Dem Entwurf des Gesetzes über die allgemeinen Prinzipien für die Organisierung der öffentlichen Staatsmacht in den Subjekten der Russischen Föderation steht nach der ersten Lesung am 9. November solch eine Nachbearbeitung bevor, die den Regionen bestimmte Antworten auf ihre zahlreichen Fragen geben wird. Es sind wohl kaum irgendwelche konzeptuellen Veränderungen zu erwarten, aber es werden sich eventuell doch einige rätselhafte Passagen aufklären. Beispielsweise der Artikel 60, in dem von den Besonderheiten der öffentlichen Staatsmacht die Rede ist, unter anderem auf dem Territorium der regionalen Hauptstädte. Die direkte Lesart dieser Norm lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass dies die Basis für die künftige Möglichkeit des föderalen Zentrums sein wird, sie unter seine Kontrolle zu nehmen – sowohl unter die Verwaltungs- als auch finanzielle und politische. Wenn die Absicht wirklich solch eine ist, so wird der Staatsaufbau der Russischen Föderation nur im Wortlaut der Verfassung ein föderativer bleiben.
Selbst die Bezeichnung dieses Artikels der Gesetzesvorlage von Senator Andrej Klischas und des Staatsduma-Abgeordneten Pawel Krascheninnikow (beider von der Kremlpartei „Einiges Russland“ – Anmerkung der Redaktion) ist äußerst mehrdeutig: „Besonderheiten der Verwirklichung der öffentlichen Staatsgewalt auf föderalen Territorien, auf Territorien von Verwaltungszentren (Hauptstädten) der Subjekte der Russischen Föderation und auf anderen Territorien“. Und während mit letzteren alles klar ist – dies sind jegliche Art von Geschlossenen administrativ-territorialen Einheiten, Zonen mit einer vorauseilenden Entwicklung und Innovationszentren, aber die arktischen Territorien, auf denen gerade eine föderale Verwaltung und Leitung objektiv möglich und gar effektiv sind, fügen sich die regionalen Hauptstädte nicht allzu sehr in diese Reihe ein.
Und wenn man noch jene Tatsache berücksichtigt, dass zusammen mit ihnen nach einem Komma die föderalen Territorien folgen, die direkt aus dem Kreml geleitet werden – beispielsweise das Zentrum „Sirius“ am Schwarzen Meer -, so verwandeln sich die Verdachtsmomente in eine Gewissheit. Und die untermauert nur die Konstruktion des eigentlichen Gesetzentwurfs. „Durch ein föderales Gesetz können Besonderheiten für die Realisierung der öffentlichen Staatsgewalt und das Zusammenwirken der öffentlichen Machtorgane auf den entsprechend dem föderalen Gesetz geschaffenen föderalen Territorien und auf den Territorien der Verwaltungszentren (Hauptstädten) der Subjekte der Russischen Föderation festgelegt werden“, lautet Teil 1 des Artikels 60. Sein zweiter Teil verweist aber darauf, dass durch dieses bisher nichtexistierende Gesetz „Besonderheiten für die Wahrnehmung der Vollmachten der Organe der Staatsmacht des Subjekts der Russischen Föderation auf den Territorien der Verwaltungszentren (Hauptstädte) der Subjekte der Russischen Föderation festgelegt werden können“, genauso wie auch auf den föderalen Territorien.
