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Russlands Kulturschaffende haben einen zeitweiligen Sieg errungen


Nach der öffentlichen Kritik am Entwurf der „Grundlagen zur Bewahrung und Stärkung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte“ hat das Kulturministerium die Erörterung des Dokuments gestoppt, mit dem Ziel, neue Herangehensweisen an die Bearbeitung des Themas zu finden. Wie der Pressedienst des von der 41jährigen Olga Ljubimowa geleiteten Ministeriums mitteilt, würden neue Herangehensweisen an die Vorbereitung und Erörterung des Dokuments ausgearbeitet werden, die „erlauben, objektiv und allseitig alle Meinungen, Argumente und Anmerkungen, die die Autoren erreichten, zu berücksichtigen“.

Dies Dokument war, es sei daran erinnert, durch das Kulturministerium ausgearbeitet worden, genauer gesagt: in dessen Auftrag durch das Russische D.-S.-Lichatschow-Forschungsinstitut für das kulturelle und Naturerbe (durch das Erbe-Institut) – als eines der präzisierenden Dokumente der Strategie für die nationale Sicherheit. Die traditionellen Werte hatten die Grundlagen als „moralische Orientierungen“ bestimmt, „die von Generation zu Generation übergeben werden“, die in der Lage seien, die Einheit der Bürger zu stärken, die „russische Zivilisationsidentität“, die Einmaligkeit und die Eigenständigkeit der Nation zu bestimmen. Zu ihnen sind gerechnet worden: das Leben, die Würde, die Menschenrechte und -freiheiten, die Staatsbürgerlichkeit, das Dienen dem Vaterland und die Verantwortung für sein Schicksal, hohe moralische Ideale, eine starke Familie, schöpferische Arbeit, die Priorität des Geistigen, Humanismus, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Kollektivismus, gegenseitige Hilfe und gegenseitige Achtung, historische Erinnerungen und die Kontinuität der Generationen sowie die Einheit der Völker Russlands.

Eine Bedrohung für diese Werte berge nach Meinung der Autoren des umstrittenen Dokuments die Tätigkeit von Extremisten, Terroristen, der USA und deren Verbündeten. Sie seien Träger einer „destruktiven Ideologie“, die einen „Kult des Egoismus, der Zulässigkeit von allem, der Morallosigkeit sowie eine Negierung der Ideale des Patriotismus, des Dienens für das Vaterland, der Fortsetzung des Geschlechts, der schöpferischen Arbeit und des positiven Beitrags von Russland zur Weltgeschichte und -kultur“ aufoktroyiere.

Der Inhalt der Grundlagen – und besonders der Punkt über die Kontrolle ihrer Einhaltung (der Tätigkeit der Strukturen und Personen, die den nationalen Interessen der Russischen Föderation im Bereich der traditionellen Werte zufügen, und die ermittelt und möglicherweise bestraft werden) – hatte Unverständnis unter den Kulturschaffenden ausgelöst, das der Vorsitzende des Verbands der Theaterschaffenden Alexander Kaljagin zusammenfasste. In seinem Text, der auf der Internetseite des Verbands veröffentlicht wurde, wies er auf das bereits existierende und verabschiedete Gesetz „Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik“ hin, dessen Bestimmungen verständlich sowohl die traditionellen Werte als auch die moralischen Orientierungspunkte skizzieren würden. Kaljagin, der hinter der Einführung dieses Gesetzes eine direkte Zensur sieht und – als eine Folge – eine Stagnation der Kulturprozesse, wirft geradlinig, ohne Umschweife die Frage auf: „Die Kunst ist eine Wiederspiegelung des Lebens, mit seinen Mängeln und Vorzügen. Uns aber wird nur eine Bewahrung dessen vorgeschlagen, was als traditionell erklärt worden ist, während es alle anderen Themen in der Kunst einfach nicht geben darf?“.

Und von einem der Autoren des Dokuments, dem Leiter des Erbe-Instituts Wladimir Aristarchow (einst Vizekulturminister – Anmerkung der Redaktion), erhält er eine verständliche Antwort: Alle übrigen Themen – bitte, aber nur für das Geld der Steuerzahler. In seiner Wortmeldung bei der Diskussion der Grundlagen in der Öffentlichen Kammer (Gremium in der Russischen Föderation, das oft nur eine öffentliche Diskussion imitiert, letztlich aber keinen Einfluss auf wichtige Entscheidungen besitzt – Anmerkung der Redaktion) beleidigte der 52jährige Aristarchow den 79jährigen Kaljagin und künstlerische Leiter anderer führender russischer Theater (Jewgenij Mironow, Konstantin Raikin, Konstantin Chabenskij, Wladimir Urin, Konstantin Bogomolow, Andrej Mogutschij u. a.), die den Vorsitzenden des Verbands der Theaterschaffenden unterstützt hatten, indem er sie mit Parasiten verglich, die nach einer Finanzierung für eine die Gesellschaft zersetzende Kunst dürsten würden. Es sei daran erinnert, dass Aristarchow auch der Autor und Propagandist des Textes ist, der die Bürger Russlands aufruft, einen moralisch-ethischen Kodex einzuhalten. Da gibt es einen gewissen nicht zu erfassenden Widerspruch.

