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Über Chodorkowskij, Nawalny und die politische Konkretheit


Die zwei bekanntesten Vertreter der russischen Nicht-System-Opposition (außerparlamentarischen Opposition) haben in den vergangenen zwei Wochen zwei große Interviews gegeben. Zuerst beantwortete Alexej Nawalny die Fragen von Sergej Gurijew (im Ausland lebender bekannter russischer Wirtschaftswissenschaftler – Anmerkung der Redaktion), und danach Michail Chodorkowskij — die Fragen von Alexej Wenediktow (Chefredakteur des Hörfunksenders „Echo Moskaus“ – Anmerkung der Redaktion). Die Journalisten (der Wirtschaftswissenschaftler Gurijew tritt in dieser Eigenschaft auf) versuchten, von den Gesprächspartnern eine Konkretisierung der politischen Offerte zu erreichen und das Gespräch auf die eine oder andere Weise auf Russland der Zukunft zu bringen. 

Chodorkowskij ist der Auffassung, dass Wladimir Putin ein rechter Konservativer sei. Das Land müsse sich aber zu einer parlamentarischen Republik und Sozialdemokratie hin bewegen. Der Vorwurf des Ex-YUKOS-Chefs in Bezug auf die Herrschenden besteht in diesem Fall darin, dass die demonstrative Konsumtion der Elite nicht dem Bedürfnis der Massen nach Gerechtigkeit und Bescheidenheit entspreche. Selbst wenn man einräumt, dass dies das Schlüsselproblem ist, so gibt es bei Chodorkowskij keine Antwort auf die Frage, wie man es gerade lösen kann. Wem und in welchen Umfängen man zu konsumieren verbieten müsse, ob das System der Besteuerung geändert werde müsse und ob man sich von der nivellierenden (Besteuerungs-) Skala zu Gunsten einer progressiven lossagen sollte. All dies erfordert einen durchdachten Mechanismus. Chodorkowskij kann und hat wahrscheinlich auch nicht vor, solch einen Mechanismus vorzuschlagen.  

Tatsächlich kann es auch keine Gewissheit hinsichtlich dessen geben, dass die „linke“ Gesellschaft mit ihrem sozialdemokratischen Bedürfnis gerade eine parlamentarische Republik und keine Bewahrung einer starken Präsidialherrschaft zu erreichen sucht. Wer hat gesagt, dass die präsidiale Hyperfunktionalität in Russland keine aktuelle Projizierung des Volkswillens sei? Während das reale Bedürfnis recht vage bekannt ist, so kann hinsichtlich der politischen Konkretheit ihm nicht das Wasser reichen. 

Alexej Nawalny hat ein veröffentlichtes politisches Programm. Doch Sergej Gurijew zwingt ihn mehrmals, über das vielleicht wichtigste Thema zu sprechen: Wer wird entscheiden, wer in den Gerichten, darunter in den höchsten Instanzen arbeiten wird? Wer wird die Ergebnisse der Privatisierung der 1990er Jahre einer Revision unterziehen und bestimmen, wer Milliarden-Steuern zu zahlen hat und wer nicht? Für Nawalny scheinen diese Fragen scheinbar einfache zu sein. Es genüge, Vertreter aus der akademischen Elite ins Verfassungs- und Oberste Gericht zu holen und zu gucken, wie die größten sowjetischen Unternehmen privatisiert und die Pfandauktionen durchgeführt wurden. Und alles werde angeblich klar. In Wirklichkeit aber ist die Rede von der Gefahr der Etablierung einer alternativen Elite, deren Handlungen den Ideen des Populismus und Revanchismus untergeordnet sind.  

Nawalny hält sich natürlich für einen Politiker. Er erhebt Anspruch auf die Macht im Land. Doch er er hat, wie es scheint, bei weitem nicht immer eine Vorstellung darüber, über was für dünnes Eis er gehen möchte. Bezeichnend ist das Gespräch über die Massenmedien und ihre Besitzer. Einerseits ist das Verbot für Oligarchen, Massenmedien zu besitzen, politisch attraktiv. Andererseits aber wollen die Journalisten selbst, die Mitarbeiter der Massenmedien nicht selten, dass sie die größten Geschäftsleute besitzen, die wünschenswerterweise in die Machtstrukturen integriert sind. Dies erlaubt, die Gehälter anzuheben und auf dem Markt zu konkurrieren. Radikale politische Reformen in diesem Bereich treffen nicht nur mehrere Oligarchen, sondern auch tausende Menschen, die sich an ein bestimmtes Wohlstandsniveau gewöhnt haben. Nawalny sagt, dass man Unterstützungsmaßnahmen vorsehen müsse. Dies ist aber keine Antwort. Ein Politiker an der Macht wird damit konfrontiert, dass alle Unterstützung brauchen. Und da muss ausgewählt und irgendwer unzufrieden gelassen werden.  

Im Großen und Ganzen denken weder Chodorkowskij noch Nawalny weiter als das Jahr 2024. Das Wichtigste für sie sind derzeit der Abtritt Putins und ein Zerbrechen des Systems. Weiter soll sich alles irgendwie einrenken. So kann das Bedürfnis politischer Aktivisten sei. Dies kann aber in keiner Weise der Gesellschaft, den Wählern recht sein. Sie wollen wissen, wie sich gerade ihr Leben verändert wird, in Details und Einzelheiten. Wenn die Opposition diesbezüglich keine klaren Vorstellungen hat, muss man sich nicht darüber wundern, dass die Bürger immer wieder der herrschenden Elite und Putin das Mandat verlängern.