Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Sie lösten Skandale, Furore und Schocks aus


Am vergangenen Freitag wurde dem tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah in Stockholm der diesjährige Literaturnobelpreis überreicht. Für die „NG“ ein Grund, an bekannte Meister des Wortes zu erinnern, die dieser bedeutenden Auszeichnung nicht weniger würdig gewesen sind, sie aber letztlich nicht erhalten haben.

David Herbert Lawrence (1885-1930)

Berühmt hatten ihn zu Lebzeiten und noch mehr nach dem Tod seine Romane gemacht – die von Skandalen umgebenen und verbotenen „The Rainbow“ (1915, „Der Regenbogen“, der 1922 in deutscher Sprache erschien) und „Lady Chatterley’s Lover“ (1928, die Auflagen wurden eingezogen und vernichtet, nach einem Gerichtsprozess 1960 rehabilitiert; die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1930) mit Szenen von Sex und Überlegungen über ihn. Insgesamt sind durch Lawrence innerhalb von zwanzig Jahren zwölf Romane (oder dreizehn, da man auf unterschiedliche Weise die 100-seitige Erzählung „The Virgin and The Gypsy“ – „Die Jungfrau und der Zigeuner“ -, die 1926 geschrieben und 1930 posthum erstmals veröffentlicht wurde, einstuft), in denen das Hauptthema des Schaffens der Sex in seinem einen oder anderen Inhalt ist.

Aber die Romane sind auch die schwächste Seite seines Schaffens. Sie sind weitschweifig. Da sind nicht einfach viele Buchstaben, sondern ein über ganze Seiten fließender Strom von deprimierend schwergewichtigen „lyrischen“, „poetischen“ Ergüssen „aus gegebenem Anlass“, ja und überdies auch noch mit einem „hohen Stil“, das heißt mit einem gestelzten, pathetischen und deklarativen. Und dies nicht nur in den Abschweifungen des Autors, sondern auch in den Landschaften, die übermäßig und überall vorkommen, in den Dialogen und Monologen, weshalb sie nicht von menschlicher Natur, keine lebendigen sind. Und dies alles auch noch völlig ernsthaft, ohne einen Anflug von Humor, ganz zu schweigen von einer Selbstironie. So schreibt man nicht im 20. Jahrhundert. So hatte man im 19. Jahrhundert geschrieben und davor, als dies als normal angesehen wurde. Aber im 20. Jahrhundert, in der Epoche des Modernismus… Und Lawrence rechnet man schließlich auch zum Modernismus als einen der Hauptvertreter (in der britischen Prosa neben James Joyce und Virginia Woolf). Da ergibt sich, dass dies nicht stilistisch, sondern ausschließlich thematisch gilt (als ein „emanzipierter“, der „die Literatur entdeckte“ usw.), obgleich der Modernismus eine Stilrichtung ist.

Der Platz von Lawrence ist unter den Schriftsteller der vorangegangenen Literaturperiode: Knut Hamsun und André Paul Guillaume Gide, die auch über die Natur, den Sex und das Wesen des Sexes geschrieben hatten, die Pantheisten, anders gesagt: die Heiden, die die Instinkte und den Lebenswillen gepriesen und bei Nitzsche gelernt hatten. In seiner Epoche ist Lawrence ein dekadenter, ein überalterter.

Jedoch ist er in seinem Thema der König! Indem er es in jedem Roman in verschiedene Richtungen dreht und wendet, es methodisch, mit allen Aspekten abarbeitet, wird er letztlich für seine Zeit beinahe zum Hauptspezialisten in ihm. Doch dieses Thema ist nicht der Sex, sondern – im weiteren oder engeren Sinne – das der Beziehungen von Frauen und Männern. Im weiteren (Sinne) sicherlich: Von den einen weht solch ein Obskurantismus, dass es scheint: Das ist Mittelalterliches. „Alle Frauen sind Hexen.“ In den anderen ist dagegen das „dreckige Tier, der Mann“. Aber praktisch in allen – ein Krieg der Geschlechter, wobei in Abhängigkeit von der Handlung eine der beiden Seiten siegt. Die „maskulinen“ Sujets sehen bei Lawrence natürlich glaubwürdiger aus, doch die „femininen“ erscheinen nicht als an den Haaren herbeigezogene und angespannte oder lächerliche.

