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Selenskij zerstört die Verbindungen mit Russland


Am Donnerstagabend ist in Kiew Viktor Medwetschuk, ein Abgeordneter der Werchowna Rada (das Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion), einer der Führer der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ und Vater einer Tochter, deren Patenonkel Russlands Präsident Wladimir Putin ist, durch das Gericht des Stadtbezirks Petschersk unter Hausarrest gestellt worden. Bereits am Vortag hatte er erklärt, dass er nicht vorhabe, sich vor den Untersuchungsorganen zu verbergen. Die Werchowna Rada hatte im vergangenen Jahr die Abgeordneten-Immunität aufgehoben, und eine Zustimmung des Parlaments zur Festnahme und Inhaftierung eines Abgeordneten ist nicht erforderlich.

Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa hatte in den sozialen Netzwerken mitgeteilt: „Die Volksabgeordneten M. und K. (Medwedtschuk und Kosak – „NG“) werden des Landesverrats und des Versuchs der Plünderung nationaler Ressourcen auf der ukrainischen Krim verdächtigt. Im Ergebnis von Durchsuchungen ist der Aufenthaltsort des Volksabgeordneten M. nicht ermittelt worden. Und deshalb werden durch den Sicherheitsdienst der Ukraine entsprechende Maßnahmen zu dessen Ermittlung und zur Aushändigung des Antrags auf dessen Festnahme an ihn ergriffen“.

Es sei daran erinnert, dass im Februar der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine Sanktionen gegen Kosak, Medwedtschuk und deren Ehefrauen verhängten. Damals erklang in den Massenmedien die Formulierung über eine „Finanzierung von Terrorismus“. Es ging um Schemas für Lieferungen von Kohle, die in den Gebieten, die durch die nichtanerkannten Regionen „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ kontrolliert werden, gefördert wurde. Diese Kohle gelangte über russisches Territorium in die Ukraine. Zu einer Konsequenz der Wintersanktionen wurde insbesondere die Einstellung des Sendebetriebs der drei oppositionellen Fernsehkanäle „NewsOne“, „ZIK“ und „112“. Außerdem wurde die Frage nach einer Nationalisierung der Ölprodukteleitung „PrikarpatSapadtrans“ aufgeworfen.

Jetzt haben die Generalstaatsanwaltschaft und der Sicherheitsdienst der Ukraine (SDU) neue Vorwürfe gegen Medwedtschuk und Kosak vorgelegt. Entsprechend dem Strafartikel über Landesverrat werden zwei Episoden untersucht. Die eine hängt mit der Bildung der Organisation „Promin“ (ukrainisch: Strahl) zusammen, die sich offiziell mit der Vergabe von Zuschüssen für ukrainische Studenten zwecks Studiums in Russland und der Arbeitsbeschaffung für Ukrainer in der Russischen Föderation befasste. „Aber das wahre Ziel ist die Schaffung einer Infrastruktur für eine Einflussnahme zugunsten der Russischen Föderation durch Arbeitsmigranten“, erklärte man im SDU. Die andere Episode haben die Generalstaatsanwaltschaft und der SDU nur skizziert: Angeblich habe Medwedtschuk im August vergangenen Jahres Kosak, der sich zu jener Zeit in Russland aufgehalten habe, geheime Informationen über die Dislozierung einer getarnten Einheit der ukrainischen Streitkräfte (für eine Weiterleitung an die russische Seite) übergeben. Irina Wenediktowa betonte, dass die Übergabe der Informationen „ein Geschenk für die Geheimdienste der Russischen Föderation“ gewesen sei. „Nach Meinung der Untersuchungsbehörden war gerade für sie dieses Geschenk bestimmt. Was ist dies, wenn nicht das Zufügen eines Schadens an der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes?“.

