Der Lockdown habe dem Ansehen der Russisch-orthodoxen Kirche (ROK) als einem vom Handeln der weltlichen Behörden unabhängigen Institut wesentlichen Schaden zugefügt. Zu solch einem Fazit gelangten Forscher der Agentur für strategische Kommunikation (ASK), die nach der Analyse des Einflusses der Pandemie und Quarantänemaßnahmen auf die ROK einen Report zu den Ergebnissen vorbereitet haben.
Die Autoren sind der Auffassung, dass gerade COVID-19 all jene Probleme aufgedeckt habe, über die man im Moskauer Patriarchat lange Zeit hinüberwegzusehen versucht habe. Und deshalb „wird die ROK mit dem Herauskommen aus der Pandemie in die Ära einer ernsthaften Kirchenkrise kommen, die sowohl an der äußeren, bemerkbareren Kontur als auch im Innern verlaufen wird“. Als äußere Kontur wird die Gestaltung der Wechselbeziehungen zwischen der religiösen Organisation und dem Staat bezeichnet, als innere – die Diskrepanz zwischen der „Machtpartei“ und den Kirchen-„Dissidenten“.
Im ersten Fall wird als wichtigster und hauptsächlichster Fehler der orthodoxen Hierarchen das ursprüngliche Ignorieren der Forderungen der weltlichen Behörden durch den Klerus, die notwendigen Maßnahmen zur Prophylaxe einer Ansteckung einzuhalten, genannt. „Am 26. März 2020 hatte die Arbeitsgruppe beim Patriarchen die Empfehlungen der Zivilbehörden Moskaus und des Moskauer Verwaltungsgebietes für die Bürger, „auf den Besuch religiöser Objekte zu verzichten“, kommentiert. In dem Kommentar war gesagt worden, dass „die pastorale Pflicht des Klerus in vollem Umfang hinsichtlich all jener gläubigen Menschen wahrgenommen wird, die es für sich in der gegenwärtigen schweren Zeit für notwendig halten, für ein Gebet für ihre Nächsten und für unser Volk in die Kirche zu kommen“. Am 3. April 2020 wandte sich Patriarch Kirill mit einer Botschaft an die hochwürdigen Oberhirten, Priester, die Mönche und Nonnen sowie Laien der Diözesen auf dem Territorium der Russischen Föderation. In der Botschaft hatte der Patriarch aufgerufen, „weiter sehr eifrig Gottesdienste zu zelebrieren“. Wie die weiteren Ereignisse zeigten, hatte sich der Patriarch wie auch das Oberhaupt der weltlichen Macht von einer zentralisierten Klärung des Zusammenwirkens mit den staatlichen Behörden bezüglich der Pandemie-Fragen selbst distanziert, wobei er den Erzbischöfen der Metropolen und Diözesen überlassen hatte, selbst die Probleme mit den Behörden der Subjekte der Russischen Föderation zu lösen“, heißt es in der Untersuchung.
Im Endergebnis „war hinsichtlich der Frage der Restriktionen in der Zeit des Osterfestes eine Parität erzielt worden“: In 43 Subjekten der Russischen Föderation waren die Kirchen für die Gemeindemitglieder offen gewesen. Und in 42 – geschlossen. Und „durch administrativen Druck, die Androhungen von Strafen, Verordnungen der Hygieneärzte sowie durch Appelle zur Bewahrung der gefährdeten Leben der Mitbürger ist es bei einer nicht überzeugenden Position der Diözesen-Bischöfe gelungen, das Sakrament und das Feiern des Osterfestes in ein Online-Format zu treiben“. Diese Tatsache habe die Kluft zwischen den Kirchen-„Besuchern“ und Gemeindemitgliedern noch mehr vergrößert. Während erstere durch das Format der Internet-Predigten vollkommen befriedigt wurden, fingen die anderen jedoch an, offen die weltlichen Behörden zu erörtern, die den Besuch der Gotteshäuser verboten und nicht erlaubt hatten, das Fest entsprechend allen geltenden Kanons zu feiern.