Eine andere Sache ist, dass das Gespräch über den Sex bei Lawrence von Zeit zu Zeit in einen entsetzlichen Sexismus ausartet. Aber ja, dies war doch vor einhundert Jahren, da konnte man dies. Zum Beispiel im Roman „Aaron’s Rod“ (1922, in Deutsch unter dem Titel „Aarons Stab“ 2004 erschienen), dessen Titel an sich, der auf den (blühenden) Stab der biblischen Figur Aaron verweist, hier einen Phallus-Charakter besitzt: „Unter seiner scheinbaren Zerbrechlichkeit und Unbeständigkeit verbarg sich die wie Stahl feste Überzeugung, dass sie, die Frau, das Zentrum der Schöpfung ist, und der Mann lediglich ein Anhängsel von ihr ist. Sie ist als eine Frau und insbesondere als eine Mutter eine große Quelle des Lebens und der Kultur. Der Mann aber ist nur eine Waffe und der äußere Vollstrecker ihrer schöpferischen Akte. Natürlich hatte Lotti nie über sich solch eine Überzeugung, selbst im Stillen geäußert. Doch die ganze Welt hatte sich zu ihr bekannt. Und sie hatte halbunbewusst in sich deren Ansichten reflektiert, die in der europäischen Gesellschaft vorherrschten und wonach die Frau der Mittelpunkt des Lebens ist. Sie ist die Seele, sie ist das Zentrum, und sie ist auch die höchste Auszeichnung im Leben. Fast alle Männer teilen solch eine Auffassung. In der Praxis stimmen alle Männer, selbst wenn sie das Recht auf ihre männliche Überlegenheit erklären, stillschweigend der Tatsache des heiligen Primats der Frau als ein Gefäß und eine Quelle zu. Sie nehmen schweigend das Joch einer Sklaverei auf sich und verneigen sich vor allem, was von der Frau ausgeht. Sie gestehen schweigend ein, dass alles seelisch Feine, Sensible und Edle – all dies ist weiblich. Und so sehr sie sich auch bemühen, in sich diese Überzeugung auszurotten, so sehr sie ihre Frauen verachten, zu Prostituierten laufen und durch Kneipen ziehen, womit sie ihren Protest gegenüber dem hinsichtlich des Verbreitungsgrades großen Dogmas von der Überlegenheit und dem Primat der Frau artikulieren, sie begehen damit nur gegen eben jenen Gott Frevel, dem sie weiterhin dienen. Die Vernichtung der Frau, dies ist nur die Kehrseite der Anbetung von ihr. Das ist im Roman der Fall, in dem der Mann glücklich von der Frau und den Kindern weggelaufen ist – in die Welt der Kunst.

Sozusagen im Gipfelwerk aber, im „Lady Chatterley’s Liebhaber“, erweckt dagegen der Mann in der Frau die Frau und führt sie, steuert sie. Und sie ist treuherzig mit ihm und folgt ihm. Und sie ist in seinen Armen glücklich. Ein Happyend. Aber das edle Publikum hatte es besonders als einen Skandal empfunden, dass diese Frau die Gattin eines Lords und der Mann aus einer unteren sozialen Schicht ist, ein Wildhüter, der Sohn eines Bergarbeiters (übrigens, wie Lawrence), obgleich er während des Krieges auch zu einem Offizier geworden war. Hier hatte sich Lawrence auf einen Kompromiss eingelassen. Allerdings sind im Kurzroman „Die Jungfrau und der Zigeuner“ die Oberen und die Unteren bereits ohne jegliche Kompromisse.

Die Romane sind jedoch, wie gesagt, bei weitem nicht das Beste von Lawrence. Und das Kennenlernen mit ihm muss man nicht mit denen beginnen, sondern mit den Erzählungen, mit lakonischen, die zu einer Handlung ohne superideelle Probleme zusammengefügt worden und frei von pathetischen Einstreuungen sind. Wobei sie irgendwo von der Technik her an die „Dubliner“ von James Joyce erinnern (Originaltitel: „Dubliners“, ein Zyklus von 15 Kurzgeschichten des irischen Schriftstellers – Anmerkung der Redaktion).