Der Fall um die Plünderung von Krim-Ressourcen hängt mit der Neuregistrierung des ehemaligen ukrainischen Unternehmens „Neue Projekte“ in Russland zusammen. Es hatte das Recht erhalten, den Abschnitt „Glubokij“ eines Gasfeldes im Schelfgebiet des Schwarzen Meeres zu erschließen und auszubeuten. Die ukrainischen Untersuchungsbehörden sind der Auffassung, dass die Firma mit Medwedtschuk liiert sei. Und außerdem verdächtigen sie den Oppositionspolitiker, dass er mit der Registrierung der Firma in der Russischen Föderation faktisch den russischen Status der Krim anerkannt habe. Es sei betont, dass sich Medwedtschuk selbst öffentlich stets an die offizielle Linie Kiews gehalten hat, wonach die Krim „ein zeitweilig okkupiertes Territorium der Ukraine“ ist. Im Zusammenhang damit hatte Wladimir Putin im Jahr 2017 Medwedtschuk bei der Beantwortung von Fragen im Rahmen der „Direkten Linie“ (einer alljährlichen öffentlichen Fragestunde des russischen Präsidenten für die Landesbevölkerung – Anmerkung der Redaktion) ironisch als einen „ukrainischen Nationalisten“ bezeichnet.

Die Nationalisten und Radikalen in der Ukraine haben den Politiker immer für einen Vertreter und einen der Anführer der „fünften Kolonne Moskaus“ gehalten. Die Attacken gegen die jetzt blockierten oppositionellen Fernsehkanäle hatte lange vor den in diesem Jahr verhängten Sanktionen begonnen. Medwedtschuk hatte sich aber in Sicherheit gefühlt. Nach seinen Worten habe er im Auftrag von Präsident Petro Poroschenko Verhandlungen mit russischen Beamten und Vertretern der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik geführt. Geklärt wurden solchen Fragen wie Gefangenenaustausche. Im Jahr 2015 wurden Modalitäten für Lieferungen von Elektroenergie auf die Krim erörtert.

Der Politologe hatte früher gegenüber Radio Liberty erklärt, dass Poroschenko und Medwedtschuk im Kontakt gestanden hätten, doch ihre Beziehungen wären augenscheinlich sachliche und keine freundschaftlichen gewesen. „Hinsichtlich der Ölprodukteleitung, die gerade unter Poroschenko unter die Kontrolle von Medwedtschuk im Ergebnis einer zweifelhaften Gerichtsentscheidung gegangen war, hat es möglicherweise irgendwelche Vereinbarungen zwischen Poroschenko und Medwedtschuk gegeben“, sagte der Experte. Er betonte, dass Poroschenko Medwedtschuk als einen Mann gebraucht hätte, der direkt mit Putin Kontakte unterhält. „Irgendeine Zusammenarbeit zwischen Poroschenko und Medwedtschuk hat es zweifellos gegeben. Sie hat aber auf beiden Seiten einen sehr zynischen Charakter getragen. Sie brauchten einander“.

Der Politologe Andrej Solotarjow denkt, dass die Situation sogar eine kompliziertere sein könne, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. „In den Minsker Abkommen hat es bestimmt auch einen nichtöffentlichen Teil gegeben, dank dem Medwedtschuk „grünes Licht“ im Business und einen Schutzbrief hatte. Poroschenko verhielt sich gegenüber diesen Vereinbarungen scheinbar weitaus seriöser als gegenüber den eigentlichen Minsker Abkommen“. Nach Meinung des Politologen hatte Medwedtschuk in der Zeit der Präsidentschaft von Poroschenko offensichtlich eine hohe Protektion genossen, ohne die er „weder finanzielle noch Medien- oder politische Ressourcen hätte erhalten können. Wobei er so viel bekam, wie er bei keinem anderen Präsidenten bekommen hatte. Alle Androhungen und lautstarken Deklarationen blieben ein Sturm im Wasserglas und sind nicht auf die Ebene konkreter Entscheidungen übergegangen. Natürlich, dies entspannt und erlaubt nicht, die Situation real einzuschätzen und sich nüchtern gegenüber seinen Möglichkeiten zu verhalten“.

