Am 2. Mai konnten wir den 165. Geburtstag des Philosophen, Publizisten und Literaturkritikers Wassilij Rosanow (1856-1919) begehen. Diese Figur war ein so widersprüchliche, dass man sich bis jetzt ihr gegenüber unterschiedlich verhält. Was weiß man meistens über Rosanow? Nun, erstens, dass er, als er Geografie-Lehrer im Gymnasium von Jelezk war, sich so stark mit seinem Schüler und späteren Schriftsteller-Naturliebhaber Michail Prischwin zerstritten hatte, dass man ihn aus der vierten Klasse wegen Dreistigkeit gegenüber einem Lehrer warf. Später schreibt Prischwin: „Rosanow ist das Nachwort der russischen Literatur, ich – die kostenlose Anlage“.
Zweitens versäumt man es nicht zu sagen, dass Rosanow (Fjodor) Dostojewskij so grenzenlos geliebt hatte, dass er dessen Geliebte Apollinaria Suslowa heiratete, wobei er um siebzehn Jahre jünger als die Braut gewesen war. Apollinaria war auch wirklich eine verhängnisvolle Person. Sie war Dostojewskij ebenfalls ordentlich auf die Nerven gegangen: Mal drohte sie an, Hand an sich zu legen, mal verlangte sie, dass er sich von der schwindsüchtigen Ehefrau scheiden lässt, mal lief sie mit irgendeinem Franzosen davon oder veranstaltete unzählige Skandale. Dostojewskij, der durch die Eskapaden Suslowas zur Gestaltung einer Galerie hysterischer Frauenfiguren inspiriert worden war, bezeichnete sie als eine „kranke Egoistin“, und er hatte sie dennoch leidenschaftlich geliebt und zu heiraten gesucht. Suslowa hatte Dostojewskij nicht geheiratet, ja aber den jungen Konservativen und ausgezeichneten Studenten Rosanow – und dies mit Freuden. Die Ehe wurde zu einer äußerst glücklosen. Suslowa erniedrigte auf jegliche Weise den Gemahl, wobei sie dessen Arbeiten als dummes Zeug bezeichnete, machte ihm Eifersuchtsszenen und betrog ihn und flirtete rücksichtslos mit dessen Freunden. Zweimal verließ die Suslowa Rosanow. Der aber holte sie unter Tränen zurück. Als der Philosoph endlich eine andere Frau traf, mit der er eine Familie und Kinder hatte, weigerte sich Apollinaria aus Boshaftigkeit zwanzig Jahre lang, einer Scheidung zuzustimmen. Und die neue Ehe Rosanows galt vom Wesen her als eine illegale, und seine fünf Kinder als außereheliche.
Dieses Dilemma, sogar die Bigamie, hat im Vielen auch die Beschränktheit Rosanows auf Fragen der Familie und des Geschlechts bestimmt. Und dieses philosophische Kreisen um das Geschlecht und den Sex, übrigens die dritte Sache, ist das, durch was er berühmt ist. Rosanow sahen viele als Mephistopheles, einen Dämon, Zyniker, Antichrist und beinahe gar als einen perversen Mann, und alles, weil er das Neue Testament wegen des Predigens von Frömmelei und Asexualität schalt. Schließlich ist der Geschlechtstrieb nach Rosanow kein Schmutz, sondern gerade das Gegenteil, ein beinahe religiöser, reiner Höhenflug von Keuschheit. Auf diesem reinen Trieb basiert auch die Ehe. In diesem Sinne gefiel ihm das Alte Testament weitaus mehr, wo der Ort des Familien-, des körperlichen Lebens noch nicht durch Kasteiung und Askese verbrannt und das Irdische noch nicht durch das traurige Warten auf das Himmlische verdrängt worden ist. Die Kirche beeinträchtige das Geschlecht zu Gunsten der Ehelosigkeit und des Mönchszölibats, während Rosanow „dies“ nach eigenen Worten für heiliges hielt: „Ja, wie kann es auch anders sein, ich habe fünf Kinder? Wie kann es anders sein, da ich einen Vater und eine Mutter habe?“.
