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„Tannhäuser“ hat die Ritter im Archiv abgegeben


Im Petersburger Mariinski-Theater erfolgte die Premiere einer neuen Inszenierung der Wagner-Oper „Tannhäuser“. Die Aufführung, die vor zwei Jahren durch Regisseur Wjatscheslaw Starodubzew, Bühnenbildner Pjotr Okunjew und Kostümbildnerin Jeanna Usatschjowa für den kleinen Spielraum des Konzertsaals des Theaters besorgt worden war, wurde nicht einfach auf die Bühnenbretter des zweiten Hauses des Mariinski-Theaters gebracht, sondern aufs Neue inszeniert. Mit neuen Ideen, doch die Ritter und das Mittelalter wurden ins Archiv gegeben.

Die Inszenierung brachte Star-Solisten zum Einsatz. Mit dem Schwung Wagners erklang die vollständige Ouvertüre der Dresdner Fassung des Opernwerkes. Die beeindruckenden Chöre und die ekstatische Musik unter Leitung von Valerij Gergijew elektrisierten den Saal. Die szenische Umsetzung aber löste Fragen aus und war bei weitem nicht von allen angenommen worden.

Das Mariinski-Theater wurde unter Valerij Gergijew zu einem wahren „Richard-Wagner-Haus“. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stehen hier alle zehn wichtigen Opern des Komponisten im Repertoire, neun als vollwertige Inszenierungen, die „Nürnberger Meistersinger“ bisher nur in einer konzertanten Form. Doch für Ende des Jahres 2021 verspricht man auch eine Bühnenaufführung. Dies ist eine wahrhaft phantastische Leistung, in deren Hinsicht das Mariinski-Theater keinen Konkurrenten in der Welt hat. Schließlich führt man selbst beim Wagner-Festival in Bayreuth nicht zehn Opern im Rahmen eines Festivals auf. Dafür muss man natürlich Valerij Gergijew, der über die Qualitäten eines wahren Wagner-Dirigenten verfügt, dem Erben der Petersburger deutschen Schule danken. Freilich, der Weg des Dirigenten zu „Tannhäuser“ war ein recht langer. Die Ouvertüre zur Oper hatte er bereits in jungen Jahren zu dirigieren begonnen. Man erinnert sich an ihre Aufführung beim Jubiläum seines Lehrers Ilja Alexandrowitsch Musin und wie „eine vage Vision der kommenden Zeit“ an alles Aufkommende, das da bereits danach war, das gesamte künftige Wagner-Massiv, denn schon damals waren die Qualitäten eines wahren Wagnerianers in Gergijew zu spüren. Dann war da die erste, eine vorläufige Inszenierung im Konzertsaal, die sich im Rahmen der Tradition gehalten und allen gefallen hatte, wo die musikalische Seite ein offensichtlicher Erfolg war. Für diese Inszenierung war es natürlich im Rahmen des Konzertsaals zu eng. Danach debütierte Valerij Gergijew in Bayreuth, wo er diese Oper in einer Inszenierung dirigierte, in der der Ritter zu einem herumziehenden Clown wurde. Ja, nur in der musikalischen Interpretation Gergijews gab es keine Clownerie. Alles war ernsthaft. Und Wagner ist bei ihm ein ekstatischer und pathetischer, ein in seinen Feuerstrom hineinreißender. Dieses Mal haben jedoch der Dirigent und das Inszenierungsteam beschlossen, einen neuen „Tannhäuser“ auf die Bühnenbretter zu bringen, wie es heißt: „im Zeitgeist“.

Überhaupt ist Wagner ein beliebtes Objekt der Regie-Oper. Die Ursache dafür steckt in der Abstraktheit der philosophischen Ideen des Komponisten, die wenn auch bei ihm in romantischen Gewändern erscheinen, so doch vom Prinzip her auch in jeglichen anderen daherkommen können. „Tannhäuser“ — die fünfte der dreizehn Opern des Komponisten – existiert in mehreren Fassungen (1845-1875). Der Komponist hatte die ganze Zeit nach Antworten auf die gestellten Fragen gesucht. Und sie selbst sind über das Wesen der Liebe, der sinnlichen und der idealen, über die Freiheit und Abhängigkeit des Künstlers von der Gesellschaft, über die Sünde, die Bestrafung und Vergebung und haben Wagner bis ans Lebensende bewegt.