Wenn man aber dennoch mit den Romanen beginnt – so unbedingt mit „The Boy in the Bush“ (1924), einem kecken und verwegenen Reisebericht, der einen leichten jungenhaften Blick auf die Dinge und Antipoden vermittelt und weder durch Tod noch durch Sex getrübt wird, obgleich es auch da einen Krieg der Geschlechter gibt. Aber wenn man dies einmal ausspart, so ist es frisch und gut wie die Beatniks, wie Richard Brautigan, wie Mark Twain.

Karel Čapek (1890-1938)

In den Jahren der Nobelpreise gibt es einige klaffende Löcher, alle – mit Ausnahme von 1935 – aufgrund der Weltkriege. Wie sehr dies auch wie ein Oxymoron erklingen mag: „Weltkrieg“. Im Grunde genommen muss er auch so aufgefasst werden – eine schreckliche lächerliche Dummheit (griechisch oxýmōron, aus: oxýs = spitz, scharf; scharfsinnig und mōrós = stumpf, träge; dumm, töricht) wie bei Čapek in „R.U.R.“ (1920, in Deutsch unter dem Titel „W.U.R.“ erstmals 1922 erschienen), über einen Krieg gegen Roboter, und in „Der Krieg mit den Molchen“ (1936), ja und auch in anderen Arbeiten, wo er amüsant eine Apokalypse zeichnet, sie neckt. Eben dies hatte man ihm, dem bekanntesten tschechischen Schriftsteller, man kann sagen, dem Volksschriftsteller, der vom ganzen Volk geliebt wurde und der ab 1932 ständig von der Professorenschaft der Prager Universität für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, auch nach der Münchner Verschwörung (gemeint ist das Münchner Abkommen vom September 1938, dementsprechend die Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten und binnen zehn Tagen räumen musste – Anmerkung der Redaktion) nicht verziehen, als Präsident Edvard Beneš und die Übrigen emigrierten. Čapek aber war geblieben – der, wie alle meinten, Hitler mit dem „Krieg mit den Molchen“ bezwungen hatte. Nun, wer sonst? Čapek lebte noch drei Monate. Und umgebracht hat ihn nicht die Hetzkampagne, sondern eine Lungenentzündung, die er sich bei den Wiederaufbauarbeiten nach einer Überschwemmung geholt hatte. Aber diese Monate waren in jeglichem Sinne wirklich die letzten gewesen, da man ihn gehasst hatte (anonyme Schreiben mit Vorwürfen und vieles andere).

Doch es lag nicht an Hitler, obgleich Hitler auch zu ihm gekommen war, in Gestalt der Gestapo, gleich nach der Besetzung Prags im März 1939, wobei sie nicht gewusst hatte, dass Čapek bereits drei Monate tot war. (Seinen Bruder und Co-Autoren, den Maler Josef Čapek, nahm man aber fest, er verstarb im April 1945 im KZ Bergen-Belsen.) Die Sache lag am Nobelpreis. Bis 1936 hatte man ihn Čapek versagt, da er „nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein Journalist“ sei, weil „er kein Poet ist“ (musste er es aber?), aber vom Wesen her, wie Milan Kundera (dem man ihn deshalb auch nicht gibt) schreibt, weil die tschechische Sprache eine zu kleine sei, nicht zu den wichtigen Sprachen der Nobelpreise gehöre (und den ersten und einzigen Literaturnobelpreis für einen tschechisch-sprachigen Vertreter erhielt der Lyriker (und auch Journalist!) Jaroslav Seifert 1984. Und nach dem Erscheinen der „Molche“ hatte man gerade wegen dieser keinen gegeben. Nicht nur Hitler allein hatte in ihnen Hitler erkannt. Nicht allein das Nobelkomitee hatte den Roman als „einen für die Führung Deutschlands beleidigenden“ gehalten.