Den Beamten hat diese Kritik seitens der Gläubigen nicht gefallen, und der Abkühlungsprozess der Beziehungen zwischen der ROK und den Behörden, der sich bereits 2014 abgezeichnet hatte, setzte aufs Neue ein. „Das Fehlen einer aktiven sozialen und öffentlichen Position der Kirche hinsichtlich vieler für ihre Gemeinden dringender Fragen hat ihre Stellung in der russischen Gesellschaft zu einer äußerst angreifbaren gemacht. Heute demonstriert die Kirche lediglich bei Eigentumsstreitigkeiten oder bei einem aktiven Widerstand der Bevölkerung gegen die Errichtung von Kultobjekten eine aktive soziale Position im öffentlichen Raum. All dies kann die antiklerikalen Stimmungen in der Gesellschaft nur verstärken, die nun nicht nur von Agnostikern, Atheisten, Gottlosen und Anhängern totalitärer Sekten, sondern auch durch einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus der Kategorie der „Passanten“ der ROK unterstützt werden“, resümieren die Autoren der Untersuchung. „Kirchennahe Quellen und Nachrichten-Aggregatoren initiieren mit einer beneidenswerten Häufigkeit Gerüchte über eine baldige Ablösung des Patriarchen, der in seiner Arbeit in diesem Amt angeblich nicht vollkommen den Bedürfnissen der höchsten politischen Landesführung und selbst von Präsident Wladimir Putin gerecht wird“, fügen sie hinzu.
Was die innerkirchliche Spaltung angeht, so würden hier nach Meinung der Autoren mehrere Faktoren ihre Rolle spielen. Das sei vor allem die interne Politik des Moskauer Patriarchats, die mit der Annahme der neuen Satzung der ROK im Jahr 2009 nicht nur die Vollmachten der Gemeindeversammlungen null und nichtig gemacht habe, sondern auch den Prozess der „Absolutierung der bischöflichen Macht in der Kirche“ abgeschlossen hätte. „Dies führte zu einer Zunahme der inneren Widersprüche zwischen dem Klerus und der Gemeinde. Bei einem Anstieg des Anteils der christlich-orthodoxen erwachsenen Bevölkerung von 31 Prozent 1991 bis auf 72 Prozent im Jahr 2008, hatte der Anteil derjenigen, die zumindest einmal im Monat kirchliche Gottesdienste besuchten, anfangs von 2 Prozent (1991) bis auf 9 Prozent (1998) zugenommen, doch danach ging er bis auf 7 Prozent (2008) zurück. All dies spiegelt die tiefgründigen Gesetzmäßigkeiten in der russischen Gesellschaft wider, in der nach dem ideologischen Scheitern des Kommunismus und des mit ihm verbundenen staatlichen Atheismus entgegengesetzte, kompensierende Prozesse einer Aufnahme der Bevölkerung in den Schoß der Kirche einsetzten, die sich freilich entsprechend einem vereinfachten Szenario vollzogen, das man als „Glaube und Zugehörigkeit ohne ein Verhalten“ beschreiben kann“, wird in dem Report der ASK betont.
Zu noch einer Herausforderung, bereits während der derzeitigen Pandemie, wurden die Covid-Dissidenten aus den Reihen der Geistlichen, die behaupteten, dass die von der Regierung verabschiedeten Quarantäne-Maßnahmen nicht mehr als eine Verschwörung mit dem Ziel einer Einschüchterung der Gläubigen, der Schaffung einer Weltregierung und des Versuchs, die Kirche und den Glauben an den Rand des gesellschaftlichen Lebens zu drängen, seien. Da die Derartiges Behauptenden ihre Anhänger gefunden und die Kirchenhierarchen es ihrer Meinung nach nicht verstanden und möglicherweise gar nicht gewollt hätten, ihre Gläubigen nicht nur vor dem Coronavirus, sondern auch vor den „ungerechten“ Handlungen der weltlichen Behörden zu schützen, habe dies alles dazu geführt, dass innerhalb des Moskauer Patriarchats eine „oppositionelle“ Partei in Bezug auf die von Patriarch Kirill angeführte „herrschende“ entstanden sei. Die Politologen der ASK gelangen zu der Schlussfolgerung: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass vor diesem Hintergrund eine neue „Katakomben“-Kirche als eine Alternative zu dem mit den Herrschenden affiliierten Klerus der Moskauer Patriarchie entsteht“.
Nach Meinung der Forscher könne sich auch die ROK an sich in absehbarer Zeit „zu einer gewissen Quasireligion transformieren, die mit dem Christentum und der Orthodoxie nur eine äußere Ähnlichkeit besitzt, tatsächlich aber Militarismus, Patriotismus und die unbestreitbare Autorität der obersten weltlichen Machthaber predigt“. „Als ein Beispiel für solch eine Erscheinung dient die Errichtung der Hauptkirche der Streitkräfte der Russischen Föderation als eine Materialisierung eines neuen, rein russischen Neopaganismus, eines religiösen Kultes, in dem anstelle der traditionellen christlichen Werte und Darstellungen die russische Geschichte und die politischen Spitzenvertreter des Landes, solche wie Stalin, Putin und Schoigu, vergöttert werden.“