Das heißt: Dies ist ein offensichtlicher Verweis darauf, dass dem föderalen Zentrum nicht erlaubt wird, Einfluss auf die Hauptstädte der Regionen auszuüben, und letzteren erlaubt man gerade, in ihren eigenen Verwaltungszentren irgendwelche Machtvollmachten zu besitzen. Wenn dem wirklich so ist, so liegt ein realer Plan zur Unitarisierung des vorerst noch föderativen Staatsaufbaus vor, der natürlich für eine gewisse Zeit in der Verfassung bleiben, aber in der Realität bereits nicht wirken wird. Schließlich hat die zentrale Gewalt jetzt selbst hinsichtlich der Städte föderaler Bedeutung – Moskau, Sankt Petersburg und Sewastopol – keinerlei besondere Vollmachten. Dieser Status gereicht eher diesen besonderen Subjekten der Russischen Föderation an sich zum Nutzen. Wie die „NG“ annimmt, wird in der Gesetzesvorlage von Klischas und Krascheninnikow eine gewisse Basis für die Zukunft gelegt. Möglicherweise für den Nachfolger des derzeitigen Präsidenten, der keine bedingungslose Autorität in den staatlichen Angelegenheiten wie sein Vorgänger (Dmitrij Medwedjew – Anmerkung der Redaktion) hat. Die „NG“ bat Experten, zum Thema des Artikels 60 zu phantasieren.
Das Mitglied des Politkomitees der Partei „Jabloko“ Emilia Slabunowa erläuterte, dass man nicht auf eine unglücklich verfasste Gesetzesformulierung hoffen dürfe. Sie sei bewusst so formuliert worden. „Wahrscheinlich geht es um eine Kontrolle der Hauptstädte der Regionen seitens der Präsidialadministration, um sie vollends in die einheitliche Machtvertikale einzubauen“, meint sie. Nach Meinung von Slabunowa werde dies unter anderem auch für die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2024 getan, zu denen man sich bereits im Jahr 2020 über die Annahme von Verfassungsänderungen und das Testen neuer Wahltechnologien vorzubereiten begonnen habe. „Da sich alle Proteststimmungen vorrangig in den Hauptstädten der Regionen akkumulieren, möchte der Kreml sie unter eine besondere Kontrolle nehmen.
Die Gouverneure aber sind einfach nicht imstande, mit eigenen Kräften mit den Problemen fertig zu werden. Die Landkarte der Regionen verwandelt sich schrittweise in eine Landkarte von Brennpunkten. Eben dieses Problem wird man auch lösen“, erklärte Emilia Slabunowa gegenüber der „NG“. Neben der politischen Komponente sieht sie auch eine finanzielle: „Für das föderale Zentrum ist es einfacher, die Verteilung und die Ausgabe der Ressourcen von ganz oben aus zu kontrollieren, wenn man alle Aufträge seinen Strukturen gibt“.
Alexej Kurtow, Präsident der Russischen Assoziation politischer Berater, sieht so auf den Artikel 60: „In dem Gesetz wird der Wunsch des Präsidenten realisiert, eine Vertikale der öffentlichen Staatsmacht zu gestalten. Daher erfolgen eine planmäßige Reduzierung der Vollmachten der gesamten örtlichen Staatsgewalt und eine Erweiterung der Vollmachten der föderalen. Die Vollmachten der Gouverneure wird man aber offensichtlich nicht beschneiden. Man wird sie simpel nach Ressorts aufteilen. Das heißt: Den Gouverneuren werden weniger Möglichkeiten für ein Manövrieren bleiben. Aber Hebel für das Treffen von Entscheidungen wird es geben“. Der Experte ist der Auffassung, dass dies sowohl eine finanzielle als auch politische Entscheidung sei. Nach Meinung Kurtows könnten die Veränderungen mit den im Jahr 2024 anstehenden Wahlen zusammenhängen. Vom Prinzip her sei dies aber eine universellere Entscheidung. „Dies sind eine klassische Verringerung der Risiken für das politische System und eine Vervollkommnung der Vertikale. Auch den Turm von Babylon kann man stets weiterbauen und vervollkommnen. Die konkrete Zeit hat keine Bedeutung“, unterstrich er.