Wie selbst Wjatscheslaw Starodubzew eingesteht, sei die nunmehrige „Tannhäuser“-Inszenierung ein Spektakel mit einer „aufs Neue ausgedachten Dramaturgie, die dennoch nicht der Absicht Wagners widerspricht“. Letzteres kann man allerdings bestreiten, da ein Dasein von Ideen in ihrer profanierten, reduzierten Variante offenkundig ist. In der Inszenierung ist das Innere des Venusberges (eine Grotte) im ersten Akt, wo der durch erotische Genüsse übersättigte Tannhäuser schmachtet, in einen kitschigen und minderwertigen Striptease-Klub mit halbbekleideten Mädchen in Käfigen verwandelt worden, in dem Venus eine Primadonna auf staubigen Bühnenbrettern ist. Ihr Dialog mit Tannhäuser erfolgt in einer stickigen Garderobe. Und die Anwesenheit eines Knaben – eines jungen Hirten (Pjotr Woilokow) – spielt auf die Tristesse des Alltags an, als ob Tannhäuser vor Familienbanden zu fliehen sucht. In der äußeren Welt gibt es nichts Attraktives. Raue Ritter in Ledermänteln, die Sonderagenten ähneln, empfangen den verlorengegangenen Bruder zwar mit Freuden. Es wird aber sofort klar, dass ein Konflikt nicht zu umgehen ist, da man entsprechend dem lebhaften Aussehen von Sergej Skorochodow sofort sagen kann, dass sein Held ein Rebell ist.

Wohl am effektvollsten und ganzheitlichsten ist der zweite Akt der Oper gestaltet worden, mit dem sich langsam bewegenden Chor vor dem Hintergrund der Musik des Umzugs, mit roten Stoffbahnen, die von den Schnürböden heruntergelassen werden, mit einer Quasi-Freimaurer-Wettbewerbszeremonie und Mao-Zitaten, zu denen Lieder gesungen werden. Tannhäuser schleudert ein kleines rotes Büchlein von sich und singt seine Hymne von der sinnlichen Liebe. Und da urteilt man schon über Tannhäuser, nicht wegen der Sünde, sondern wegen Dissidententum. Dorthin führt man auch Venus als anschaulichen Beweis für seine verbrecherische Verbindung. Im dritten Akt werden die Dekorationen zu urbanistischen, ein Mehrfamilienhaus, ein Auto, Elisabeth in einem weißen Gewand und Tannhäuser, der von einer Pilgerreise mit einem ganzen Koffer kleiner roter Bücher zurückkehrt. Die Überwindung der Sünde – ein Verzicht auf seine Individualität und die Freiheit des kreativen Ausdrucks.

Ein unbestrittener Erfolg der Aufführung ist das glänzende Solistenensemble. Sergej Skorochodow (Tannhäuser) wurde bereits in der vorangegangenen Inszenierung zu einer Entdeckung. Auf der großen Bühne gestaltet er eine dramatischere Figur. Ein wahrer Star der Aufführung ist Jelena Stichina (Elisabeth): eine herrliche reine Stimme und eine Figur, die reine Liebe und Vergebung symbolisiert sowie nicht mit unnötigen Details überfrachtet worden ist. Sie umarmt die Dirne Venus (Tatjana Pawlowskaja), womit sie Vergebung demonstriert. In der Oper dominieren die Männerstimmen. In ihrem beeindruckenden Ensemble hebt sich der edle Bariton von Pawel Jankowskij (Wolfram von Eschenbach) ab. Man muss aber auch die übrigen Solisten hervorheben – Dmitrij Grigorjew (Hermann), Roman Arndt (Walther von der Vogelweide) und Jefim Sawalny (Biterolf).

Die neue Aufführung lässt Fragen zurück. Dennoch aber ist das Auftauchen von „Tannhäuser“ auf der großen Bühne ein vor allem musikalisches Ereignis. Gerade hier erklang die Oper vollblütig mit einem großen Orchester und Chören. Bei den Premierenaufführungen dankte das Petersburger Publikum begeistert Valerij Gergijew und den Solisten. Das Inszenierungsteam musste aber einige Buh-Rufe einstecken.