Nicht alle haben Recht, nicht nur das Volk, selbst jene, die die Roboter mit den Molchen verglichen hatte, hatten Lenin und Hitler gleichgestellt: „In den Szenen von „W.U.R.“ bekundet Karel Čapek seine Ablehnung der Rhetorik des Kollektivismus, des Klassenhasses, der totalitären Ideologien und Aufstände, die die Welt im Namen illusorischer Umgestaltungen aufteilt. Während die ekelhafte Invasion der Molche die Ausbreitung der Nazi-Krake widerspiegelt, so ist im Aufstand der Roboter unschwer eine Anspielung auf die russische Revolution auszumachen. … Die aggressiven Aufrufe der Androiden von Čapek ahmen die propagandistischen Losungen und Dekrete der Bolschewiken nach“ (Angelo Maria Ripellino in „Praga magica“ („Magisches Prag“), 1973). Macht sich Čapek etwa über sie lustig? Und nicht über uns selbst, die sie geschaffen haben? Sowohl die Roboter als auch die Molche – die eingesetzt werden, wofür sie auch geschaffen wurden (die Molche sind gezähmt worden). Und dass sie dann die Welt erobern, sieht beinahe wie eine Vergeltung aus. Zumindest zu Beginn lösen sie unser Mitgefühl aus. Und da wir für sie schon ein Mitgefühl verspürt haben, wird es schwer werden, sich bis zum Ende des Textes davon zu lösen, was immer sie auch da mit den Menschen getan und egal wie sie zerstört haben.

Aber Čapek ist nicht Antoine de Saint-Exupéry. Er ist witziger und komplizierter. Auch als unsere Komplexe der Vertreter der Intelligenz (einschließlich des Stockholm-Syndroms). Hitler ist für die „Molche“ unbedeutend (er ist überhaupt unbedeutend). Doch während Eugène Ionesco ein Vierteljahrhundert später erklären musste, dass die Verwandlung in Nashörner (Anspielung auf sein Theaterstück „Die Nashörner“, das im Oktober 1959 seine Uraufführung erlebte – Anmerkung der Redaktion) weiter als der Faschismus sei, so musste es auch Čapek mit den menschenartigen Molchen tun. Mit dem Unterschied, dass der Weltkrieg noch nicht begonnen hatte. Und er musste dies anders beweisen, dass die „Molche“ keine Utopie seien: „Die Kritik hielt mein Buch für einen utopischen Roman, dem ich entschieden widerspreche. Dies ist keine Utopie, sondern die Gegenwart. Dies ist kein spekulatives Bild einer gewissen fernen Zukunft, sondern ein Spiegelbild dessen, was es im gegenwärtigen Moment gibt und in dessen Mitte wir leben. Hier geht es nicht um mein Bestreben zu phantasieren. Ich bin bereit, gratis Phantasien zu verfassen, ja mit einem Ausflug und wann immer Sie wollen – wenn es wer möchte. Hier war es für mich wichtig, die reale Wirklichkeit zu zeigen. Ich kann nicht anders…“ („Über die Entstehung des Romans „Der Krieg mit den Molchen“, 1936). Aber wie hatten doch alle gewollt, dass dies eine Utopie bleibt.

Aber lassen Sie uns einmal eine Utopie vorstellen: Im wirren 1935, als man keinen Nobelpreis verlieh, weil es für ihn wohl angeblich keinen gab, weil sich kein würdiger aus der Liste gefunden hatte, tatsächlich aber, um ihn nicht Čapek zu geben. Und wenn man da diesen (Literaturnobelpreis – Anmerkung der Redaktion) ihm doch gegeben hätte, im Oktober wie gewöhnlich. Und er hatte die „Molche“ bereits im August abgeschlossen. Hätte man ihm und den „Molchen“ aufmerksamer Gehör geschenkt, ihn sofort in alle Sprachen übersetzt, in Hitler und den Molchen sich erkannt, sich Gedanken gemacht und wäre entsetzt gewesen. Und weiter: die Münchner Verschwörung, der Zweite Weltkrieg – hätte es die gegeben? Und Sie reden da – eine Utopie.

Yukio Mishima (1925-1970)

Er ist der am meisten mit Skandalen verbundene japanische Schriftsteller des Jahrhunderts. Fünf Mal hatte er ganz dicht vor dem Nobelpreis gestanden und war (wie aus 50 Jahre später aus freigegebenen Archiven ersichtlich ist) unter den Hauptanwärtern gewesen. Aber 1963 hatte man den Preis anstelle von ihm an Giorgos Seferis gegeben, 1964 – an Jean-Paul Sartre, der ihn nicht annahm, 1965 – an Michail Scholochow, 1967 – an Miguel Ángel Asturias und 1968 – an seinen Landsmann Kawabata Yasunari. Aber damit war für Japan eine weitere Gelegenheit vorübergehend passé. Und 1970 beging Mishima Selbstmord.