Möglicherweise hat Aristarchow dem Entwurf ein Bein gestellt, da nach den „Parasiten“ das Ministerium dem Dokument schon keinen Weg bahnen konnte. Überdies hatte Aristarchow klar zu verstehen gegeben, dass die Grundlagen eine Zensur vorsehen würden, wie immer man sie auch bezeichnet hätte. „Das Recht auf die Freiheit des Schöpfertums bedeutet in keiner Weise die Pflicht des Staates, alles fortlaufend zu finanzieren und Gelder für all das zu geben, was Kaljagin, seine Kollegen und noch irgendwer zu „Kunst“ erklären“, sagte der Chef des Lichatschow-Instituts. „…und daher ist der Staat verpflichtet, sich um die Effektivität des Ausgebens der Haushaltsmittel zu sorgen, darunter auch im Kulturbereich. Die Herausgabe von Grundlagen … gibt gerade dem Staatsangestellten ein Instrument in die Hand, das hilft, die Prioritäten für die staatliche Finanzierung zu bestimmen. Der Staat besitzt nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, nicht zuzulassen, dass Volksgelder für Projekte ausgegeben werden, die die traditionellen Werte zerstören und unsere Identität und die Einheit unseres Landes untergraben. Jedoch ist ein staatlicher Auftrag keine Zensur, da er kein Verbot für ein freies schöpferisches eigenes Artikulieren vorsieht. Im Rahmen des Strafgesetzbuches verbleibend, ist jeglicher Schöpfer frei, seine Werke im Geiste irgendwelcher beliebiger Werte zu schaffen, aber auf eigene Kosten“. Bereits zwei Jahre leitet Wladimir Medinskij nicht mehr das Kulturministerium, doch die Rhetorik – seine und die seiner ehemaligen Stellvertreter, zu den auch Aristarchow gehört (Experimente auf eigene Kosten) ist lebendig. Und nicht bloß lebendig. Man versucht, diese Thesen zu legalisieren, gesetzlich zu verankern und der Kultur und den Künstlern die Themen aufzuzwingen, in deren Rahmen sie so viel wie möglich freie bleiben können, denn es gibt im Staat „keine“ Zensur.

Die Russische orthodoxe Kirche beklagte gar das Fehlen Gottes

Der Entwurf des Dokuments (https://ngdeutschland.de/die-traditionellen-werte-trennte-man-von-der-religion/) war ab Ende Januar auf dem offiziellen russischen Internetportal für Rechtsinformationen diskutiert worden. Und Anfang Februar erfolgten Anhörungen in der Öffentlichen Kammer der Russischen Föderation. Auf dem erwähnten Portal hatten sich über 100.000 registrierte Nutzer für die Konzeption ausgesprochen, dagegen über 78.000. „Zur gleichen Zeit waren in der Gesellschaft, in der professionellen Community auch eine Vielzahl kritischer Anmerkungen laut geworden. Im Zusammenhang mit der aufgekommenen Diskussion rund um dieses Dokument für die strategische Planung ist zum heutigen Tag die Notwendigkeit offensichtlich, neue Herangehensweisen an die Ausarbeitung der „Grundlagen zur Bewahrung und Stärkung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte“ zu suchen“, hieß es im Kulturministerium.

Nicht ganz zufrieden war auch die Russische orthodoxe Kirche. Bei den Anhörungen in der Öffentlichen Kammer rief der Vorsitzende der Synodalabteilung für die Beziehungen der Kirche mit der Gesellschaft und den Massenmedien, Wladimir Legoida, auf, die Erwähnung Gottes in das Dokument aufzunehmen. „Die eigentliche Idee der traditionellen Werte hängt unmittelbar mit den religiösen Traditionen zusammen. Und sie kann einfach von nirgendwo sonst her schöpfen“, werden die Worte des Kirchenbeamten auf der Internetseite der Synodalabteilung ausgewiesen. Legoida ist der Auffassung, dass sich aus dem Inhalt des Dokuments in seiner derzeitigen Fassung nicht ergebe, dass religiöse Organisationen eine direkte Beziehung zur Frage nach der Bewahrung und Festigung der traditionellen Werte der russischen Gesellschaft haben. Der Funktionär verwies erwartungsgemäß auf die neue Fassung der Verfassung Russlands, wo es eine Erwähnung Gottes gibt. Freilich verweist diese Erwähnung lediglich auf die Ideale der Vorfahren und nicht darauf, dass nunmehr alle normativen Dokumente an die höchsten Kräfte appellieren sollen.

Dennoch hat die beschriebene Kritik aus völlig verschiedenen Richtungen das Ministerium zu der Entscheidung gebracht, eine Pause einzulegen. Vorerst heißt es, dass das Dokument in der gegenwärtigen Fassung von der Agenda genommen werde. Wahrscheinlich wird eine neue Variante auftauchen. Wichtig ist dabei aber, dass die Änderungen nicht hinter den Kulissen und an irgendwelchen Schreibtischen angenommen werden, sondern eine offene öffentliche Diskussion zu jeder Neuerung einer jeden Bestimmung des Dokuments erfolgt, wenn natürlich seine Existenz an sich als eine notwendige anerkennt wird.