Der Generaldirektor des Zentrums für politische Informationen Alexej Muchin vermutet, dass die eine weitere „Zementierung der Föderation wird, um die Versuchungen durch separatistische Stimmungen zu vermeiden“. Nach Meinung des Experten werde ein Teil der politischen Funktionen der Gouverneure an die föderale Staatsgewalt übergehen. Und im Gegenzug werde man den Gouverneuren breitere Vollmachten hinsichtlich der Wirtschaft und des Sozialbereichs geben. „Für den Kreml hat es keinen Sinn, mit den Regionen die politischen Vollmachten zu teilen. Es besteht das Ziel, einen einheitlichen Organismus zu schaffen und nicht die regionalen Fürstentümer zu bewahren“, erklärte er. Dabei wollte Muchin das Geschehen nicht mit dem Jahr 2024 verknüpfen. Die Veränderungen seien augenscheinlich auf eine längere Perspektive ausgerichtet. Er erinnerte daran, dass für die Bedürfnisse der Regionen oft Mittel bereitgestellt würden, die nicht bis zu den Bürgern gelangen und in den Haushalt zurückkehren würden. Und jetzt werde allem nach zu urteilen den Gouverneuren erlaubt, die Flüsse der Ressourcen von der makroökonomischen zur mikroökonomischen Ebene zu kontrollieren.
Der Leiter des analytischen Zentrums der KPRF Sergej Obuchow erläuterte der „NG“: „Hier gibt es sowohl politische als auch finanzielle Motive. Wenn sich die Größe des Futterkorbs verringert, ist es wichtig, einen Zugang zu jeglicher Ressource zu haben. Und da die Herrschenden die Unterstützung der aktiven Minderheit verloren haben, was sich gerade in den Hauptstädten der Regionen offenbart, besteht das Ziel, solch eine Aktivität auszudehnen. Das heißt, es ergibt sich, dass der Kreml gleichzeitig die Gouverneure an sich unter eine strengere Kontrolle nehmen und ihnen ihre eigenen Territorien für eine strengere Kontrolle überlassen will. All dies wird für die künftigen föderalen Wahlen getan“. Nach Aussagen Obuchows mache man die Gouverneure immer mehr zu kleinen Schrauben der Verwaltungsmaschine und Blitzableitern. Auf sie werde die Verantwortung geschoben, während gleichzeitig ihre Kontrolle verstärkt werde. „Dies ist ein einheitliches System zum Halten der Macht mit Hilfe eines Betonierens der (Macht-) Vertikale“.
Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, ist sich sicher, dass es im Gesetz „keinerlei Zufälligkeiten gibt. Es gibt eine weiterleitende Norm – eine Basis für die Zukunft“. Er ist aber der Auffassung, dass hierbei die künftigen Präsidentschaftswahlen keine Rolle spielen würden. Es ginge um eine Verstärkung der aktuellen politischen Kontrolle. „Vom Ideal her hätten es die Offiziellen gern, dass die Gouverneure und Bürgermeister alle von „Einiges Russland“ wären. Dann wäre auch die Vertikale fertiggestellt. Und obgleich es derzeit eine Kontrolle der Territorien scheinbar gibt, wird dennoch für jegliche Zufälligkeiten eine Norm vorgesehen. Zum Beispiel kann zum Bürgermeister irgendeiner Hauptstadt ein außerparlamentarischer Oppositioneller werden. Und da wird man die Stadt einfach unter eine föderale Verwaltung stellen können. An die Macht kann jedoch auch ein nichtabgestimmter Gouverneur von der System- (parlamentarischen) Opposition gelangen. Und da kann der Kreml im Gegenteil dem System- (konformen) Bürgermeister der regionalen Hauptstadt umfangreichere Vollmachten „auf Bitten der Werktätigen“ einräumen“, vermutete Makarkin, wobei er daran erinnerte, dass zu Jelzins Zeiten solche Situationen bereits aufgetreten waren. „Heute kann man bei der Verfassungsmehrheit von „Einiges Russland“ alles Mögliche durch die Staatsduma bringen. Die Herrschenden sichern sich sicherlich für Jahre voraus ab, um die unterschiedlichen Risiken auf ein Minimum zu reduzieren“, betonte er.