Aber die am meisten verbreitete Vorstellung von Rosanow klingt noch zweifelhafter: Er hätte sich auf die Juden eingeschossen, hätte sich unablässig antisemitisch aufgeführt. Während des spektakulären Beilis-Falls (Menachem Mendel Beilis war ein 1911 in Kiew als angeblicher Mörder eines christlichen Jungen angeklagter jüdischer Arbeiter – Anmerkung der Redaktion) hatte er unermüdlich Beiträge veröffentlicht, in denen er sozusagen den Vorwurf gegenüber den Juden rechtfertigte, dass sie in der Tat zum Begehen von Ritualmorden geneigt seien, schließlich liege das Darbringen von Opfern dem jüdischen Kult zugrunde. Aufgrund dieser anrüchigen Artikel hatte man Rosanow sogar aus der Religiös-Philosophischen Gesellschaft ausgeschlossen. Gleichzeitig aber begeisterte sich Rosanow für die Juden, er fühlte sich zu ihnen hingezogen, interessierte sich für sie. Und den alttestamentlichen Judaismus hatte er ganz und gar lobgepriesen. In dem Buch „Die Apokalypse unserer Zeit“, seinem letzten Werk, dass er 1918 verfasst hatte, klagte er ganz und gar das Evangelium und die Christen der Judenverfolgungen an. „Lebt, Juden. Ich segne euch in Allem, wie es zu Zeiten der Apostasie (Abtrünnigkeit – „NG“) war (der unglücklichen Zeit von Beilis), als ich (euch) in Allem verfluchte. Tatsächlich aber ist in euch natürlich das „Zimmes“ der Weltgeschichte (Zimmes ist ein berühmtes Gericht der jüdischen nationalen Küche – Anmerkung der Redaktion). Das heißt, da gibt es solch ein „Samenkörnchen“ des Friedens, das „wir allein bewahrt haben“. Lebt ihn! Und ich glaube, „alle Völker werden sie segnen“. Ich glaube nicht im Geringsten an die Feindschaft der Juden gegenüber allen Völkern. In der Finsternis, in der Nacht, wir wissen es nicht – ich habe oft eine erstaunliche, eine eifrige Liebe der Juden für den russischen Menschen und für den russischen Boden beobachtet“.
Aber so diametral entgegengesetzt urteilte Rosanow über Vieles. Nicht nur die Juden sind bei ihm sowohl schlechte als auch gute, sondern auch beispielsweise die revolutionären Ereignisse von 1905-1907. Einerseits bringen sie das Boot zum Schlingern, indem sie die Grundfesten zerstören und Chaos säen, andererseits bringen sie ein wunderbares Russland der Zukunft näher. Rosanow vertrat die Auffassung, dass man eintausend Standpunkte hinsichtlich eines Gegenstands haben müsse. „Dies sind die „Koordinaten der Wirklichkeit“. Und die Wirklichkeit wird auch nur durch 1000 erfasst“. Er publizierte auch in Zeitungen von grundlegend unterschiedlichen politischen Positionen aus, mal unter seinem Namen, mal unter einem Pseudonym.
Überhaupt waren sich die Zeitgenossen darin einig, dass Rosanow jenen noch der Pfeffer war. Der Existenzialist (Nikolaj) Berdjajew vertrat die Auffassung, dass „in ihm etwas war, das Fjodor Pawlowitsch Karamasow ähnelte, der zu einem Schriftsteller wurde“. Dem pflichtete praktisch Wort für Wort der Intuitionismus-Vertreter Nikolaj Losskij bei: „Seine Werke trugen keinen systematischen oder gar konsequenten Charakter, aber in ihnen waren oft Funken eines Genies auszumachen. Leider war seine Persönlichkeit in vielerlei Hinsicht eine pathologische. Am auffälligsten bestätigt dies sein ungesundes Interesse für die Geschlechterfragen. Er hätte zur Figur eines der Romane Dostojewskijs werden können“.
Ein dritter Philosoph, Pawel Florenskij, verbrachte mit Rosanow dessen letzten Monate in Armut und mit Hunger in Sergijew Possad, wo sein postrevolutionäres Buch „Die Apokalypse unserer Zeit“ geschrieben wurde. „Er hatte irgendwelche schrecklichen Visionen. Als wir uns das letzte Mal sahen, wenige Stunden vor dem Tode, empfing mich W. W. wirr, mit bereits geflüsterten Worten: „Wie war ich dumm, wie hatte ich Christus nicht verstanden“. Vor dem Ableben diktierte W. W. seinen ehemaligen Freunden und insbesondere jenen, die sich selbst für gekränkte gehalten hatten, sehr herzliche Abschiedsbriefe. Er hatte sich mit den Juden versöhnt“.
