten, achtenden Beziehung zwischen den Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen sind uns durch unsere Vorfahren vererbt worden“. Er ist wichtig, da er sich mit der Zeile in der neuen Fassung des Grundgesetzes deckt, wo vom „Glauben an Gott, der uns durch die Vorfahren vererbt wurde“ die Rede ist. Die Erwähnung von Gott in der Verfassung hatte viele Streits ausgelöst. Geäußert wurden auch die Befürchtungen, dass Russland eine klerikale Schieflage drohe. Viele fragten: Liegt hier nicht eine Anspielung auf eine dominierende religiöse Tradition vor, da von den Vorfahren die Rede ist, die die russische Staatlichkeit geschaffen haben. Und dies sind zweifellos russische Menschen, die sich zum bis vor einiger Zeit staatlichen orthodoxen Christentum bekannten.
Putin hat in der Tat dieses Mal nicht ein Wort weder über den weltlichen Staat noch über das Verfassungsprinzip der Trennung der Religion vom Staat und der Politik fallengelassen. Im Gegenteil, er wiederholte den vielfach früher geäußerten Gedanken, wonach die religiösen Führer ihren Verantwortungsbereich hätten. Sie würden die zwischenethnische und interreligiöse Eintracht gewährleisten. Und dies ist zweifellos eine politische Funktion.
Die Übereinstimmung der Präsidentenworte mit der Zeile in der Verfassung hat jedoch auch ihre Nuancen. „Von den Vorfahren vererbt worden“ ist bei Putin nicht der Glaube an Gott, sondern die achtungsvollen Beziehungen zwischen den Völkern.
Dieses Mal erklang die Rede des Präsidenten vor dem Hintergrund tragischer Ereignisse in Europa. Offensichtlich deshalb vermied er Erwähnungen vom weltlichen Charakter, von der Weltlichkeit, da gerade dieses Prinzip dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erlaubt, auf einer breiten Auffassung der Redefreiheit zu beharren. Putin hat sich ja demonstrativ von den europäischen Vorstellungen von der Redefreiheit distanziert, wobei er sie faktisch als eine Provokation bezeichnete. Allerdings hält er für solch eine Provokation auch die Aktionen der Terroristen, die die Karikaturen über den Propheten Mohammed nutzten, um ihre Gewalt zu rechtfertigen. Außerdem gab Putin zu verstehen, was die Vertreter der „traditionellen“ Religiösität von den Radikalen und Extremisten trennt.
Und jetzt aber über die traditionellen Religionen. „Das Wichtigste für uns ist der absolute Wert eines jeden Menschenlebens“, sagte Putin. „Und diese Entscheidung ist in einem gewaltigen Maße durch jene Werte bestimmt worden, die allen traditionellen Religionen Russlands zugrunde liegen. Dies sind das orthodoxe Christentum, die anderen christlichen Konfessionen, der Islam, der Buddhismus und der Judaismus.“
Die Aufmerksamkeit sei auf die Liste der traditionellen Religionen gelenkt, wie sie im Verständnis von Putin erklingt. Sie unterscheidet sich von der Präambel zum Gesetz über die Glaubensfreiheit, die ein gewisses unbestimmtes „Christentum“ erwähnt. Diese Unschärfe der Begriffe diente ständig als ein Anlass für Debatten. Viele sahen in diesem Wort einen Euphemismus des im Land dominierenden orthodoxen Christentums. Nun aber präzisierte Putin, dass er nicht nur das orthodoxe Christentum im Blick hat, sondern auch andere Konfessionen. Das heißt, dass sich ein Anlass ergeben hat, zu den traditionellen Religionen sowohl das armenische Christentum als auch den Katholizismus und die zahlreichen protestantischen Denominationen zu zählen.
Ein paar Worte über den Satz „Das Wichtigste für uns ist der absolute Wert eines jeden Menschenlebens“. Ich weiß nicht: Ob das der Präsident wollte oder nicht (wahrscheinlich das zweite), doch da ergibt sich eine unterschwellige Polemik mit Patriarch Kirill, mit dessen berühmten Entlarvungen der „Häresie der Menschenvergötterung“. Da erinnert man sich, dass das Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche mehrfach die Versuche kritisierte, die aus seiner Sicht traditionellen Werte des Theozentrismus durch jenes Weltmodell zu ersetzen, in dem sich der Mensch im Zentrum der Welt, im Zentrum des Sorgens und der Mühen der Seelenhirten befindet. Und Putin bekräftigt: Ja, gerade der Mensch steht im Mittelpunkt.
Aber die Hauptüberraschung hatte der Präsident zum Ende der Rede vorbereitet. „Und nicht zufällig liegen neben mir auf dem Tisch, hier, links von mir, vier heilige Texte – die Bibel, der Koran, die Thora und der Gandschur (Kanjur)“, sagte er. „In jeder von ihnen sind unvergängliche Wahrheiten festgehalten worden. Und die entscheidende und bestimmenden unter ihnen ist die Liebe zum Menschen, zum Nächsten, wobei unabhängig von der Rasse, der Nationalität und den Traditionen. Und wenn in den heiligen Schriften vom Nächsten die Rede ist, vom Bruder, so muss man dies so verstehen, dass es nicht nur um die Glaubensgenossen geht, sondern eben um den Menschen überhaupt. Denn in allen Weltreligionen sind alle Menschen vor Gott gleich. Und heute möchte ich mich gern an Worte aus diesen Büchern wenden, Ich erlaube mir, einige zu zitieren. Die Bibel: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Johannes 15:13). Oder: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat?“ (1. Johannes 4:20-21). Und hier der Koran: „(Mohammed!) Sag: Ich verlange von euch keinen Lohn dafür (daß ich euch die Offenbarung verkünde), abgesehen von der Freundschaft (wie sie) unter Verwandten (üblich ist). Und wenn einer eine gute Tat begeht, erweisen wir ihm dafür noch mehr Gutes (als ihm von Rechts wegen zusteht). Allah ist bereit zu vergeben und weiß (den Menschen für ihre guten Taten) zu danken“ (Sure 42:23). Die Thora: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19, 17-18). Und schließlich die Worte Buddhas: „Niemals in der Welt hört Hass durch Hass auf. Hass hört durch Liebe auf. Das ist ein unveränderliches Gesetz. Selbst wenn der Mensch Gutes getan hat. Mag er es wieder und wieder tun. Mag er darauf seine Absichten aufbauen. Das Anhäufen von Güte ist eine Freude“.
Aufmerksamkeit löst die Tendenz in den Ansprachen Putins aus, die Mission praktisch eines geistigen Führers der Nation zu übernehmen. Aber außerhalb einer konkreten Religion. Da kommt einem seine Osteransprache dieses Jahres in den Sinn, die die Ansprache von Patriarch Kirill in den Schatten stellte. Der Präsident tritt nicht nur mit einem Appell während eines religiösen Festes auf, sondern vertieft auch sein Engagement für religiöse Traditionen, wobei er sich sorgsam an eine interkonfessionelle Vorgehensweise hält.
In einigen religiösen Organisationen Russlands hat man nicht ohne Genugtuung die neue Manier des Präsidenten, die heiligen Schriften zu zitieren, zur Kenntnis genommen.