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Sowohl der Westen als auch Russland wenden sich von Lukaschenko ab


Die Fortsetzung des harten Vorgehens gegen unabhängige Politiker garantiert Minsk neue Sanktionen

Die europäischen Strukturen reagierten auf die Repressalien in Weißrussland und haben vor einer möglichen Rückkehr zu Sanktionen gewarnt. In früheren Zeiten hatte solch eine Situation Alexander Lukaschenko genötigt, bei Russland um Hilfe zu bitten. Jetzt kann er dies nicht machen. Zu viele Beanstandungen hat er gegenüber dem Verbündeten geäußert. Die Situation ist derart, dass Weißrusslands Präsident allein bleiben kann, ohne Partner und ohne eine Unterstützung sowohl des Westens als auch des Ostens. 

Die Lage von Alexander Lukaschenko, der allem nach zu urteilen beschlossen hat, die Macht um jeden Preis zu behalten, wird dadurch erschwert, dass das früher bewährte „Pendeln“ aus dem Osten in den Westen und zurück dieses Mal nicht funktionieren kann. Offiziell reagiert der Kreml nicht auf die Geschehnisse in Weißrussland, doch die Ereignisse des letzten Jahres belegen, dass man ihn in Moskau nur mit der unterzeichneten 31. Integrationsroadmap erwartet. Und nicht anders. In dieser Situation sieht die Erklärung von Lukaschenko, dass er in dem Falle bereit sei, „allein gegen alle zu kämpfen“, schon gar nicht so irreal aus. 

Während Moskau schweigend das Geschehen in Weißrussland beobachtet, bekundet man in Europa Missfallen. Auf die Repressalien gegen Mitglieder der Initiativgruppe der potenziellen Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, aber auch gegen den Ex-Präsidentschaftskandidaten Nikolaj Statkjewitsch und mehrere Dutzend Aktivisten haben die EU und die Parlamentarische Versammlung (PV) der OSZE reagiert. 

Eine gemeinsame Erklärung haben der Leiter der Delegation des Europaparlaments für die Beziehungen mit Weißrussland, Robert Biedroń, und der Weißrussland-Berichterstatter Petras Auštrevičius verabschiedet. Sie konstatieren eine Verschlechterung der Situation bezüglich des Rechts auf die Durchführung friedlicher Versammlungen und der Meinungsfreiheit, aber auch den Unwillen der weißrussischen Behörden, gleiche Bedingungen für alle Präsidentschaftskandidaten zu schaffen. „Wir lehnen entschieden die Aktionen ab, die an diesem Wochenende durchgeführt wurden und zur Festnahme des Video-Bloggers Sergej Tichanowskij, des Oppositionsführers Nikolaj Statkjewitsch und Dutzender anderer Menschen führten, die friedliche Versammlungen zur Sammlung von Unterschriften im ganzen Land besuchten, führten“, heißt es in dem Statement. 

Die Provokationen und ihnen folgenden Festnahmen bewerten die Autoren der Erklärung als „eine direkte Einmischung der Behörden in den Wahlprozess, um die Kandidaten zu behindern, die für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat erforderliche Anzahl von Unterschriften zu sammeln“. Die Vertreter des Europäischen Parlaments riefen die Regierenden Weißrusslands auf, „unverzüglich alle Bürger freizulassen, die ungerechterweise festgenommen wurden, und diese inakzeptable Welle von Repressalien zu stoppen“. Andernfalls seien die europäischen Parlamentarier gewillt, „eine Revision der Politik der Europäischen Union bezüglich Weißrusslands inklusive neuer Sanktionen gegen die Offiziellen, die für die Repressalien verantwortlich sind, zu erreichen“. 

Eine gemeinsame Erklärung im Zusammenhang mit den Ereignissen in Weißrussland veröffentlichten der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses für Demokratie, Menschenrechte und humanitäre Fragen der PV der OSZE, Kyriakos Hadjiyianni, sein Stellvertreter Michael Georg Link und der Berichterstatter Kari Henriksen. Sie erklärten, dass die erfolgten Festnahmen die Gesellschaft einschüchtern würden, und riefen auf, ein vollwertiges und offenes Umfeld für die Durchführung des Wahlkampfes zu schaffen.  

Die Situation in Weißrussland kommentierte gleichfalls der Pressesekretär der EU-Kommission für Außenbeziehungen, Peter Stano. Die Ereignisse der letzten Tage würden „ernsthafte Fragen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Behörden“ auslösen, erklärte er gegenüber der weißrussischen Nachrichtenagentur BelaPAN und rief auf, unverzüglich die festgenommenen Teilnehmer der friedlichen Aktionen freizulassen. Außerdem erwarte die EU, so Peter Stano, dass die Offiziellen Weißrusslands das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE zwecks Wahlbeobachtung „entsprechend der üblichen Praxis“ einladen.