Experten in Kiew erinnern daran, dass sich die Spitzenkräfte der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ regelmäßig und öffentlich mit der russischen Führung getroffen haben, wobei sie aus Moskau Vorschläge für eine Wiederaufnahme direkter russischer Gaslieferungen, über die Herstellung russischer Coronavirus-Vakzine in der Ukraine usw. mitgebracht haben. Mehr noch, nur diese politische Partei ist in der Ukraine offen für direkte Gespräche mit der Führung der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik und für eine Umsetzung der Minsker Abkommen in der Reihenfolge, in der ihre Punkte festgehalten wurden, aufgetreten. Die offizielle Position aber läuft darauf hinaus, dass man die Abkommen aufteilen müsse: Zuerst müssten alle Punkte erfüllt werden, die der Gewährleistung der Sicherheit gewidmet sind, und danach (bereits nach der Liquidierung des Systems der Republiken) die politischen Punkte. Andernfalls würde zu einem Ergebnis der Umsetzung der Minsker Abkommen eine Legalisierung der DVR und LVR werden, meint man in Kiew. Es ergibt sich, dass die Partei Medwedtschuks in dieser Frage eine Position eingenommen hat, die den offiziellen Anschauungen Kiews widerspricht und sich mit der Meinung der DVR/LVR, aber auch Russlands deckt.

Obgleich man schon zu Zeiten der Präsidentschaft Poroschenkos die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ einer „Zusammenarbeit mit dem Aggressor“ bezichtigt hatte, gab es keinerlei offizielle Mitteilungen über den Verdacht eines Landesverrates. Michail Podoljak, Berater des Chefs des Office des ukrainischen Präsidenten, erklärte in einem Kommentar für die „Ukrainskaja Prawda“: „Nur die politische Protektion der Herrschenden im Verlauf vieler Jahre half Medwedtschuk, der Aufmerksamkeit der Rechtsschutzorgane und der Staatsanwaltschaft zu entgehen“. Zur gleichen Zeit beantwortete der Leiter des SDU Iwan Bakanow bei einem Briefing am Dienstag nicht die Journalistenfrage, ob die Untersuchungsbehörden planen würden, den ehemaligen Vertretern der ukrainischen Führung, die das Wirken Medwedtschuks nicht verhindert und möglicherweise gefördert hätten, Benachrichtigungen über den Verdacht eines Landesverrates vorzulegen. „Dies ist eine sehr schwere Frage, auf die wir etwas später eine Antwort geben werden“, sagte Bakanow.

Die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ sprach bereits von politischen Repressalien, die nach der Organisierung von Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in der Ukraine durch die Opposition einsetzten. „Am 9. Mai haben sich die Offiziellen davon überzeugt, dass ein überwiegender Teil unserer Gesellschaft die Ideen der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ teilt und unterstützt. Für ihn ist die Heldentat der Brudervölker heilig, die den Faschismus gestoppt haben, der heute in der Ukraine das Haupt erhebt“, heißt es in einer Erklärung. Die Partei behalte sich das Recht vor, „sich an das ukrainische Volk zu wenden, um alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen sowie die Willkür und Gesetzlosigkeit, die Ausplünderung und den Genozid der Bürger und die Verfolgung Andersdenkender einzuschränken“. Die direkte Andeutung der Möglichkeit von Protestaktionen wird den Offiziellen wohl kaum Angst machen. Obgleich die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ unter allen politischen Parteien hinsichtlich der Unterstützung der Wähler auf dem 3. Platz liegt, ist Viktor Medwedtschuk an sich keine Führungsfigur nationalen Maßstabs. Er gehört aber mit zu den reichsten Männern des Landes. Anfang Mai berichtete das Magazin „Forbes Ukraine“, dass der 66jährige zum ersten Mal in die Liste der reichsten Ukrainer aufgenommen wurde. Und dort landete er mit einem Vermögen von geschätzten 620 Millionen Dollar auf Rang 12.

„Russland beabsichtigt nicht, sich in die Situation um Medwedtschuk einzumischen. Dies ist eine innere Angelegenheit der Ukraine“, sagte am Mittwoch Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten. Nachdem aber der Millionär unter Hausarrest gestellt wurde, wurde der Ton aus dem Kreml schärfer. Bei einer Tagung des russischen Sicherheitsrates erklärte Präsident Wladimir Putin am Freitag: „Es erfolgt völlig offenkundig eine Säuberung des politischen Feldes … von jenen Kräften, die für eine friedliche Lösung der Krise im Südosten der Ukraine, im Donbass, und für gutnachbarschaftliche Beziehungen mit Russland eintreten“. Und Russland werde gezwungen sein, auf die Handlungen der Offiziellen der Ukraine zu reagieren, hieß es in einer Meldung der russischen Nachrichtenagentur „Interfax“.