Jedoch yorobiti no koto (japanisch: Freuden durch eine Harfe – Anmerkung der Redaktion). Und schließlich sind yorobiti wirklich Freuden. Genauer genommen ist dem aber nicht ganz so: Die Freuden sind (auch) Trauer, die die Leser, ja und alle, als Sado-Maso wahrnehmen. Düsteres und Lichtes, und ohne Kategorien gesprochen: die Episoden, alles vermischt sich so eines nach dem anderen. Und dies bestimmt auch seine Manier als Autor. Dies ist so etwas von der Art eines zweiseitigen Spiegels, der zwei Gesichter des Menschen zeigt, ein glückliches, das andere – ein von Schmerzen verzerrtes. Es sind also nicht zwei Menschen. Und dies sind auch bestimmt nicht Dr. Jekyll und Mr. Hyde (eine Novelle des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson aus dem Jahr 1886, die eine der berühmtesten Ausformungen des Doppelgängermotivs in der Weltliteratur ist – Anmerkung der Redaktion). Nehmen wir einmal Etsuko aus „Liebesdurst“ (japanisch: Ai no Kawaki, erschienen 1950). Ist sie Hyde oder Jekyll? Sie ist Etsuko, sowohl wenn sie sich peinigt als auch wenn man sie und wenn sie selbst andere schikaniert. Sie ist Etsuka, auch wenn sie tötet.

Was gibt es, stellt sich die Frage, in Mishima an Japanischem außer dem Harakiri, mit dem er dem Leben und der Schriftstellerei ein Ende setzte? Ja, eben dies. Nicht doch die Madames de Sade („Madame de Sade“, japanisch: „Sado Kōshaku Fujin“, ein im November 1965 veröffentlichtes Theaterstück) und nicht Hitler („Mein Freund Hitler“, japanisch: „Waga Tomo Hittorā“, ein im Dezember 1968 veröffentlichtes humoristisches Theaterstück, dessen deutsche Übersetzung erstmals 2013 vorgelegt wurde), nicht (Friedrich) Nietzsche und die deutsche Romantik mit Thomas Mann, dessen „Der Tod in Venedig“ in den Gay- „Bekenntnissen einer Maske“ (japanisch: „Kamen no Kokuhaku“, erstmals 1949 erschienen), dem ersten Roman von Mishima, steckt. Und noch mehr, bis hin zum Schriftsteller und jungen Burschen, und wobei unwichtig ist, wer wen manipuliert, in den „Verbotenen Farben“ (japanisch: „Kinjiki“, der vierte Roman Mishimas, der in zwei Bänden 1951 respektive 1953 publiziert wurde).

Der japanische Geist breitet sich nicht so aus, und für den westlichen Geist ist es schwer zu begreifen, ohne sich auszubreiten. Und überhaupt, was bedeutet „Triffst du Buddha, töte ihn!“, worüber der als für Mishima charakteristischste geltende Roman „Goldener Pavillon“ erzählt (japanisch: „Kinkaku-ji“, der 1956 erschien, während in der erstmals 1961 erschienen deutschen Übersetzung der Titel „Der Tempelbrand“ die dem Roman zugrunde liegende wahre Begebenheit – die Brandstiftung des Goldenen Pavillons des Rehgarten-Tempels in Kyoto — in den Mittelpunkt stellt – Anmerkung der Redaktion), ja und all sein Anderes auch. „Nur so erlangst du die Erleuchtung und löst dich von der Vergänglichkeit des Seins“. Den Tempel setzt doch gerade ein Mönch in Brand, sowohl bei Mishima als auch in der Realität, sechs Jahre vor dem Roman.

Hier macht es natürlich Sinn nachzudenken: Für das Wunderbare, die Schönheit (so steht es bei Mishima und den Japanern – mit einem Großbuchstaben) muss man nicht Buddha werden. Aber zu einem Buddha wird es doch in unseren Augen. Und es gibt (da) noch eine Nuance, die für Mishima wichtig ist: dass der Tod das Wunderbare zu einem endgültig vollkommenen macht, es buchstäblich in einen kleinen Rahmen einfasst.

