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Russlands Emigranten der neuen Welle sind mit ihren Angelegenheiten beschäftigt


Die ins Ausland gegangenen russischen Nichteinverstanden bilden derzeit verschiedene Interessensgruppen. Und während beispielsweise die Nawalny-Anhänger für den Westen Projekte für Sanktionslisten erstellen, haben die Anhänger des in Russland zu einem ausländischen Agenten erklärten Michail Chodorkowskij ein Projekt für die Lösung der alltäglichen Bedürfnisse der neuen Emigrationswelle unter dem Namen „Arche“ organisiert. Und das Antikriegskomitee (dem auch Chodorkowskij angehört), Dmitrij Gudkow und noch ein frischgebackener ausländischer Agent – Garri Kasparow – sowie andere unterbreiten die Idee der Unterzeichnung einer Lossagung vom „Putin-Staat“ durch die Flüchtlinge, um nicht von der Kampagne im Rahmen der „Cancel Russia“-Strategie erfasst zu werden.

Das Projekt „Arche“ wurde Anfang März zwecks Hilfe für die Emigranten aus der Taufe gehoben, die das Land nach Beginn der russischen sogenannten militärischen Sonderoperation in der Ukraine verlassen haben. Als Organisator trat dabei das bekannte Antikriegskomitee auf.

Auf Internetseiten von „Arche“ (https://antiwarcommittee.info/the-ark/) kann man erfahren, wohin man am besten aus Russland ausreisen kann, wo es einfacher ist, im neuen Leben Fuß zu fassen. Vorgenommen werden auch Konsultation hinsichtlich des Erhalts von Wohndokumenten, für das Eröffnen von Bankkonten und für den Erhalt von Visa.

Das Projekt arbeitet mit Spenden in Form von Krypto-Währungen. Man kann sich aber auch auf der Internetseite als ein Freiwilliger anmelden, der Bürgern Russlands Wohnraum bereitstellt. Oder umgekehrt einen Antrag auf Gewährung von Wohnraum verfassen kann. Angeboten werden gleichfalls freie Stellen für einen Job und für Praktika. Es gibt Links zu Chats für gegenseitige Hilfe entsprechend Berufsgruppen. Geleitet wird dieses Projekt von der Chodorkowskij-Anhängerin Anastasia Burakowa. Dabei betont sie, dass „Arche“ für eine Unterstützung von Bürgern Russlands geschaffen wurde. Sein Ziel sei es aber nicht, hinsichlich irgendwelcher Kriterien von Europa Vorteile zu erreichen. „Jetzt, da viele Menschen mit einer pazifistischen Haltung Russland verlassen haben, muss die Hauptaufgabe ihre Vereinigung für eine Fortsetzung des Kampfes sein. Gemeinsam ist dies effektiver zu bewerkstelligen. Die ursprüngliche Quelle dessen, dass Russlands Bürger zu Aussätzigen in der zivilisierten Welt geworden sind, sind die Kompromisse mit dem Regime“, erklärt Burakowa. An „Arche“ haben sich bereits hunderte Menschen zwecks Wohnraums und etwa 10.000 zwecks Konsultationen gewandt. Zwecks finanzieller Hilfe aber seien angeblich fast 100.000 Emigranten gekommen.

Die Nawalny-Anhänger im Ausland sehen wie eine besonders eigenständige Gruppe aus. Während andere Vertreter der außerparlamentarischen Opposition, der Systemgegner ihr tagtägliches Leben organisieren, erstellen sie Listen von Beamten der Russischen Föderation, die für die militärische Sonderoperation verantwortlich seien und daher von westlichen Sanktionen erfasst werden müssten. Und das Verzeichnis umfasst bereits mehr als 6.000 Positionen. Ungefähr mit dem gleichen ist auch noch eine andere Gruppe von Politemigranten beschäftigt, die sich um Kasparow und des von ihm unterstützten Projekts „Forum für ein freies Russland“ gebildet hat. Ihr Organisator Iwan Tjutrin hat bereits eine Liste mit 1500 Namen an den Westen übergeben.

In der letzten Zeit haben die Emigranten jedoch auch begriffen, dass man für den Westen nicht nur Listen seiner Feinde in Russland erstellen muss, sondern auch der Freunde, die aus ihm geflohen sind. Das heißt, man müsse die Russen in „schlechte“ und in „gute“ unterteilen. Letzteren wird angetragen, dem Pazifismus über eine öffentliche Absage an den gegenwärtigen russischen Staat die Treue zu schwören. Diese Idee ist Dmitrij Gudkow in den Sinn gekommen, der sie so erläutert: Aufgrund der Sonderoperation hat sich die Haltung gegenüber Russlands Bürgern in der Welt zum Schlechteren verändert. Im Ergebnis dessen sind sogar Pazifisten mit dem Problem von Sanktionen konfrontiert worden. „Dies ist ungerecht und falsch. Dies sind aber die Realitäten des Lebens. Leider können wir nicht die Situation im Land verändern, wir können nicht die Herrschenden ablösen. Zumindest gegenwärtig“, erklärt Gudkow und betont, dass dabei es für „zig Millionen Bürger Russlands“ wichtig sei zu fixieren, dass „sie dagegen sind. Dies ist eine Frage der Selbstidentifikation. Und sie ist eine entscheidende“.

Hier liegt jedoch bisher ein Minimum an Politik vor, da es um ein System geht, über das die Loyalität gegenüber dem Westen vor allem für eine Lösung eben jener Alltagsprobleme überprüft wird. Es geht um die Einrichtung eines Bankkontos, um den Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung und eines Visums. „Notwendig ist eine Systemlösung für alle. Es ist nicht möglich, in einem manuellen Regime allen zu helfen. Dafür wird auch eine Blockchain-Plattform für eine Selbstorganisation jener Bürger Russlands vorgeschlagen, die dagegen sind (gegen die Ukraine-Operation). Um sich vom Regime zu distanzieren, um sich zu vereinen und um eine breite politische Vertretung zu schaffen, ein Subjekt des Völkerrechts, in dessen Namen man mit den westlichen Politikern, Beamten und dem Business sprechen und die Probleme der Diskriminierung lösen kann. Wir sind Millionen. Dies ist ein ganzes Land, mag es auch nur ein Netzwerk sein. Es muss aber seine Stimme haben“, erklärte Gudkow.

Derweil arbeitet man im Unterhaus des russischen Parlaments, in der Staatsduma, auch gegen solche Aktivisten wie Dmitrij Gudkow oder Iwan Tjutrin. Schon in naher Zukunft wird ein Gesetz endgültig verabschiedet, das Haftstrafen gegen die Bürger Russlands vorsieht, die sich für Sanktionen der sogenannten unfreundlichen Staaten gegen Russland und Vertreter des russischen Staates vehement und wirkungsvoll engagieren. Da kann man sich nun wirklich nicht mehr des Gedankens erwehren, dass die sogenannten Volksvertreter mit der Ideologie einer belagerten Festung leben und dementsprechend alles plattmachen wollen, was nur geringsten Widerspruch anmeldet. Schließlich könne dies die Grundfesten des Staates untergraben.