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Über den neuen sozialen Pessimismus in Russland


Die Stiftung „Öffentliche Meinung“ (FOM) hat Ende letzter Woche Ergebnisse einer Umfrage vorgestellt, die den sozialen Stimmungen, Erwartungen hinsichtlich der nächsten Zukunft und den Bewertungen für die mittelfristigen Perspektiven galt. Es stellte sich heraus, dass die Anzahl der Pessimisten im Land im Vergleich zum Februar dieses Jahres erheblich zugenommen hat. Im Februar machte der Anteil jener, die sagten, dass das Leben in Russland in den nächsten sechs bis zwölf Monaten schlechter werde, 20 Prozent aus. Er hatte sich damit um 8 Prozent im Vergleich zum November 2019 verringert. Jetzt aber erklärten 31 Prozent der Befragten, dass sie im nächsten Jahr nichts Gutes erwarten würden.

Den Winteroptimismus kann man theoretisch mit der Ernennung des neuen Premiers und der neuen Regierung in Verbindung bringen. Solche Ernennungen werden stets von einer Aktualisierung der sozialen Garantien begleitet, von Versprechen, die Aufmerksamkeit für die Regionen und ihre Entwicklung zu erhöhen. Die Offiziellen laden sozusagen die Batterien neu auf. Die FOM-Zahlen zeigen, dass es unter den Internet-Nutzern mehr Pessimisten als unter den Fernsehzuschauern gibt. Im Winter hatten die Herrschenden auf das Fernsehen gesetzt und die Tagesordnung diktiert.

Warum sich die Stimmungen so drastisch verändert haben, kann man verstehen. Die Pandemie und der dreimonatige Stillstand der Wirtschaft, das Erwarten einer zweiten Coronavirus-Welle sowie die Unmöglichkeit, vorauszusagen, was für Einschränkungen sie mit sich bringen wird – all dies kann keinen Optimismus wecken. Die Menschen wissen nicht, in welchem Maße die Behörden ihre Unternehmen unterstützen können, ob ihr Lohn in Mitleidenschaft gezogen wird oder sie ihre Arbeit verlieren werden.

Die Soziologen der Stiftung „FOM“ hatten die Bürger auch darüber befragt, was sie in den nächsten drei bis fünf Jahren erwarten. Auch hier ist der Anteil der Pessimisten von 20 Prozent im Februar bis auf 29 Prozent heute angestiegen. Man kann diesen Pessimismus für einen ausgesprochen emotionalen, unrealistischen halten. Man kann in ihm aber auch eine sich herausgebildete Bewertung für die reale Dynamik des politisch-ökonomischen Systems im Land ausmachen: Es reagiert langsam und nicht immer adäquat auf die Veränderungen. Und die Gesellschaft bemerkt dies.

Die Politik, die Aktivität der Herrschenden, darunter auch die informationsseitige – all dies beeinflusst die sozialen Stimmungen. Es gibt jedoch auch eine umgekehrte Abhängigkeit. Sozialer Optimismus oder Pessimismus bestimmt den Charakter der öffentlichen Politik. Die Herrschenden haben, wie es scheint, in erheblichem Maße die Mobilisierungsressource der „fetten“ Öljahre des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ausgeschöpft. Die Benefiziare jener Veränderungen konnten ihr Leben in den 90ern mit dem Leben im neuen Jahrzehnt vergleichen: Ihr Wohlstand hat zugenommen, ihre Zukunft wurde zu einer voraussagbareren, sie konnten sich eine neue Qualität des Konsums erlauben. Für sie war es einfacher zu erklären, warum man sich um die Herrschenden zusammenschließen muss, die „all dies sicherten“. Die Sanktionskrise nach den Krim-Ereignissen von 2014 – bis hin zu den Präsidentschaftswahlen von 2018 – hat die herrschende Elite Russlands gerade dank dieser Ressource durchgemacht. 

In dieser Zeit ist jedoch eine neue Generation herangewachsen, Menschen, die heute 18 bis 30 Jahre alt sind. Sie erhielten oder erhalten eine Ausbildung, beginnen zu arbeiten (entsprechend dem Beruf oder nicht), gründen Familien, nehmen Hypotheken auf. Die jetzige Stagnation und Krise kann diese Generation mit den satten, wohlhabenden Nulljahren vergleichen. Von daher ihre Skepsis und ihr Kritizismus. Die FOM-Umfrage zeigt, dass in der Altersgruppe von 18 bis 30 Jahren pessimistische Bewertungen für die Zukunft häufiger als optimistische anzutreffen sind. Und es ist schwierig, sie zu mobilisieren, indem die bewährten Methoden aus den Zeiten des Kalten Kriegs, Bilder von heranrückenden Feinden und einer belagerten Festung angewandt werden. Sie verstehen nicht, warum man den Gürtel enger schneller und im Interesse dieser Herrschenden dulden muss, was sie dem Land in den letzten zehn Jahren konkret gegeben haben.

Bemerkenswert ist, dass die jungen Pessimisten ihre persönlichen Perspektiven durchaus optimistisch bewerten, im Unterschied zu den Perspektiven des Landes. 45 Prozent sagen, dass bei ihnen alles in den nächsten sechs bis zwölf Monaten besser werde. 61 Prozent erwarten Verbesserungen in den nächsten drei bis fünf Jahren. Ein Paradoxon? Zum Teil. Die jungen Menschen können einfach ihr Schicksal nicht mit dem Schicksal des Landes verknüpfen, was man schwer als ein positives Ergebnis des letzten Jahrzehnts ansehen kann.