Eine Retrospektive seiner Biografie: von einem Harakiri über die Etappe eines Bodybuilders und die eines Monarchisten-Nationalisten zu einem kränkelnden Knaben ohne Altersgefährten, mit einer aristokratischen Großmutter in einem abgeschlossenen Herrenhaus und einem Erziehungssystem, das dazu führte, „dass er anfing, in einer für das Reden von Frauen eigenen Manier zu sprechen“. Ja, und da ist Buddha. Nachdem er einen Staatsstreichversuch organisiert und das militärische Hauptquartier besetzt hatte, tötete Mishima dort aber keinen, nur sich.

Also denn: Der unaufhaltsame Prozess des Buddha-Werdens in sich (40 Romane, 18 Theaterstücke, Erzählungen, Essays, publizistische Beiträge) war mit der wohl in einer entgegengesetzten Richtung verlaufenden Vorbereitung zur Buddha-Vollendung verbunden: die Schriftstellerei und das Bodybuilding, die Kultur und die Kulturistik sind nicht ein und dasselbe! Schriftsteller ist stets eine düstere Seite. Mishima: „…wahre Kunst birgt eine Gefahr und ein Gift in sich“. Aber man kann sich auch, indem man den Spiegel umdreht, nicht an der finsteren Seite ergötzen. Und vom Prinzip ist die Frage offen, wie auch das Ende im Theaterstück „Die Koto der Freude“ 1963 (im Westen würde man „Ode an die Freude“ sagen, und „Harfe“ anstelle von „Koto“), wo alles mit der Politik vermischt worden ist, Polizeibeamte, ein Terrorakt, Kommunisten, Nationalisten. Doch die Sache ist nicht die: Die Koto (eine japanische Version der Harfe – Anmerkung der Redaktion) erklingt real auf der Straße, bei einer Demonstration – oder in den Köpfen der Polizisten. Und ist dies ein Zeichen von Erleuchtung?

Edward Albee (1928-2016)

Das absurde Theater ist irrational und national. Es ist abstrakt, wird aber dennoch sozusagen durch das lokale Material konkretisiert. Und die Wut des Tages steckt in der Wut des Häuslichen. Für irgendwen ist sie völlig gegenständlich. Bei (Daniil) Charms und (Alexander) Wwedenski beispielsweise. Aber auch (Jean) Genet ist französisch, (Tom) Stoppard ist englisch, und in den vermischten, amüsanten Identitäten von (Eugène) Ionesco und (Samuel Barclay) Beckett finden sich, wenn es sein muss, rumänische, irische Wurzeln darin, was sie der französischen Literatur gegeben haben.

Albee ist der einzige Vertreter des absurden Theaters in der amerikanischen Version. Und lokales Material hat er wie kein anderer der Kollegen bei der Hand. Er zielt natürlich wie sie alle auf die Stratosphäre ab. Da sind die Sinnlosigkeit des Lebens, die Leere, das Loch vom Bagel anstelle von Gott. Doch die Kugel oder der Pfeil wird unbedingt, wenn sie bzw. er von dort (der Stratosphäre – „NG“) zurückkehrt, das heimische Haus treffen. (Und bei irgendwem, bei Beckett, kann sie bzw. er auch gar nicht zurückkehren.)

Die sowjetische Literaturkunde hat Albee sogar in Teile aufgespalten: Bis zu diesen Grenzen ist er gut, sozial, kritisiert die amerikanische Lebensweise. Da aber beginnt bereits Abstraktismus: Verrat! Aber man kann sich wohl kaum ein kleines Bisschen Albee kaufen. Auch dem Broadway ist es so ergangen, er musste ihn vollkommen erwerben, mit allerlei für den Broadway untypischem Klimbim, der für ihn so bedeutsam war. So in der Art von sprechenden Kisten anstelle von Personen und anderen Konventionen nichtunterhaltender Art.

