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Über den COVID-X-Faktor für die Offiziellen


Die Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) wird allem Anschein nach keine Eile mit der Behandlung der Gesetzentwürfe über die QR-Codes an den Tag legen. Es wird erwartet, dass die erste Lesung am 16. Dezember stattfindet. Die zweite und dritte aber bereits im Januar kommenden Jahres. Die Regierungsinitiativen sehen vor, dass man die Bürger nur bei Vorlage eines QR-Codes (nach der entsprechenden Vakzinierung gegen das Coronavirus) in Flugzeuge, Fernzüge, Industriewarengeschäfte und Kultureinrichtungen lassen wird. Bis zum 1. Februar wird ein negativer PCR-Test ausreichen.

Von einer Übergangsperiode hatte Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa gesprochen. Laut ihren Worten sollten es die Bürger innerhalb weniger Monate schaffen, sich impfen zu lassen. Nach dem 1. Februar werde das Vakzinierungszertifikat für sie zu genau solch einem wichtigen Dokument wie der Pass werden, sagte die Politikerin. Die Staatsduma mit einer Verfassungsmehrheit der Kremlpartei „Einiges Russland“ hindert – so hatte es den Anschein – nichts daran, die Gesetze bis zum Jahreswechsel zu verabschieden und der Regierung freie Hand zu gewähren. Die Abgeordneten beeilen sich jedoch nicht. Und dies ist verständlich.

Das Coronavirus ist ein politischer X-Faktor. Die Herrschenden haben die föderalen und regionalen Wahlen im September sicher hinter sich gebracht. Das oppositionelle Feld ist bereinigt worden, die notwendigen Prozentzahlen sind erreicht worden, die nächste Zukunft des Systems schien garantiert zu sein. In den anderthalb Jahren, die das Land – gleichzeitig mit der ganzen Welt – gegen COVID-19 kämpft, haben es jedoch weder die Volksvertreter noch die Gouverneure und die Bürgermeister der Städte gelernt, zuverlässig vorauszusagen, wie sich das Virus verhalten wird, wie viele Krankenhausbetten in ein oder zwei Monate frei sein werden, wie viele Menschen sich vakzinieren lassen, welche Stimuli wirken, was für einschränkende Maßnahmen eingeführt werden müssen und wie die Bürger darauf reagieren.

Der Puls des politischen Lebens ist bereits vor einigen Jahren zu einem intensiveren geworden. Die Reserve des Stabilitätsratings für die gewählten Volksvertreter reicht nicht lange aus, wenn die Begründetheit des Mandats nicht ständig bestätigt wird. Die Pandemie ist ein wahrer Testfall für die regionalen Eliten – ja, und auch für die föderale. Beinahe jegliche einzuführenden Maßnahmen sind unpopulär. Misstrauen oder ein direkter Widerstand gegen die Vakzinierung sind eine Massenerscheinung. In der Liste der bekannten Anti-Vaxxer kann man alle möglichen Menschen antreffen, nur nicht Wissenschaftler und Mediziner. Und dies belegt nur den verwaschenen Charakter des Instituts des Ansehens.

Die Einführung der QR-Codes ist ein gesondertes Thema. Möglicherweise haben die politisch trägen Bürger erstmals seit den letzten Jahren real verspürt, wie die Rechte und Freiheiten verletzt werden, die von ihnen als immanente wahrgenommen wurden. Unpopuläre Entscheidungen, die beispielsweise die Bewegungsfreiheit einschränken, können Energie des Unmuts freisetzen. Dies wird in keiner Weise davon abhängen, ob es im Land oder in den Regionen eine starke Opposition gibt oder nicht. Die Schwäche der Opposition in solch einer Situation stört gerade den Offiziellen – für die Energie des Unmuts gibt es keinen normalen organisatorischen Rahmen.

Die föderale legislative Gewalt beeilt sich nicht, unpopuläre Gesetze zu verabschieden. Sie möchte nicht, dass sie von einer Protestwelle erfasst wird. Eine Carte blanche haben die regionalen Offiziellen erhalten. Für sie ist dies ein wahrer Testfall. Die Situation um die QR-Codes im öffentlichen Nahverkehr von Tatarstan hat gezeigt, wie schwierig alles ist. Dies betrifft jegliche regionale Elite oder wird sie tangieren. Sie sind es nicht gewohnt, die Bürger zu überzeugen. Und bei den Wahlen erringt man üblicherweise einen Sieg ohne einen Widersacher. Dieses Mal ist es für sie schwer, selbst auf eine föderale Rückendeckung zu hoffen: Die von der Mischustin-Regierung vorbereiteten Gesetze über die QR-Codes betreffen beispielsweise nicht den städtischen öffentlichen Nahverkehr.

Bemerkenswert ist auch das, dass die Herrschenden all die letzten Jahre auf ein traditionelles, ein „bodenständiges“, ein konservatives Russland gesetzt hatten. Die liberalen Kritiker der herrschenden Elite hat man schrittweise in Verräter und Feinde des Landes verwandelt. Jedoch ist es heutzutage schwer, unter den Anti-Vaxxern eben jene Liberalen ausfindig zu machen. Sie mögen nach wie vor nicht Putin, wollen einen Machtwechsel, lassen sich aber mit „Sputnik-V“ impfen und erhalten QR-Codes. Derweil sind unter den Konservativen weitaus häufiger jene auszumachen, die die Geschichte um COVID-19 für eine Verschwörung halten, die „Monster der Pharma-Industrie“ nicht ernähren wollen, gegen eine digitale Sklaverei auftreten und nicht an die Vakzine glauben.