Die große Pressekonferenz von Wladimir Putin hat in diesem Jahr zu verstehen gegeben, dass die innenpolitischen Fragen aus der öffentlichen Agenda der Herrschenden entfernt werden. Im Verlauf von knapp vier Stunden hatte zu diesen Themen nur ein BBC-Korrespondent mit Russlands Präsident zu sprechen begonnen – er fragte ihn sowohl zu den „ausländischen Agenten“ als auch über Alexej Nawalny.
Wohl nicht zufällig hatte man dem Journalisten aus einem Medium mit einer völlig offenkundigen ausländischen Anbindung erlaubt, diese anzusprechen. Die Offiziellen wollten scheinbar anschaulich demonstrieren: Schauen Sie her, die Probleme der „ausländischen Agenten“ interessieren vorrangig die Ausländer. Den Bürgern Russlands machen aber sozial-ökonomische Themen, die Außenpolitik, die Sicherheit und das Coronavirus mehr Sorgen. Der Kreml konnte auch früher – wie er wollte — die Pressekonferenzen moderieren, Fragen aussieben sowie Fragesteller zulassen oder nicht zulassen. Jedoch wurden dennoch unbequeme innenpolitische Themen inkl. die Protestbewegung, das Anziehen der Daumenschrauben auf gesetzgeberischer Ebene sowie Sujets im Zusammenhang mit Nawalny angesprochen. Putin hielt es für nötig, dies zu kommentieren. Nicht vergessen werden darf auch dies, dass man Michail Chodorkowskij nach einer großen Jahrespressekonferenz aus dem Gefängnis gelassen hatte (am 20. Dezember 2013, einen Tag nach der Pressekonferenz – Anmerkung der Redaktion).
Was hat sich verändert? Vor allem die Formen und die Stärke des Drucks auf die außerparlamentarische, die Nicht-System-Opposition. Bei der Pressekonferenz vom 23. Dezember erläuterte Putin, dass sich die Staatskollapse in der Vergangenheit nicht aufgrund des übermäßigen Anziehens der Daumenschrauben ereignet hätten, sondern aufgrund einer Unterstützung von außen, die die Verräter im Land erhalten hätten. Ja, und auch jetzt gehen im Koordinatensystem der Offiziellen Menschen und Organisationen sehr schnell den Weg von „ausländischen Agenten“ zu Verrätern, Diversanten und Extremisten. Dieser Narrativ wurde zu einem dominierenden. Das oppositionelle Feld hat man im Jahr 2021 auf maximale Weise bereinigt. Und die Septemberwahlen wurden zu einer Bilanz dieses Prozesses.
Die außerparlamentarischen Oppositionellen haben auch früher nicht geradewegs, direkt um die Macht gekämpft. Man hatte sie sehr selten zu den Wahlen zugelassen – als Kandidaten. Doch ein Kampf um die Agenda ist geführt worden, vorrangig im Internet. Die harten Kritiker der Offiziellen saßen nicht in Gefängnissen oder unter Hausarrest ohne einen Zugang zum Internet und sind nicht in solch einer Menge wie derzeit ins Ausland geflohen. Sie veröffentlichten Ergebnisse eigener Nachforschungen, waren nicht schüchtern und äußerten sich in den sozialen Netzwerken. Genehmigungen für Meetings wurden nicht eingeholt, nicht abgestimmt und auseinandergetrieben. Und ihre Teilnehmer und Organisatoren sind doch nicht aufgrund von „Extremismus-Paragrafen“ zur Verantwortung gezogen worden. Die Offiziellen konnten natürlich so tun, dass diese Themen nicht existieren. Aber nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Während des mehrstündigen Fernsehmarathons hat sich Putin dennoch bemüht, seine Position deutlich zu machen, obgleich natürlich seine Argumente bei weitem nicht alle überzeugt haben.
Die faktische Marginalisierung der Oppositionellen (Gefängnisse, strafrechtliche Verfolgung, erzwungene Emigration) hat auch zu einer Marginalisierung der Agenda geführt. Die Interpretationsmatrix ist durch den Präsidenten in einem kurzen Statement über die „ausländischen“ Agenten sehr klar umrissen worden: potenzielle Verräter, fremdes Geld. Russland gehe aber mit ihnen auch noch liberal um. Und weiter ist alles klar. Es gibt keine, die das oppositionelle Feld in Unruhe versetzen. Es gibt keine Sujets, die die vergangenen Wahlen liefern würden. Schließlich hat der Präsident für Menschenrechtsfragen den Rat für Menschenrechtsfragen. Seine Sitzungen werden in der Presse recht umfangreich erörtert.
Anders gesagt: Es gibt keinen, der die Offiziellen veranlassen kann, länger als mehrere Minuten über die Innenpolitik zu sprechen, wobei das bereits früher Gesagte wiederholt wird. Sie halten sich klar an die festgeschriebene Rollenstruktur. Die Stelle der innenpolitischen Probleme nehmen jedoch soziale und wirtschaftliche ein. Und die Herrschenden können sich irren, wenn sie annehmen, dass diese Sphäre für sie komfortabler, verständlicher und sicherer ist. Sie haben lange Zeit in der Gesellschaft die Vorstellungen von einem „linken“ Staat als einen normalen Staat unterstützt, sie haben sich den Weg zu unpopulären Reformen abgeschnitten. Zur gleichen Zeit begreifen und verspüren immer mehr Bürger, dass die einmaligen Beihilfen „von oben“ nicht wirken, dass die Einkommen zurückgehen. Doch auf die wirtschaftlichen Ansprüche ist es schwer, mit dem Narrativ von den Ausländern und nationalen Verrätern zu antworten.