Was soll man da schon sagen, wenn selbst die eigene, in dem Thema fortgeschrittene amerikanische Professorenschaft auch für sich ein wenig von Albee haben wollte – (aber) „ohne obszöne Lexik und sexuelle Thematik“: 1963 verpfuschte ihm die Columbia University den Pulitzer-Preis für das wichtigste amerikanische Bühnenstück des 20. Jahrhunderts, wie sie bereits später auch festgestellt haben – „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. (Obwohl eher deshalb, weil es gerade über die Universitätsprofessorenschaft war, die sich nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in der Familie wie Dreckskerle verhält.) Danach, als man es gelernt hatte mit Albee vollkommen fertig zu werden oder nach der weltweiten Anerkennung resignierte, bekam er den Pulitzer 1967 (für „A Delicate Balance“, deutschsprachiger Titel „Empfindliches Gleichgewicht“), 1975 (für „Seascape“, deutschsprachige Titel „Seeskapade“ und „Strandläufer“, wobei die handelnden Figuren keine Menschen sind, sondern zwei weibliche Eidechsen) und 1994 (für „Three Tall Women“, deutschsprachiger Titel „Drei große Frauen“, wobei drei Frauen auf der Bühne sind – ein und dieselbe mit unterschiedlichem Alter).

Es wird aber wohl keiner ihm vollkommen Herr werden. Man nehme den Fall mit „Tiny Alice“ (1964, deutscher Titel „Winzige Alice“), die man deutete, interpretierte und letztlich doch nicht entschlüsselte, als ein Buch mit sieben Siegeln anerkannte und als ein „Rätsel-Stück“ bezeichnete. (Und selbst der Autor, der üblicherweise gern in den Vorworten erzählte, worum es gehe und worauf es hinauslaufe, wich einer Antwort aus, wobei er sagte, dass er sein Stück nicht erklären könne.) Es ist nicht so, dass „Alice“ (dies ist eine Alice à la Lewis Carroll) vom Stil her auf Beckettsche Art Beckett übertrumpfte, zu dem man zumindest doch irgendwelche Schlüsselchen findet. Aber auf der Bühne ist ein Held (der Laienbruder Julian – Anmerkung der Redaktion) und ein Häuschen, in dem Häuschen erblickt der Held noch ein (Modell-) Häuschen und sich, und in dem Häuschen – usw. Haben Sie es verstanden?! Man kann dorthin gehen, aus einer Tiefe an eine angenommene Oberfläche. Man kann es umgekehrt tun. Aber zumindest auf solch eine Art und Weise geht der Sinn unterwegs verloren. Und selbst die persönliche – die biblische — Bedeutung des Helden, dem die Versuchung, der Sündenfall und der Tod bevorstehen.

Was ist da „Alice“, wenn selbst das allererste Drama „The Zoo Story“ (1958, deutscher Titel „Die Zoogeschichte“), das noch kein solch abstraktes Drama gewesen war (wobei wir letztlich nicht erfahren, was im Zoo geschehen ist, ungeachtet dessen, dass Jerry, eine der beiden Figuren auf der Bühne, das gesamte Stück über versucht, dies zu erzählen), von mehreren Broadway-Theatern abgelehnt wurde und als Manuskript durch die Welt bummelte: aus New York nach Florenz, von Florenz aus nach Zürich, von dort nach Frankfurt am Main, bis es in Westberlin in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters zusammen mit der deutschen Erstaufführung von Becketts „Das letzte Band“ Ende September 1959 auf die Bühnenbretter gelangte.

Den hingekritzelten Satz „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, für immer zu einem Mem geworden, hatte Albee, wie es heißt, an der Wand irgendeines New Yorker Nachtlokals gesehen. Für ihn persönlich aber bedeutet „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ „natürlich, dass wir keine Angst vor dem grauen Wolf haben („Who’s afraid of the big bad wolf?“ – deutsch: „Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“, Kinderlied aus einem Disney-Zeichentrickfilm von 1933 – A. K.), … wir haben keine Angst, ohne falsche Illusionen zu leben“.

Tatsächlich ist es schrecklich. Albee demonstriert überall, nicht nur in „Virginia Woolf“, dass der Selbstbetrug eine menschliche Schutzhülle ist, der Mensch an sich. Und wenn man probiert, ihn der menschlichen Hülle zu berauben, verwandelt er sich in ein Raubtier, in einen schrecklichen Wolf und frisst alles auf.

Es gibt verständlicherweise unterschiedliche Hüllen. Albee – wir kommen dorthin zurück, womit wir begonnen haben – hat seine seziert, eine amerikanische, seine amerikanische. Und je weiter, umso konkreter haben die Titel der Theaterstücke aufgezeigt, dass er sich gerade damit befasst. Die letzten haben es überhaupt so artikuliert: „Occupant“ (2001), „Knock! Knock! Who’s There!?“ (2003) und das letzte „Me Myself and I“ (2007)