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Russlands Filmindustrie hängt weiter am Tropf des Staates


Die Kino-Stiftung hat die Ergebnisse der neuen Ausschreibung unter den führenden Unternehmen der russischen Filmproduktion bekanntgegeben. Eine staatliche Finanzierung werden elf Streifen erhalten, die in den nächsten Jahren in die Kinos kommen sollen. Die Liste der Gewinner vermittelt eine Vorstellung darüber, welche Helden der Staat heute braucht, denn die Stiftung finanziert im Unterschied zum Kulturministerium mit seinen Pitchings* von Autoren-, Debüt-, Dokumentar- und Kinderfilmen sogenannte Filme für das Massenpublikum.

Nach dem Studium der neuen Abschlussliste kann man mit Bedauern feststellen, dass die Mitglieder der entsprechenden Auswahljury buchstäblich über ein Minenfeld gelaufen sind und ausschließlich sichere Projekte ausgewählt haben. Das Go erhielten noch ein „Lakai“ (bzw. „Knecht“, Komödie mit dem serbischen Schauspieler Miloš Biković in der Hauptrolle, die 2019 in die Kinos Russlands gekommen war – Anmerkung der Redaktion), noch ein „Letzter Recke“ , noch ein Aufguss des Streifens „Das Eis“, postsowjetische Versionen von „Buratino“ und den „Bremer Stadtmusikanten“ (wobei angemerkt sei, dass bereits der Film „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ gedreht wird), die Geschichte des Überlebenden der Leningrader Blockade und Olympiade-Teilnehmers im Rudern Igor Tjukalow, eine Heldentat von Polar-Seeleuten sowie der Kampf anderer Seeleute gegen das Ungeheuer Kraken und ein politischer Thriller über den geopolitischen Sieg der UdSSR auf Kuba. Aus dem Rahmen fällt da wohl nur das Biopic über die Pop-Gruppe „Hände hoch“, deren Haupt-Hit mit den Zeilen „und küsse mich überall, ich bin schon 18“ sich nicht ganz in den heutigen Kurs in Richtung Moral einfügt.

Außer einer ideologischen Aufgabe steht auch eine finanzielle: Hollywood in den Schatten zu stellen (was bisher technologisch nicht realisierbar ist) und die Branche zu bewahren, d. h. auf jegliche Art und Weise Gewinne zu erzielen und den Zuschauer anzuziehen. Im Endergebnis setzen sowohl die Mitglieder der Auswahljury als auch die Produzenten auf ein bewährtes Pferdchen – auf das, was durch die Zeit und den Rubel bestätigt worden ist.

Für den heutigen Menschen, für die heutige Gesellschaft mit ihren Problemen und Wünschen gibt es keinen Platz auf den russischen Kinoleinwänden, sagen uns die Produzenten und Mitglieder der Auswahljury. Sowohl die einen als auch die anderen kann man verstehen. Das „Heute“ hat sich als zu kompliziert und als zu gefährlich für das Kasse machende Kino erwiesen. Ein Schritt nach links, weg von der „patriotischen Linie“ oder zumindest ein etwas größerer Umfang an Ansichten zu wichtigen Ereignissen ist unzulässig. Aber unter den Streifen, die der Integration der Krim in den russischen Staatsverband, dem georgisch-südossetischen Konflikt oder den Ereignissen im Donbass gewidmet waren, hat es nicht einen einzigen gegeben, der die investierten Gelder wesentlich eingespielt hat. Anders gesagt: Sie wurden zu einem finanziellen Flopp und zu einer Fehlinvestition des Staates. Waren die Filme mit wenig Talent gedreht worden oder haben die Kinogänger in ihrer Mehrheit die Auffassung vertreten, dass nicht alles eindeutig sei? …

Letztlich bleibt als Fazit: Märchen sind die Grundlage der russischen Identität, in denen das Bild des russischen Helden-Recken ausgeprägt wird, aber auch ein Zuwenden zu den ästhetischen und ideologischen Grundlagen der Sowjetzeit in unterschiedlicher Form, wobei es erfundene oder reale Helden gibt. In verschiedenen Epochen ist der Held ein unterschiedlicher: Er glaubt an Gott oder setzt auf den Verstand, macht Geld oder gibt die Prinzipien im Namen der Gesellschaft auf, verfügt über einen großen Intelligenzgrad oder riesige Stärke. Er strebt nach Freiheit oder sein Ziel ist es, den 5-Jahres-Plan mehr als nur zu erfüllen… Wie sieht aber der Held unserer Zeit aus? Er ist kein echter, er ist eine Kreuzung aus einer Märchengestalt (kein Dummkopf, aber verzweifelter) mit einem Menschen, der eine Heldentat, eine große Tat vollbringt und die menschlichen Möglichkeiten überbietet.

Als Kontrast kann man sich an einen Film von vor mehr als zehn Jahren erinnern, indem ein Banker, der bis zum 30. Lebensjahr immer noch keine Familien gegründet hat, das Leben außerhalb des Büros in Nachtklubs verbringt, Drogen konsumiert und zügellos mit Schimpfworten um sich wirft, ein positiver Held sein konnte (gemeint ist der Film „Seelenlos“, der 2012 seine Premiere erlebte und mit Unterstützung des Kulturministeriums und der Kino-Stiftung gedreht worden war. Von jener Zeit an ist unser Kino, sich am nachdrücklichen Bedürfnis des Staates orientierend, zu der Position gekommen, dass eine derartige Person ausschließlich unmoralisch sei und einer kollektiven Umerziehung (im Stile des Streifens „Der Knecht“) unterzogen werden müsse. Symbolisch ist, dass in der neuen Version die Person von Miloš Biković Katja, der Tochter einer Beamten, deren Gedanken und Taten weit von einer Vollkommenheit entfernt sind, helfen wird, besser zu werden. Die Filmhandlung ist nicht weniger von der Realität als die Filmschlacht gegen die erfundene Figur Kraken, die wahre russische Seeleute natürlich bezwingen werden, entfernt. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatten echte Russen versucht, gegen Leviathan zu kämpfen, und – oh weh – verloren (der entsprechende Film von Andrej Swjaginzew war mit Geldern des Kulturministeriums und der Kino-Stiftung gedreht worden und kam 2014 in die Kinos). Möglicherweise befindet sich daher der russische Kinogänger heute und morgen in der Gefangenschaft eines Märchens.

 

* Pitching — eine kurze mündliche Propagierung der Idee zu einem Film vor Repräsentanten eines Studios bzw. Produzenten der Film- und Fernsehindustrie, die von der Präsentation des Filmkonzepts soweit überzeugt werden sollen, dass sie bereit sind, in das geplante Projekt finanziell zu investieren.