Es sei daran erinnert, dass die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Lidia Jermoschina, früher Zweifel in Bezug auf die Anwesenheit internationaler Beobachter im Land im Zusammenhang mit der epidemiologischen Situation geäußert hat.

Hinsichtlich der Perspektiven für den Erhalt finanzieller Unterstützung, die die Offiziellen Weißrusslands im Zusammenhang mit der COVID-19-Epidemie bei der EU angefragt haben, erläuterte Peter Stano, dass die Bereitstellung von Mitteln für die Bedürfnisse des Gesundheitswesens von der Umsetzung der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation abhängen werde, und für eine Unterstützung der Wirtschaft – davon, wie sich die Beziehungen des offiziellen Minsk mit dem Internationalen Währungsfonds gestalten würden. Das Land müsse unter anderem „bestimmten politischen Vorbedingungen entsprechen“. 

Mit Stand vom 3. Juni haben die Offiziellen Weißrusslands den Warnungen der EU und der PV der OSZE kein Gehör geschenkt. Die am vergangenen Freitag Festgenommenen sind bisher nicht unter Klage gestellt worden. Man hat sie jedoch auch nicht freigelassen. Mehr noch, die Gerichtsverhandlungen gegen Aktivisten, die Sergej Tichanowskij unterstützen, wurden fortgesetzt. Am Mittwoch verurteilte man in Minsk den Vorsitzenden der Vereinigten Bürgerpartei, Nikolaj Kozlov, und den YouTube-Blogger Dmitrij Kozlov (Grauer Kater). Beide erhielten eine Geldstrafe von jeweils 1350 weißrussischen Rubeln, was etwa 500 Euro entspricht. 

Nicht verändert hat sich vorerst auch die Strategie der Behörden bezüglich der COVID-19-Epidemie. Und dies ungeachtet dessen, dass sich keinerlei Verringerung der Erkrankungshäufigkeit abzeichnet. Die tägliche Zunahme der offiziell registrierten neuen Fälle beträgt 850–959 Menschen. Insgesamt gibt es laut offiziellen Angaben 45 116 offiziell anerkannte COVID-19-Fälle und 248 Todesfälle (Stand vom 4. Juni – Anmerkung der Redaktion). Einheimische Beobachter glauben jedoch schon lange nicht mehr den Daten des Gesundheitsministeriums und vermuten nach einem Vergleich der Situation in Weißrussland mit analogen Ländern, dass die realen Zahlen um ein Vielfaches höher seien. Dabei werden nach wie vor keinerlei Maßnahmen zur Distanzierung verhängt. Im Land erfolgt ein aktiver Wahlkampf, die Schüler legen Prüfungen ungeachtet dessen, dass für viele Klassen eine Quarantäne verhängt wurde, ab. Derweil erklärte Alexander Lukaschenko am Mittwoch, dass sich Weißrussland „in dieser Situation mit COVID-19 bereits herausgebissen, sich aus der Patsche geholfen hat“. Das Gesundheitsministerium hat in der Zwischenzeit irgendeine neue merkwürdige Anleitung zur Behandlung von COVID-19 herausgegeben, der zufolge man die Patienten am 21. Tag der Krankheit lediglich auf der Grundlage aus der stationären Behandlung entlässt, dass sie schon keine Gefahr für die Gesellschaft darstellen würden und keine Infektionsquelle seien. Massenhaft haben sich bereits nichtausgeheilte Bürger, die man aus den Krankenhäusern entlässt, an einheimische Medien gewandt. 

Unter solchen Bedingungen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Weißrussland ohne äußere finanzielle Hilfe bleiben kann. Früher hatte die Regierung von Sergej Rumas (wurde am 3. Juni durch Alexander Lukaschenko entlassen, zum neuen Regierungschef wurde am 4. Juni Roman Golowtschenko ernannt – Anmerkung der Redaktion) erklärt, dass sie beabsichtige, um die 2,5 Milliarden US-Dollar zu beschaffen, darunter 900 Millionen vom IWF. Die Gegenkandidaten von Lukaschenko scharren immer mehr Menschen um sich, die ihre Unterschriften zu deren Unterstützung abgeben wollen. Und dies veranlasst Experten, davon zu sprechen, dass es ohne eine Verstärkung der Repressalien nicht gelingen werde, die Welle des Volksprotests gegen Lukaschenko zu stoppen. Dabei fällt es den Analytikern schwer, eine Prognose darüber abzugeben, wie die Bevölkerung auf die umfangreicheren und brutaleren Repressalien reagieren wird.   

Minsk