Vor dem Tod hatte Rosanow nicht nur diktiert, sondern auch weiter aktiv geschrieben. Die fünfte Sache, über die man oft im Zusammenhang mit Rosanow spricht, ist dies, dass der überaus fruchtbare Publizist, Essayist, Kritiker, Kommentator und Philosoph auch noch der erste Blogger vor den Zeiten des Internets gewesen war. Seine Schriften „Solitaria“ (1912), „Abgefallene Blätter“ (ein „Korb“ 1913 und ein „Korb“ 1915), „Die Apokalypse unserer Zeit“ (1918) und andere waren ihrer Zeit durch frappierende intime Offenheit, Knappheit und Operativität nicht geheimer Tagebuch-, sondern völlig öffentlicher Reaktionen auf die Ereignisse ringsherum zuvorgekommen. Da waren die Lebendigkeit der mündlichen Rede, ein Scharfsinn der Beobachtungen, das Begreifen und Fühlen des Lebens laut vernehmbar, im Realzeit-Regime. Da ging es sowohl um den Zusammenbruch der Welt, den Untergang Russlands und den Sturz Gottes aus dem ihm gewohnten national-patriotischen Blickwinkel als auch um völlig winzige, alltägliche und sehr persönliche Sachen. Damals hatte dies schockiert, verletzt.
Lesen Sie dies einmal in einer freien Minute, da bekommen auch die Schriftsteller-Brüder ihr Fett ab. „An den Haaren der Schriftsteller zu zerren, ist überhaupt eine angebrachte Sache. Sie sind doch genau solche Kinder, nur hochnäsige und bereits über 40 Jahre alt“ („Abgefallene Blätter“).
Und wie hatte doch Rosanow über unsereins, unseren Bruder in einem früheren Artikel gelästert (in der Dezemberausgabe der „Nowoje Wremja“ von 1909): „Falsche Schriftsteller hat es immer gegeben. Aber jetzt haben sie zu drei Viertel das Feld der „aktuellen Literatur“ eingenommen. Sie schreiben eigentlich nichts, sondern sie „stellen zusammen“, „zimmern zusammen“, verfassen auf die lausigste Art und Weise der Schreiberei. „Wie schreibe ich“, erzählte mir ein Romanschreiber angeberisch. „Um 10 Uhr morgens, nach einem Kaffee setze ich mich an den Schreibtisch. Ich schreibe bis zwei wie (Émile) Zola, ohne dass ich aufstehe. Ich frühstücke und spaziere danach. So hatte es auch (Charles) Dickens getan. Nach Hause gekommen, mache ich schon nichts mehr. Nach dem Mittagessen ruhe ich mich aus und setze mich dann wieder ans Heft und schreibe bis zehn. Um zehn fahre ich zu einem Literaten zu Besuch“. Dann, nachdem er in Schweigen versunken war, fuhr er fort: „Im Jahr schreibe ich einen Roman. Nachdem ich ihn geschrieben habe, trage ich ihn nirgendwohin, sondern warte ab, dass Redakteure eine Anfrage schicken: „Haben Sie keinen fertigen Roman?“. Als Antwort schreibe ich, dass es einen gibt, aber ich kann ihn nicht zu billig verkaufen“ und so weiter. Weiter über die Meisterschaft: „Wenn du einen Roman schreibst, schreibst du schließlich alles Mögliche. Sehr viel Unnötiges. Und da, nachdem ich fertig geworden bin, beginne ich die zweite Arbeit. Ich entferne alles Überflüssige. Ich schreibe auf einer Seite des Blattes. Und das Überflüssige streiche ich natürlich nicht durch, oh nein! Ich schneide es aus. Der Roman wird kürzer und wird in der Lebendigkeit und der Schnelligkeit des Handlungsverlaufs besser. Ich lese ihn ein zweites Mal durch und schneide noch einmal aus. Danach ist der Roman vollendet. Und ich verkaufe ihn. Aus dem aber, was ich ausgeschnitten habe, mache ich eine Erzählung, indem ich ein wenig hinzufüge. Aus den kleinen Ausschnitten – eine Skizze, ein Essay. Und dann geht das auch in den Druck“. So etwa zumindest heute auf Facebook. An Likes kommt ein Meer zusammen. Wenn man das nicht blockiert.